Tunde lehrt an einer amerikanischen Universität Fotografie, aufgewachsen ist er in Lagos. Mit wachen Sinnen bewegt er sich über den Campus und durch Institutionen, denen er nie ganz selbstverständlich zugehören wird. In Bildern, in Filmen, in Landschaften, in der Musik findet er Schönheit, aber auch die Ablagerungen von Unrecht und westlicher Überheblichkeit. Was heißt es, richtig zu leben in einer Welt der Gewalt und der Oberflächlichkeit? Wie lässt sich der Brutalität der Geschichte bleibende Bedeutung abringen? Was schulden wir denen, die uns nahe sind, und was schulden wir Fremden? Tunde sucht nach Halt und nach Sinn: in seiner Kunst, in seinen Erinnerungen, als Freund und als Liebender.
Frankfurter Allgemeine ZeitungLiterarische Trauerarbeit
Roman oder Manifest? Auf jeden Fall Furcht und Zittern: Teju Coles "Tremor" bescheinigt der westlichen Kultur auslöschende Arroganz.
Von Jan Wiele
Das Spätwerk Alfred Döblins wurde einmal als "literarische Trauerarbeit" bezeichnet. Bei dem 1975 in Michigan geborenen Teju Cole würde der Begriff schon zum Frühwerk passen, insbesondere zu seinem neuen Roman "Tremor". Angesichts des Titels stellt man sich einen vor Wut, Trauer und Erschöpfung zitternden Körper vor - so wie den des Erzählers Tunde vielleicht, den wir einmal in einer Rückblende sehen. Er hat da auf einer Urlaubsreise beim Anfassen eines Lichtschalters einen Stromschlag erhalten, aber nicht nur dieser lässt ihn sich, am Boden liegend, weinend schütteln, sondern auch die Verzweiflung über eine gerade zerbrechende Beziehung. Tunde ist damals mit einem Mann namens Sandro zusammen. In der Gegenwart der Erzählung lebt er mit seiner japanischstämmigen Ehefrau Sadako auf dem Campus der Universität Harvard, wo er Fotografie lehrt. Aber auch mit Sadako gibt es Krisen; eine tiefe wurde bereits durch Therapie überwunden, gerade ist sie für ein paar Tage weggefahren, um allein zu sein.
Auch mit Sadako verbindet Tunde die Erinnerung an ein Beben, wenn auch an eines, das nur sie allein erlebt hat, nämlich das verheerende Erdbeben von Kobe 1995. Sie hat es überlebt, und zehn Jahre später war sie mit Tunde zusammen in Japan am Ort des Geschehens: "Er hielt sie in seinen Armen. Es macht uns Angst, wenn geliebten Menschen beinahe etwas Schreckliches widerfahren ist, selbst wenn das Ereignis in einer Zeit lag, bevor wir überhaupt von ihrer Existenz wussten."
Das könnte ein Schlüsselsatz des Romans sein. In seiner fast grenzenlosen Empathiefähigkeit scheinen Tunde, einem Künstler und Wissenschaftler, nicht nur seine Zeitgenossen zu "geliebten Menschen" zu werden, sondern auch viele historische Gestalten, besonders solche, die unter dem Kolonialismus oder anderer Gewalt gelitten haben, seien es Indigene Nordamerikas im achtzehnten Jahrhundert oder Opfer von Serienmördern im zwanzigsten. Bisweilen wirkt es gar, als müsse dieser Tunde das Leid der ganzen Welt tragen. Und reflektieren - denn seine Erzählung fällt in die Gattung des Reflexionsromans, wie sie sich von der Romantik über den Expressionismus bis zur Postmoderne fortentwickelt und auch schon in Teju Coles bisherigem Hauptwerk "Open City" (2012) gezeigt hat. Auch hier changiert der Text zwischen Tagebuch, Vorlesung und vor allem: eingehender Exegese von Bildern. Der studierte Kunstgeschichtler Cole, selbst Fotograf und Dozent für kreatives Schreiben in Harvard, spielt in der Figur seines Erzählers auch abermals seine Gelehrsamkeit aus, ob nun in der Analyse von FBI-Videos des Mörders Samuel Little oder von Gemälden Caravaggios und Turners. Er kritisiert die tatsächlichen oder mentalen Bilder, die Menschen sich von anderen Menschen machen, und stellt die Frage, was sie überhaupt dazu berechtigt.
Damit nicht genug, ruft der Gelehrte auch Leben und Werk bedeutender Musiker von John Coltrane bis zu Ali Farka Touré auf. Die musikalischen Betrachtungen sind verflochten mit Reiseerlebnissen. Im Mittelteil führt das Buch nach Mali und Nigeria (wo Teju Cole selbst Kindheit und Jugend verbracht hat), wechselt dann auch noch perspektivisch in die Erzählungen anderer Figuren und hebt zu einer Fundamentalkritik von "Reiseliteratur" an.
Was hat das alles miteinander zu tun? Wenn etwas, dann eben nur in der Trauerhaltung des Erzählers angesichts der westlichen Kultur - dieser Oberbegriff ist keine Abstraktion des Rezensenten, sondern so basal steht es wörtlich im Buch, wenn etwa von der "auslöschenden Arroganz der westlichen Kultur" die Rede ist. An Stellen wie dieser steuert der Roman in Richtung eines postkolonialistischen Manifests.
Dabei gibt sich dessen Erzähler immer wieder als ernsthaft Suchender und durch Schmerz Lernender auf dem Weg, ein "guter Mensch" zu werden - auch diese Formulierung steht mehrfach wörtlich im Text, ja, es heißt sogar, Sadako liebe Tunde eben für seinen "Wunsch, ein guter Mensch zu sein".
In der Kunst, in der Wissenschaft und im Privaten treibt Tunde die Frage um: "Wie lebt man, ohne das Leben der anderen zu kannibalisieren, ohne sie zu Maskottchen, Faszinosa, bloßen Begrifflichkeiten in der Logik einer dominanten Kultur zu reduzieren?"
Die Antwort darauf finden die Erzählungen in der besagten Empathie, die, das wird als Ideal ganz deutlich, zwischen behutsam Liebenden, aber auch zwischen dem Dozenten und seinen Studenten und Kollegen zum Ausdruck kommen soll: "Amina, die wissenschaftliche Mitarbeiterin, die im Herbst als Gasthörerin meinen Kurs besucht hatte, ist zu einer Freundin geworden. Jedes Mal, wenn ich sie auf dem Campus treffe, sagt sie zwei Dinge zu mir. Sie fragt mich, wie es meinem Herzen geht, wobei sie stets ihre Hand auf ihr Herz legt. Und sie sagt, dass sie weiß, dass ich an sie denke." Mit "sie" sind Opfer der Sklaverei gemeint.
Teju Cole hat also mit dem vorliegenden Buch auch noch einen Campusroman geschrieben - einen, der sich von den humorvollen, ironischen oder gar boshaften Exemplaren der Gattung maximal unterscheidet. "Tremor" ist ein Campusroman der aufrichtigen Herzen, der in seiner ungeschützten Emotionalität an eine untergegangene westliche Kultur erinnert: die der Hippies.
Teju Cole: "Tremor".
Roman.
Aus dem Englischen von Anna Jäger. Claassen Verlag, Berlin 2024.
288 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Roman oder Manifest? Auf jeden Fall Furcht und Zittern: Teju Coles "Tremor" bescheinigt der westlichen Kultur auslöschende Arroganz.
Von Jan Wiele
Das Spätwerk Alfred Döblins wurde einmal als "literarische Trauerarbeit" bezeichnet. Bei dem 1975 in Michigan geborenen Teju Cole würde der Begriff schon zum Frühwerk passen, insbesondere zu seinem neuen Roman "Tremor". Angesichts des Titels stellt man sich einen vor Wut, Trauer und Erschöpfung zitternden Körper vor - so wie den des Erzählers Tunde vielleicht, den wir einmal in einer Rückblende sehen. Er hat da auf einer Urlaubsreise beim Anfassen eines Lichtschalters einen Stromschlag erhalten, aber nicht nur dieser lässt ihn sich, am Boden liegend, weinend schütteln, sondern auch die Verzweiflung über eine gerade zerbrechende Beziehung. Tunde ist damals mit einem Mann namens Sandro zusammen. In der Gegenwart der Erzählung lebt er mit seiner japanischstämmigen Ehefrau Sadako auf dem Campus der Universität Harvard, wo er Fotografie lehrt. Aber auch mit Sadako gibt es Krisen; eine tiefe wurde bereits durch Therapie überwunden, gerade ist sie für ein paar Tage weggefahren, um allein zu sein.
Auch mit Sadako verbindet Tunde die Erinnerung an ein Beben, wenn auch an eines, das nur sie allein erlebt hat, nämlich das verheerende Erdbeben von Kobe 1995. Sie hat es überlebt, und zehn Jahre später war sie mit Tunde zusammen in Japan am Ort des Geschehens: "Er hielt sie in seinen Armen. Es macht uns Angst, wenn geliebten Menschen beinahe etwas Schreckliches widerfahren ist, selbst wenn das Ereignis in einer Zeit lag, bevor wir überhaupt von ihrer Existenz wussten."
Das könnte ein Schlüsselsatz des Romans sein. In seiner fast grenzenlosen Empathiefähigkeit scheinen Tunde, einem Künstler und Wissenschaftler, nicht nur seine Zeitgenossen zu "geliebten Menschen" zu werden, sondern auch viele historische Gestalten, besonders solche, die unter dem Kolonialismus oder anderer Gewalt gelitten haben, seien es Indigene Nordamerikas im achtzehnten Jahrhundert oder Opfer von Serienmördern im zwanzigsten. Bisweilen wirkt es gar, als müsse dieser Tunde das Leid der ganzen Welt tragen. Und reflektieren - denn seine Erzählung fällt in die Gattung des Reflexionsromans, wie sie sich von der Romantik über den Expressionismus bis zur Postmoderne fortentwickelt und auch schon in Teju Coles bisherigem Hauptwerk "Open City" (2012) gezeigt hat. Auch hier changiert der Text zwischen Tagebuch, Vorlesung und vor allem: eingehender Exegese von Bildern. Der studierte Kunstgeschichtler Cole, selbst Fotograf und Dozent für kreatives Schreiben in Harvard, spielt in der Figur seines Erzählers auch abermals seine Gelehrsamkeit aus, ob nun in der Analyse von FBI-Videos des Mörders Samuel Little oder von Gemälden Caravaggios und Turners. Er kritisiert die tatsächlichen oder mentalen Bilder, die Menschen sich von anderen Menschen machen, und stellt die Frage, was sie überhaupt dazu berechtigt.
Damit nicht genug, ruft der Gelehrte auch Leben und Werk bedeutender Musiker von John Coltrane bis zu Ali Farka Touré auf. Die musikalischen Betrachtungen sind verflochten mit Reiseerlebnissen. Im Mittelteil führt das Buch nach Mali und Nigeria (wo Teju Cole selbst Kindheit und Jugend verbracht hat), wechselt dann auch noch perspektivisch in die Erzählungen anderer Figuren und hebt zu einer Fundamentalkritik von "Reiseliteratur" an.
Was hat das alles miteinander zu tun? Wenn etwas, dann eben nur in der Trauerhaltung des Erzählers angesichts der westlichen Kultur - dieser Oberbegriff ist keine Abstraktion des Rezensenten, sondern so basal steht es wörtlich im Buch, wenn etwa von der "auslöschenden Arroganz der westlichen Kultur" die Rede ist. An Stellen wie dieser steuert der Roman in Richtung eines postkolonialistischen Manifests.
Dabei gibt sich dessen Erzähler immer wieder als ernsthaft Suchender und durch Schmerz Lernender auf dem Weg, ein "guter Mensch" zu werden - auch diese Formulierung steht mehrfach wörtlich im Text, ja, es heißt sogar, Sadako liebe Tunde eben für seinen "Wunsch, ein guter Mensch zu sein".
In der Kunst, in der Wissenschaft und im Privaten treibt Tunde die Frage um: "Wie lebt man, ohne das Leben der anderen zu kannibalisieren, ohne sie zu Maskottchen, Faszinosa, bloßen Begrifflichkeiten in der Logik einer dominanten Kultur zu reduzieren?"
Die Antwort darauf finden die Erzählungen in der besagten Empathie, die, das wird als Ideal ganz deutlich, zwischen behutsam Liebenden, aber auch zwischen dem Dozenten und seinen Studenten und Kollegen zum Ausdruck kommen soll: "Amina, die wissenschaftliche Mitarbeiterin, die im Herbst als Gasthörerin meinen Kurs besucht hatte, ist zu einer Freundin geworden. Jedes Mal, wenn ich sie auf dem Campus treffe, sagt sie zwei Dinge zu mir. Sie fragt mich, wie es meinem Herzen geht, wobei sie stets ihre Hand auf ihr Herz legt. Und sie sagt, dass sie weiß, dass ich an sie denke." Mit "sie" sind Opfer der Sklaverei gemeint.
Teju Cole hat also mit dem vorliegenden Buch auch noch einen Campusroman geschrieben - einen, der sich von den humorvollen, ironischen oder gar boshaften Exemplaren der Gattung maximal unterscheidet. "Tremor" ist ein Campusroman der aufrichtigen Herzen, der in seiner ungeschützten Emotionalität an eine untergegangene westliche Kultur erinnert: die der Hippies.
Teju Cole: "Tremor".
Roman.
Aus dem Englischen von Anna Jäger. Claassen Verlag, Berlin 2024.
288 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main