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Ein Liebesdrama von düsterer Komik im Paris der 30er Jahre - "Julien Green ist Weltliteratur". Iris Radisch, Die Zeit
Die Wiederentdeckung eines Meisterwerks. Nacht in Paris, am Ufer der Seine. Eine Frau streitet mit einem Mann, ruft um Hilfe. Philippe hat sie gesehen, doch er macht einen Schritt rückwärts und geht nach Hause. Von da an steht fest, er ist ein Feigling. Wie soll er weiterleben zwischen seiner Ehefrau, die ihn verachtet, und seiner Schwägerin, die ihn heimlich liebt? Julien Green zeigt die Nachtseite eines Paris, das keine Belle Époque mehr ist und erzählt von Menschen in…mehr

Produktbeschreibung
Ein Liebesdrama von düsterer Komik im Paris der 30er Jahre - "Julien Green ist Weltliteratur". Iris Radisch, Die Zeit

Die Wiederentdeckung eines Meisterwerks. Nacht in Paris, am Ufer der Seine. Eine Frau streitet mit einem Mann, ruft um Hilfe. Philippe hat sie gesehen, doch er macht einen Schritt rückwärts und geht nach Hause. Von da an steht fest, er ist ein Feigling. Wie soll er weiterleben zwischen seiner Ehefrau, die ihn verachtet, und seiner Schwägerin, die ihn heimlich liebt? Julien Green zeigt die Nachtseite eines Paris, das keine Belle Époque mehr ist und erzählt von Menschen in einer untergehenden Gesellschaft. Anhand neuer biografischer Quellen kommentiert und glänzend neuübersetzt von Wolfgang Matz. "Proust ruft die Zauberstunde der Kindheit herauf, Green bringt Ordnung in unsere frühesten Schrecken." Walter Benjamin
Autorenporträt
Julien Green wurde 1900 als Sohn einer amerikanischen Familie in Paris geboren, wo er 1998 starb. Bei Hanser erschien das erzählerische Werk, zuletzt in der Neuübersetzung von Elisabeth Edl: Adrienne Mesurat (Roman, 2000), Fremdling auf Erden (Erzählungen, 2006), die Erinnerungen an seine Kindheit Erinnerungen an glückliche Tage (2008) und sein letzter Roman Der Unbekannte (2011).
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension

Vor allem sprachlich ist Julien Greens im Original 1932 erschienener, nun in einer deutschen Neuedition vorliegender Roman herausragend, findet Rezensent Rainer Moritz. Im Zentrum steht Philippe Cléry, ein Mann, der in einer erkalteten Ehe gefangen ist und der es eines Tages versäumt, einer um Hilfe rufenden Frau Beistand zu leisten. Daraus ergibt sich eine düstere Dynamik, in die allerlei verheimlichte Begehren, unter anderem das homosexuelle der Hauptfigur, hineinspielen, so Moritz. Die Übersetzung Wolfgang Matz' ist eindeutig gelungener als die zweier älterer Editionen, lobt der Rezensent, dem besonders gefällt, wie psychische Abgründe in Greens Prosa mit dem realen Paris verschmelzen.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.03.2024

Paris verändert sich, seine Melancholie nicht

Mann von irgendwo, Reisender und Fremdling auf Erden:

Julien Greens "Treibgut" ist von Wolfgang Matz neu übersetzt worden.

Selten findet man ein so schön und sorgfältig ediertes Buch wie diese Neuübersetzung von Wolfgang Matz, der 1998 schon eine Biographie über dessen Autor veröffentlicht hat: "Julien Green - Das Jahrhundert und sein Schatten". Matz, der sich mit seinem Bestseller "1857" als profunder Kenner französischer Literatur erwiesen hat, ermöglicht mit dieser umfangreich dokumentierten Ausgabe des 1932 unter dem Titel "Épaves" erschienenen Romans einen neuen Zugang zu Julien Green und dessen Werk, das er kenntnisreich dokumentiert und kommentiert.

Es ist die dritte Übersetzung von "Treibgut" ins Deutsche, nach Friedrich Burschell und Eva Rechel-Mertens, und sie findet einen wunderbaren Ton. Ganz außergewöhnlich ist, dass der Band auch Paris-Fotos von Atget, Brassaï und anderen reproduziert, um dem Leser ein Bild des Romanschauplatzes zu vermitteln. Green, 1900 in Paris geboren und 1998 dort gestorben, hat fast ein Jahrhundert durchmessen, sein ganzes Leben, außer in der Zeit der deutschen Besatzung, in Paris verbracht, auf Französisch geschrieben, seine amerikanische Staatsbürgerschaft aber nie aufgegeben. Er ist ein Solitär in der französischen Literaturlandschaft, ihr dauernder Außenseiter. Er gehört zu den wenigen Autoren, die schon zu Lebzeiten in die berühmte "Bibliothèque de la Pléiade" aufgenommen wurden, mit acht Dünndruckbänden, darunter allein vier Tagebuchbänden, den wohl umfangreichsten der Literaturgeschichte, und einer monumentalen Autobiographie, die beide die Bedeutung des Themas Einsamkeit für Leben und Werk dieses Autors unterstreichen. Er war der erste Nichtfranzose, der in die Académie française aufgenommen wurde.

Durch seine ersten drei Romane, "Mont-Cinère" (1926), "Adrienne Mesurat" (1927) und "Léviathan" (1929), schon früh erfolgsverwöhnt, von der Kritik hochgelobt und in viele Sprachen übersetzt, ist er einer der meistgelesenen Autoren französischer Sprache, vielleicht der Allerletzte aus einer großen, vergangenen Generation der französischen Literatur, wie Matz schreibt. Green hatte keinen Einfluss, keine Nachfolger, war immer nur "einfach und eigensinnig er selbst", heute ist er leider halb vergessen.

In seinen mehr als vierzig Romanen schlägt immer wieder nicht beherrschbare Leidenschaft in bürgerliche Lebensentwürfe ein, verlieren sich seine Figuren bis zur Selbstzerstörung in unerwiderten Leidenschaften: Quälende und Gequälte, "Tiefenbohrungen" in "Kindheitshöllen" statt verlorener Paradiese wie bei Proust. Green ist Spezialist für Abgründe; verstecktes Begehren und unterdrückte Sexualität bilden den Spannungsbogen seiner Romane. Zwei legendäre Interviews unterstreichen die Spannbreite von Leben und Werk: 1929 besuchte ihn Walter Benjamin, der als einer der Ersten die Bedeutung Greens erkannt hatte, und 1983 lud Bernard Pivot ihn in seine Literatursendung "Apostrophes" ein. Benjamin, der ja auch den ersten Band von Prousts Recherche übersetzt hat, hielt "Adrienne Mesurat" für eines der "allerbesten Bücher dieses Jahrhunderts" und stellte seinen Autor als einzigen unmittelbar neben Proust: "Proust ruft die Zauberstunde der Kindheit herauf, Green bringt Ordnung in unsere frühesten Schrecken."

Die greensche Welt der ersten drei Romane zeichnet im Gegensatz zu Proust die Nachtseite der Kindheitserfahrung, "Treibgut" zeichnet nun auch die Nachtseite der Stadt, die beide gemeinsam haben: Paris, und zwar das Paris, das wir aus Baudelaires "Tableaux parisiens" kennen. "Épaves" ist der Titel von Baudelaires zunächst verbotenen, erst postum veröffentlichten Gedichten; die Benennung von Greens Buch danach war "ein Echo, das damals selbstverständlich war und das auch aus dem Romaninhalt erklang", so Matz. Der ursprüngliche Titel "Crépuscule" (Dämmerung) erinnert an Wagner, das Grundmotiv von "Épaves" aber ist die Dämmerung des Bürgertums. "Treibgut" ist der Roman der zerbrechenden bürgerlichen Gesellschaft zwischen den Weltkriegen.

Im Tagebuch wird Green etwas später sein "unbegreifliches Versäumnis" bedauern, dem Roman nicht "diesen wundervollen Vers" jenes Dichters, den er am meisten schätzte, vorangestellt zu haben: "Paris change! mais rien dans ma mélancolie / n'a bougé!" (Paris verändert sich! nichts aber hat in meiner Melancholie / sich bewegt! ) Wie bei Baudelaire ist Paris in Greens eigenen tableaux parisiens ein Mythos, eine Allegorie, die "Einsamkeit im Herzen einer monströsen Stadt".

Philippe Cléry, Protagonist des Romans und Alter Ego des Autors, ein Mann in der Sinnkrise in seinem dreißigsten Jahr, von Altersängsten geplagt, reich und gelangweilt, hat den gleichen Aktionsradius wie dieser: Im 16. Arrondissement zwischen der Seine, dem Pont d'Iéna, dem Trocadéro mit den "phallischen Türmen", den Quais vor Grenelle erwacht das Viertel nachts zu "einem Leben, das aussieht wie die Parodie des Todes". Was heiter war, "wird fahl, was schwarz war, erbleicht und strahlt in düsterem Glanz, voll Freude, endlich zu existieren". Es ist das Gaslicht, das diese Verwandlung bewirkt: "Beim ersten Strahl dieser Sonne schmückt sich die nächtliche Landschaft mit all ihren Schatten, und die Materie beginnt eine unheimliche und wunderbare Häutung."

Wir folgen Philippe, diesem promeneur nocturne, in die Nacht eines mythischen Paris, eine Unter- und Urwelt, die er traumwandlerisch durchstreift. Auf dem Pont d'Iéna wird er Zeuge, wie eine Frau während eines heftigen Streites mit einem Mann um Hilfe ruft, und ist unfähig zu reagieren. Stunden später kehrt er an den Ort seines "Verbrechens" zurück und muss erkennen, dass er ein Feigling und sein Leben zwischen zwei Frauen, die ihm beide gleichgültig sind, lächerlich und grotesk ist. Seine kühle Ehefrau Henriette, die er nicht anrührt, verachtet ihn, ihre ältere Schwester Éliane, das "alte Mädchen", verzehrt sich in sinnloser Begierde nach ihm, ein Sohn, von niemandem geliebt, wird abgeschoben. Erinnerungen tauchen auf, er fühlt sich als "Gefangener des Nebels", ist sich selbst fremd: "Jeder Mensch ist ein König in seiner Einsamkeit." Die Seine ist lebendiger als dieses seltsame Trio ohne Liebe, diese ménage à trois ohne Leidenschaft. Etliche Passagen über Wasser und Wellen, Schatten und Schemen sind selbst Prosapoeme.

Der Roman besticht durch seine ungewöhnlich expressive Sprache und Bildlichkeit, sie erinnert an das, was der Vater der Surrealisten, André Breton, postuliert hat: die écriture automatique, das Schreiben, das aus Traumgeschehen, aus dem Unbewussten entsteht. "Mir wurde diktiert", sagt er selbst immer wieder, als stünde er im Banne einer höheren Macht. Ohne die Einflüsterungen dieses "Fremden", dem er folgt, keine einzige Linie, kein Werk.

"Wehe, man wüsste, was meinen Romanen zugrunde liegt!", heißt es am 18. September 1928 in Greens Tagebuch. "Welch ein Chaos von Begierden verbergen diese sorgfältig geschriebenen Seiten!" Für Julien Green war das Schreiben eine Art Psychoanalyse, ein Versuch der Sublimierung, um die inneren Dämonen zu vertreiben. Er selbst hat es so formuliert: "Die einzigen Bücher, die zählen, sind die, von denen man sagen kann, der Autor wäre erstickt, wenn er sie nicht geschrieben hätte." Nach einem verborgenen Schlüssel zum Roman hatte schon der mit Green befreundete François Mauriac gefragt. Im Tagebuch benennt Green das "sexuelle Drama", das niemand sehen will: die Geschichte eines verheirateten Homosexuellen, der nicht weiß, dass er homosexuell ist, und an dieser Krankheit des Nichtwissens langsam stirbt. BARBARA VON MACHUI

Julien Green:

"Treibgut". Roman.

Aus dem Französischen und hrsg. von Wolfgang Matz. Hanser Verlag, München 2024.

400 S., geb., 28,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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"Paris verändert sich, seine Melancholie nicht ... Selten findet man ein so schön und sorgfältig ediertes Buch wie diese Neuübersetzung von Wolfgang Matz." Barbara von Machui, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.03.24

"In schwebenden, feinziselierten, widerstreitenden inneren Bewegungen lässt Julien Green seinen Philippe durch ein so gegenwärtig wie verwunschen erscheinendes Paris der Dreißigerjahre flanieren. ... Matz hat die faszinierende Nahaufnahme des 'Endes einer gesellschaftlichen Epoche' nun als dritter Übersetzer ins Deutsche gebracht, dabei die mythische und degoutante Ebene von 'Treibgut' in eine präzise, raumöffnende Sprache gießend." Ulrich Rüdenauer, Süddeutsche Zeitung, 27.03.24

"In 'Treibgut' erklingt der Schwanengesang des Bürgertums. ... Mit staunenswerter Akribie beschreibt Green die Kippbewegungen zwischen Liebe und Verachtung, Disziplin und Leidenschaft." Daniela Strigl, Falter, 12/24

"Es ist die einzigartige Schreibweise, die Greens Roman so unverändert lesenswert macht. ... Es lohnt sich, diesen bedeutenden Roman in unseren unruhigen Zeit neu zu entdecken." Dirk Hohnsträter, WDR3, 25.03.24

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.03.2024

Flirrendes Warten
Aufzeichnungen vom Paris am Ende der Zeit:
Julien Greens Klassiker „Treibgut“ von 1932 erscheint in neuer Übersetzung.
Ein Kind, ein Dummkopf, ein Träumer. Mit dem gnadenlosen Blick der Parvenue und dem wüsten Gefühl der Verliebten betrachtet Éliane ihren Schwager. „Philippe, du hast die schönsten Augen, die es gibt, aber du bist der dümmste und überflüssigste Mann auf der Welt“, urteilt sie in Gedanken. Auch Philippe selbst täuscht sich nicht über seinen Charakter hinweg; er erkennt den Nichtsnutz in sich, unfähig zu Arbeit und Leidenschaft, der „Leere seines Daseins“ ebenso ausgeliefert wie der unheilvoll keimenden Vermutung, nicht nur sinnlos dahinzuleben, sondern auch noch ein Feigling zu sein.
In einem kathartischen Moment kommt ihm seine Existenz unverstellt zu Bewusstsein: Wie immer streift er am Abend durch die Straßen von Passy und zu den Quais der Seine; er beobachtet ein streitendes Arbeiterpaar und hört die Hilferufe der Frau. Aber er wendet sich ab. Furcht und Trägheit sind stärker als Mitgefühl und Courage. Auch fehlt ihm der Mut, seine eigene Frau Henriette zur Rede zu stellen. Sie betrügt ihn mit einem Proletarier, der Henriette an ihre hinter sich gelassene Armut gemahnt, an die Kehrseite ihres Luxuslebens.
Philippe und Henriette sind sich von der Hochzeitsnacht an zwei Fremde, die ein merkwürdiger Zufall in einem schön eingerichteten Wartesaal des Lebens zusammengeführt hat. Aber warten worauf? Die Kategorie des Glücks spielt hier keine Rolle, Ziele gibt es nicht. Philippe ist ein von unendlichem Ennui befallener Narziss, der sorgenvoll versucht, seinen Körper vor allen Erscheinungen des Alterns zu schützen. Er ist der Repräsentant einer saturierten bürgerlichen Klasse, Symptom wie auch Totengräber jener zunehmend aus den Fugen gleitenden Zeit zwischen den Kriegen. Philippe, Henriette, Éliane und der bemitleidenswerte Sohn Robert – das sind die Protagonisten eines Kammerspiels des Grauens, eingezwängt in die pompös-porösen Kulissen der bourgeoisen Welt, Bürger, die vom Glauben an ihre eigene Wirkmacht abgefallen sind.
So alt wie Philippe – Anfang 30 – war Julien Green, als er seinen Roman „Treibgut“ im Jahr 1932 veröffentlichte. In den Zwanzigerjahren war er wie ein wundersam Frühvollendeter in die Pariser Literaturwelt getreten, seine ersten Romane hatten ihm Bewunderung beschert wie kaum jemals einem anderen jungen Autor. Walter Benjamin setzte Greens Werk mit jenem Prousts ins Verhältnis – Proust rufe die „Zauberstunde der Kindheit“ herauf, „Green bringt Ordnung in unsere frühesten Schrecken“. Nun war es aber eher der Schrecken der Ordnung, dem er in „Treibgut“ nachspürte.
In schwebenden, feinziselierten, widerstreitenden inneren Bewegungen lässt er seinen Philippe durch ein so gegenwärtig wie verwunschen erscheinendes Paris der Dreißigerjahre flanieren. In dieser genialischen Vermischung einer mythischen und zeitgenössischen, symbolischen und realistischen Darstellung der Stadt erkennt Wolfgang Matz auch das Verstörende des Romans – eine Verstörung, die sich durch die damaligen Besprechungen zieht, ohne dass diese dafür einen Ausdruck zu finden imstande waren. Matz hat die faszinierende Nahaufnahme des „Endes einer gesellschaftlichen Epoche“ – so der Kritiker Jacques Decour – nun als dritter Übersetzer nach Friedrich Burschell 1932 und Eva Rechel-Mertens 1967 ins Deutsche gebracht, dabei die mythische und degoutante Ebene von „Treibgut“ in eine präzise, raumöffnende Sprache gießend. „Er schaute von einem Eck ins andere, mit müdem, fast feindlichem Blick. Nichts war hier, was von anderem sprach als von Geschmack, Überlegung und Sicherheit, vor allem von Sicherheit, von einer moralischen Sicherheit, die ihr materielles Abbild in den fest zugezogenen Vorhängen hatte. Von der Kopie eines Poussin bis zum dünnen und zerbrechlichen Papiermesser aus Elfenbein bot alles den Augen ein Beispiel verstörender Vollkommenheit.“
Die „verstörende Vollkommenheit“ verbirgt freilich noch eine weitere, nicht ganz unwesentliche Schicht dieses großartigen Romans, auf die Matz in seinem kundigen Nachwort eingeht: Im Tagebuch beklagte sich Julien Green, dass „niemand in Treibgut das sexuelle Drama sehen will, von dem die Rede ist“. Im Grunde handele es sich um die Geschichte eines verheirateten Homosexuellen, der nichts von seiner Homosexualität wisse, ahnungslos leide. Für heutige Leserinnen und Leser liegt diese Deutung vielleicht klarer auf der Hand: Philippe ist ein Mann, der Körperkult betreibt, sich ausgiebig seinem Aussehen widmet, aber kein einziges Mal mit seiner Frau eine intime Situation erlebt – in der Hochzeitsnacht „kommt ihm die Lust nicht“, und sie wird ihm auch in den darauffolgenden Jahren nicht zuteil.
Die stillen und zugleich offensichtlichen Avancen seiner Schwägerin, die mit dem Paar im selben Haushalt lebt, lässt er kühl an sich abprallen. In den Ängsten seines Sohnes entdeckt er seine eigenen Ängste wieder, als würde er sich in diesem Jungen spiegeln, als liebte er nicht ihn, sondern in ihm nur sich selbst. In seinen nächtlichen Spaziergängen sucht er, wenn nicht nach Abenteuern, so nach einem Sich-Erleben – und lauscht dem Klang des Wassers, das ihn wegführt von der „monströsen Erregung der Städte“. „Vielleicht hatte kein anderer Mensch eine so vollkommene Einsamkeit erlebt wie dieser Mann im Herzen einer übervölkerten Hauptstadt.“ Die Einsamkeit ist total für den, der noch nicht einmal weiß, was ihm fehlt. Insofern ist der tatenlos-furchtsame Philippe nicht nur der letzte Vertreter einer dem Untergang geweihten, bürgerlichen Welt, sondern auch der traurig Gefangene im Innern seines gesunden Körpers, dessen Begierden verdrängt und verborgen bleiben.
ULRICH RÜDENAUER
Entdecke den Nichtsnutz in dir: Romanautor Julien Green.
Foto: Getty Images
Julien Green: Treibgut. Herausgegeben und übersetzt von Wolfgang Matz.
Carl Hanser Verlag,
München 2024.
400 Seiten. 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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