Mircea Cartarescu, einer der großen europäischen Schriftsteller der Gegenwart, gehört zu den begnadeten Visionären und Sprachkünstlern der Literatur. Sein frühes Meisterwerk Travestie, ein Adoleszenz- und Künstlerroman, erzählt von der Suche eines jungen Menschen nach sich selbst. Der sensible, verschlossene Victor könnte ein Geschöpf von Marcel Prousts sein, so rauschhaft erfährt er die Welt, die ihn im krisenhaften Sommer 1973 umgibt: das Guthaus in Budila, wo er mit seinen Mitschülern die Ferien verbringt, den geheimnisvollen Park und das "Tal des Paradieses".Doch dieser kleine Kosmos bevölkert sich nachts mit den Gespenstern, die aus den Katakomben seines Bewußtseins aufsteigen. Die dreiste sexuelle Berührung seines Mitschülers "Lulu", der sich beim Abschiedskarneval als Frau verkleidet hat, stößt ihn in eine Krise, die er erst nach vielen Jahren, buchstäblich auf der letzten Seite der "Travestie" überwunden hat.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.10.2010Traumwerkstatt für Freudianer
Wenn am Straßenrand Kühe Kamille rupfen: "Travestie" von Mircea Cartarescu ist ein Horrorroman der Adoleszenz, eine Achterbahnfahrt durch die Loopings verschiedenster Identitäten.
Labyrinthische Traumlandschaften, morbide Phantastik, erlesene Manierismen - wer solche literarischen Qualitäten jenseits des Allerweltsrealismus sucht, hat mit dem 1956 geborenen Rumänen Mircea Cartarescu seinen Autor gefunden. "Die Wissenden", der erste Band seiner Trilogie "Orbitor", hat auch hierzulande Furore gemacht: So viel literarische Pyrotechnik war selten. Es ist ein grandioser Trip, ein Meisterwerk der surrealen Literatur, das nahrhafte Wurzelverbindungen zur romantischen Tradition wie zum realen Albtraum der Ceausescu-Diktatur unterhält.
Cartarescu hat das phantasmagorische, in blutroten Sonnenuntergängen leuchtende Bukarest in die Landkarte der Weltliteratur eingetragen. Das Unheimliche lauert aber auch draußen auf dem Land, wo am Straßenrand die Kühe Kamille rupfen. In "Travestie", im Original 1994 erschienen, reist der Bukarester Gymnasiast Victor mit seinen Mitschülern nach Budila, verbringt eine Sommerfreizeit in einem alten Gutshaus, umfunktioniert zur Jugendherberge. Es sind Tage des Schreckens für den hochsensiblen Siebzehnjährigen, mit dem Cartarescu das klassische Drama der Adoleszenz - das Gefühl, ein unverstandener Außenseiter zu sein - ins Exzessive treibt. "Travestie" ist "Tonio Kröger" in Hardcore-Version. Victor agiert zugleich als Ich-Erzähler, der wiederum siebzehn Jahre später die Chimären seiner Kindheit und Jugend aufzulösen versucht, gequält von unbewältigten Ängsten: Er schreibe mit dem "Eiter" seiner "uralten Wunde".
Wilde Tage in Budila: Die rumänische Jugend der Siebziger hat den "Ozean der Propaganda" in Richtung westlicher Popkultur überquert. Die Musik stampft, ob Led Zeppelin oder Suzi Quatro. Auch die Sorge, ob man die richtige Schlaghose trägt, ist den Schülern vertraut. Es gibt die systemübergreifend gültigen Typen: dröhnende Angeber und kleine Käuze, hinreißende Mädchen und unermüdlich trainierende Casanovas. Und eine Dumpfbacke, die die Insekten an den Wänden abfackelt.
"Travestie" ist ein Horrorroman der Adoleszenz, eine Achterbahnfahrt durch die Loopings geschlechtlicher Identität. Es wird gefeiert und gesoffen, gegrölt und gerüpelt, derbe Witze machen die Runde - künftige Ingenieure und Volkswirte im Taumel der Hormone. Victor hält sich panisch fern vom Spektakel. Während die anderen Obszönitäten brüllen, murmelt er Gedichte. Und träumt von einer gloriosen Zukunft als Verfasser apokalyptischer Romane.
Dass das alles mit herkömmlichen Schülergeschichten wenig zu tun hat, wird schnell deutlich. Victor wird ständig von Halluzinationen überwältigt. Eine seiner Obsessionen lässt sich als Cartarescus poetologische Rezeptur verstehen: "Manchmal stellte ich mir vor, ich sei ein nach außen gewendeter Handschuh und die äußere Welt sei mein Blut, meine Lungen, meine Bauchspeicheldrüse, die Gewebeflüssigkeit, Rippen und Wirbelsäule, während es im tieferen Inneren meines Leibes hell sei, die Sonne scheine, blendende Göttlichkeit." So verkehrt sich das Innere ins Äußere. Das organische Innenleben des Menschenkörpers wird nach dem Prinzip des gewendeten Handschuhs ebenso begehbar wie die morastigen Verliese und ungelüfteten Hinterzimmer des Unbewussten. Raum und Zeit dehnen sich und gebären Monstren; das alte Gutshaus wird zum Labyrinth mit Treppenfluchten, verstörend weiten Hallen und verschimmelten Kammern.
Die große Abschlussparty wird wie ein hysterischer Karneval beschrieben, wie das lärmende Initiationsritual einer fremden Kultur. Der Spaßvogel Lulu hat sich als Frau verkleidet und treibt sein Verführungsspiel mit Victor, der davon gebannt und schockiert ist. Die schmierenhafte, grimassierende Travestie rührt an eine tieferliegende Verstörung. Es folgen Jahre der Therapien und des Trinkens, Jahre des Vergessenwollens und Schreibenmüssens. Bis sich mit allem stilistischen Geschmetter die Wiederkehr des Verdrängten ereignet: Victor stößt auf die hermaphroditische Urszene seines Lebens. Seine tote Schwester, an die er sich in trakldüsteren Tagträumen erinnert, wurde nie geboren. Er war es selbst. Die psychische Hochdramatik wird plötzlich unerwartet plausibel.
Das Hinschreiben auf das frühkindliche Trauma, das hinter dem pubertären Schock wirksam ist, ähnelt einer psychoanalytischen Prozedur, auch wenn sich Cartarescu das banalisierende Fachvokabular verbietet. In seiner pulsierenden Obszönität kann der Roman wie ein Übungsparcours für Freudianer wirken: Sexualsymbolik, Kloakenmotive und Spinnen-Horror wuchern noch hypertropher als auf den surrealen Gemälden Dalís. Überall drohen und schwellen die Geschlechtsorgane, dringt das Gestöhn und Gestammel aus fremden Räumen. Aber bei aller grotesken Überdeutlichkeit bleibt der Roman rätselhaft und faszinierend.
Cartarescu ist das Gegenteil eines Lakonikers. Seine komplexe Sprache - von Ernest Wichner erstaunlich geschmeidig übersetzt - ist barock und überinstrumentiert und zugleich hochpoetisch; der Kontrollverlust der Metaphern hat Methode. "Gute Bücher verursachen einen Streik des Gehirns", hat der Autor einmal überspitzt formuliert. "Travestie" ist ein Generalstreik der literarischen Vernunft. Die Fratzen der Pubertät und die sexuellen Ängste Heranwachsender führt dieser Roman in phantasmagorischem Pathos und schonungsloser Ironielosigkeit vor. Es ist ein Buch, das weh tut, weil es in jedem Leser eine morastige Schicht eigener Jugenderinnerungen aufwühlen dürfte: peinigende Riten der Initiation, peinliche Wirrnis der Gefühle, Einsamkeit und Ekel, Schmutz und Gewalt. Diese Klassenfahrt des Grauens ist eine weitere wilde Ausgeburt der Traumwerkstatt Mircea Cartarescus. Aufwachen kann man anderswo.
WOLFGANG SCHNEIDER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wenn am Straßenrand Kühe Kamille rupfen: "Travestie" von Mircea Cartarescu ist ein Horrorroman der Adoleszenz, eine Achterbahnfahrt durch die Loopings verschiedenster Identitäten.
Labyrinthische Traumlandschaften, morbide Phantastik, erlesene Manierismen - wer solche literarischen Qualitäten jenseits des Allerweltsrealismus sucht, hat mit dem 1956 geborenen Rumänen Mircea Cartarescu seinen Autor gefunden. "Die Wissenden", der erste Band seiner Trilogie "Orbitor", hat auch hierzulande Furore gemacht: So viel literarische Pyrotechnik war selten. Es ist ein grandioser Trip, ein Meisterwerk der surrealen Literatur, das nahrhafte Wurzelverbindungen zur romantischen Tradition wie zum realen Albtraum der Ceausescu-Diktatur unterhält.
Cartarescu hat das phantasmagorische, in blutroten Sonnenuntergängen leuchtende Bukarest in die Landkarte der Weltliteratur eingetragen. Das Unheimliche lauert aber auch draußen auf dem Land, wo am Straßenrand die Kühe Kamille rupfen. In "Travestie", im Original 1994 erschienen, reist der Bukarester Gymnasiast Victor mit seinen Mitschülern nach Budila, verbringt eine Sommerfreizeit in einem alten Gutshaus, umfunktioniert zur Jugendherberge. Es sind Tage des Schreckens für den hochsensiblen Siebzehnjährigen, mit dem Cartarescu das klassische Drama der Adoleszenz - das Gefühl, ein unverstandener Außenseiter zu sein - ins Exzessive treibt. "Travestie" ist "Tonio Kröger" in Hardcore-Version. Victor agiert zugleich als Ich-Erzähler, der wiederum siebzehn Jahre später die Chimären seiner Kindheit und Jugend aufzulösen versucht, gequält von unbewältigten Ängsten: Er schreibe mit dem "Eiter" seiner "uralten Wunde".
Wilde Tage in Budila: Die rumänische Jugend der Siebziger hat den "Ozean der Propaganda" in Richtung westlicher Popkultur überquert. Die Musik stampft, ob Led Zeppelin oder Suzi Quatro. Auch die Sorge, ob man die richtige Schlaghose trägt, ist den Schülern vertraut. Es gibt die systemübergreifend gültigen Typen: dröhnende Angeber und kleine Käuze, hinreißende Mädchen und unermüdlich trainierende Casanovas. Und eine Dumpfbacke, die die Insekten an den Wänden abfackelt.
"Travestie" ist ein Horrorroman der Adoleszenz, eine Achterbahnfahrt durch die Loopings geschlechtlicher Identität. Es wird gefeiert und gesoffen, gegrölt und gerüpelt, derbe Witze machen die Runde - künftige Ingenieure und Volkswirte im Taumel der Hormone. Victor hält sich panisch fern vom Spektakel. Während die anderen Obszönitäten brüllen, murmelt er Gedichte. Und träumt von einer gloriosen Zukunft als Verfasser apokalyptischer Romane.
Dass das alles mit herkömmlichen Schülergeschichten wenig zu tun hat, wird schnell deutlich. Victor wird ständig von Halluzinationen überwältigt. Eine seiner Obsessionen lässt sich als Cartarescus poetologische Rezeptur verstehen: "Manchmal stellte ich mir vor, ich sei ein nach außen gewendeter Handschuh und die äußere Welt sei mein Blut, meine Lungen, meine Bauchspeicheldrüse, die Gewebeflüssigkeit, Rippen und Wirbelsäule, während es im tieferen Inneren meines Leibes hell sei, die Sonne scheine, blendende Göttlichkeit." So verkehrt sich das Innere ins Äußere. Das organische Innenleben des Menschenkörpers wird nach dem Prinzip des gewendeten Handschuhs ebenso begehbar wie die morastigen Verliese und ungelüfteten Hinterzimmer des Unbewussten. Raum und Zeit dehnen sich und gebären Monstren; das alte Gutshaus wird zum Labyrinth mit Treppenfluchten, verstörend weiten Hallen und verschimmelten Kammern.
Die große Abschlussparty wird wie ein hysterischer Karneval beschrieben, wie das lärmende Initiationsritual einer fremden Kultur. Der Spaßvogel Lulu hat sich als Frau verkleidet und treibt sein Verführungsspiel mit Victor, der davon gebannt und schockiert ist. Die schmierenhafte, grimassierende Travestie rührt an eine tieferliegende Verstörung. Es folgen Jahre der Therapien und des Trinkens, Jahre des Vergessenwollens und Schreibenmüssens. Bis sich mit allem stilistischen Geschmetter die Wiederkehr des Verdrängten ereignet: Victor stößt auf die hermaphroditische Urszene seines Lebens. Seine tote Schwester, an die er sich in trakldüsteren Tagträumen erinnert, wurde nie geboren. Er war es selbst. Die psychische Hochdramatik wird plötzlich unerwartet plausibel.
Das Hinschreiben auf das frühkindliche Trauma, das hinter dem pubertären Schock wirksam ist, ähnelt einer psychoanalytischen Prozedur, auch wenn sich Cartarescu das banalisierende Fachvokabular verbietet. In seiner pulsierenden Obszönität kann der Roman wie ein Übungsparcours für Freudianer wirken: Sexualsymbolik, Kloakenmotive und Spinnen-Horror wuchern noch hypertropher als auf den surrealen Gemälden Dalís. Überall drohen und schwellen die Geschlechtsorgane, dringt das Gestöhn und Gestammel aus fremden Räumen. Aber bei aller grotesken Überdeutlichkeit bleibt der Roman rätselhaft und faszinierend.
Cartarescu ist das Gegenteil eines Lakonikers. Seine komplexe Sprache - von Ernest Wichner erstaunlich geschmeidig übersetzt - ist barock und überinstrumentiert und zugleich hochpoetisch; der Kontrollverlust der Metaphern hat Methode. "Gute Bücher verursachen einen Streik des Gehirns", hat der Autor einmal überspitzt formuliert. "Travestie" ist ein Generalstreik der literarischen Vernunft. Die Fratzen der Pubertät und die sexuellen Ängste Heranwachsender führt dieser Roman in phantasmagorischem Pathos und schonungsloser Ironielosigkeit vor. Es ist ein Buch, das weh tut, weil es in jedem Leser eine morastige Schicht eigener Jugenderinnerungen aufwühlen dürfte: peinigende Riten der Initiation, peinliche Wirrnis der Gefühle, Einsamkeit und Ekel, Schmutz und Gewalt. Diese Klassenfahrt des Grauens ist eine weitere wilde Ausgeburt der Traumwerkstatt Mircea Cartarescus. Aufwachen kann man anderswo.
WOLFGANG SCHNEIDER
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Andreas Breitenstein feiert Mircea Cartarescus Adoleszenzroman "Travestie" aus dem Jahr 1994 geradezu hymnisch als frühes Meisterwerk und preist den rumänischen Autor als Säule der europäischen Literatur. Ein Ich-Erzähler erinnert sich darin an eine Klassenfahrt von 1973, bei der sich der 17-jährige Gymnasiast in einen geradezu psychotischen Wahn hineinsteigert und ein sexuelles Trauma erlebt, das ihn letztlich zum Dichter macht, erfahren wir. Breitenstein ist fasziniert von den halluzinatorischen Bildern, der atmosphärischen Dichte und der poetischen Kraft dieses Höllentrips in die Niederungen der Pubertät, und er bewundert die dichterischen Funken, die Cartarescu aus diesem in Romantik und Expressionismus so gründlich beackerten Feld zu schlagen vermag. Zudem glaubt der Rezensent, noch nie so "drastisch" über Hermaphroditismus gelesen zu haben, der die Wurzel dieses Jugend- und Künstlerdramas bildet, das ihn tief in den "Schlund vulkanischer Gefühle" riss. Dieser Roman bestärkt Breitenstein in seinem Glauben an den "heiligen Furor der Poesie".
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Kein deutscher Autor schreibt so: sprachmächtig, sprachverliebt, tief tauchend, heftig träumend. Die wilde Üppigkeit seiner Sprache übt keine Zurückhaltung und erlaubt keine gefällige Ironie.« Katharina Döbler DIE ZEIT 20110303