Alles nur ein Missverständnis? Carlo, Dozent für literarisches Schreiben, wurde mit der Studentin Sofia auf der Universitätstoilette gesehen. Ihr sei übel gewesen, er habe ihr nur geholfen, erklärt Carlo dem Rektor, seinen Kollegen und seiner Ehefrau Margherita - und die Studentin bestätigt es. Margherita, Immobilienmaklerin mit eigener Agentur, und Carlo würden sich glücklich nennen, doch das »Missverständnis« dringt wie schleichendes Gift in die Ehe des Mailänder Paars ein: Für Carlo wird der vermeintliche Seitensprung zur Obsession, zum Inbegriff seines Versagens; für Margherita hingegen zum besten Alibi, ihren eigenen erotischen Phantasien nachzugeben ... Mit großem Gespür für die feinen Unterschiede, für Blicke, Gesten und Berührungen erkundet Marco Missiroli das Leben seiner Protagonisten: ihre unterdrückten Sehnsüchte, ihre kleinen Fluchten, ihre uneingestandenen Ängste, ihre Versuche, den anderen treu zu bleiben - und sich selbst.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Christiane Pöhlmann liest Marco Missirolis für den Premio Strega nominierten Roman vor dem Hintergrund großer Ehebruch-Romane wie "Madame Bovary", "Anna Karenina" oder "Effi Briest". Aber auch ohne die Messlatte so hochzulegen, missfällt der Kritikerin der Roman. Die Geschichte um das in Mailand lebende Durchschnitts-Ehepaar Carlo und Margherita, die sich beide außereheliche Affären gönnen, ächzt derart unter "Klischees", das Pöhlmann schnell die Leselust vergeht. Auch jene gelungenen Passagen, in denen der Autor Mailand porträtiert, trösten sie nicht über den Mangel an Feinsinn hinweg. Die geplante Netflix-Verfilmung wird sich Pöhlmann vermutlich sparen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.04.2021Eros versus Ethos
Marco Missirolis Roman "Treue" über Versuchung
Wer sich übt in Treu und Redlichkeit, gilt heute schnell als piefig. "Wer sich selbst treu bleiben will, kann nicht immer anderen treu bleiben", behauptet Christian Morgenstern, dass "wir uns niemals so treu sind wie in den Augenblicken der Inkonsequenz" Oscar Wilde. "Fedeltà" nennt Marco Missiroli seinen neuen Roman, "Treue" heißt er auf Deutsch. Niemand wird so treuherzig sein zu vermuten, es sollte wirklich der lange Weg von den Nibelungen über den standfesten Luther bis zu Rabattmarken im Einzelhandel skizziert werden. Selbstverständlich geht es bei Missiroli am Ende um eheliche Treue.
Carlo und Margherita sind eigentlich glücklich verheiratet. Er unterrichtet literarisches Schreiben an der Universität, seine Haupteinnahmequelle sind aber Texte für Reiseprojekte; sie hat sich als Immobilienmaklerin selbständig gemacht. Carlo würde gern Sex mit seiner Studentin Sofia haben. Diese ist nicht abgeneigt, wird nach den ersten Küssen aber ohnmächtig, was nicht an Carlos Zungenqualitäten liegt. Danach ist mit den beiden für längere Zeit Schluss, Carlo hat ein paar andere Affären, bis er nach Jahren Sofia aufsucht, sie heimlich beobachtet und feststellt: Er will nichts mehr von ihr. Margherita möchte unbedingt mit ihrem Physiotherapeuten Andrea ins Bett, der jedoch eigentlich schwul ist. Trotzdem landen sie ohne Ohnmachtsanfall am Zielort, danach hat Andrea sein Comingout und Margherita einen Kinderwunsch. Beide werden beste Freunde.
Missiroli bauscht diese Handlung durch einige vermeintliche Spannungsbögen auf, die indes nicht halten, was sie versprechen. Dabei sind Ehebrüche doch Stoff für große Literatur. "Madame Bovary", "Anna Karenina" und "Effi Briest" haben gezeigt, wie der Begriff der Treue ausgelotet werden kann, auch und vor allem der der Treue gegenüber sich selbst.
Missiroli lässt seine Geschichte in Mailand spielen, wo der 1981 geborene Autor inzwischen selbst lebt, und das Stadtporträt, das er zeichnet, ist der einzige gelungene Aspekt des Romans. Ansonsten strotzt er von Klischees. Carlo fühlt sich als Versager und leidet an seiner Herkunft aus betuchten Verhältnissen. "Du bist die Geisel eines Romans, den du nie schreiben wirst. Dozent bist du ganze sechs Stunden in der Woche, im wahren Leben schreibst du Urlaubsbroschüren zusammen und überlebst nur dank der monatlichen Zuwendung deiner Familie, was du aber zu verheimlichen suchst. Du verkörperst sämtliche männlichen Stereotypen." Margherita ist für nichts so recht Feuer und Flamme, hat aber nach dem Aufwachen schon mal "ihre Unversöhnlichkeit gegenüber den eigenen Zweifeln bemerkt, ihre Lust, einmal anmaßend zu sein - war das nicht ihr gutes Recht, wo sie den ganzen Abend damit zugebracht hatte, sich Strategien zurechtzulegen, um eine Wohnung zu kaufen, die sie und ihr Mann sich eigentlich nicht leisten konnten?" Wobei "Strategie" als Synonym für "jemanden durch Vorspiegelung falscher Tatsachen über den Löffel barbieren" zu verstehen ist.
Der Roman ist mit dem Premio Strega Giovani ausgezeichnet und war für den Premio Strega nominiert. Außerdem soll er für Netflix zu einer Serie umgearbeitet werden. Bleibt die Frage, ob Missiroli beim Schreiben bereits daran gedacht hat. Sein Text liest sich häufig wie ein langer Kameraschwenk, was nicht als Kompliment zu verstehen ist. Als Sofia einmal das Grab ihrer Mutter besucht, betrachtet sie eingehend das Porträt mit dem scheuen Blick, denn die Mutter "war bei Fotos immer verlegen gewesen, wurde aber im Grunde gerne fotografiert. Hier bin ich, Mama, Margherita betrat das Zimmer, in dem noch das Antidekubitus-Bett stand und auch die Nähmaschine, hier bin ich." Bei dem Zitat wurden keine Absätze eingespart und kein Punkt durch ein Komma ersetzt, es ist exakt so am Ende des Buches zu finden.
Die lauernde Verfilmung bringt endgültig jenes Werk ins Spiel, das sich bei der Lektüre aufdrängt: Schnitzler hat in seiner "Traumnovelle" die Thematik Eros versus Ethos unendlich viel feinsinniger dargestellt. Ihm ist es gelungen, echte seelische Erschütterungen zu zeigen, kein Gejammer auf hohem Niveau. Mit knappem Vorsprung schafft das sogar die psychologisch heruntergedimmte Filmadaption "Eyes Wide Shut". Und damit: Cut.
CHRISTIANE PÖHLMANN
Marco Missiroli: "Treue". Roman.
Aus dem Italienischen von Esther Hansen. Wagenbach Verlag, Berlin 2021. 256 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Marco Missirolis Roman "Treue" über Versuchung
Wer sich übt in Treu und Redlichkeit, gilt heute schnell als piefig. "Wer sich selbst treu bleiben will, kann nicht immer anderen treu bleiben", behauptet Christian Morgenstern, dass "wir uns niemals so treu sind wie in den Augenblicken der Inkonsequenz" Oscar Wilde. "Fedeltà" nennt Marco Missiroli seinen neuen Roman, "Treue" heißt er auf Deutsch. Niemand wird so treuherzig sein zu vermuten, es sollte wirklich der lange Weg von den Nibelungen über den standfesten Luther bis zu Rabattmarken im Einzelhandel skizziert werden. Selbstverständlich geht es bei Missiroli am Ende um eheliche Treue.
Carlo und Margherita sind eigentlich glücklich verheiratet. Er unterrichtet literarisches Schreiben an der Universität, seine Haupteinnahmequelle sind aber Texte für Reiseprojekte; sie hat sich als Immobilienmaklerin selbständig gemacht. Carlo würde gern Sex mit seiner Studentin Sofia haben. Diese ist nicht abgeneigt, wird nach den ersten Küssen aber ohnmächtig, was nicht an Carlos Zungenqualitäten liegt. Danach ist mit den beiden für längere Zeit Schluss, Carlo hat ein paar andere Affären, bis er nach Jahren Sofia aufsucht, sie heimlich beobachtet und feststellt: Er will nichts mehr von ihr. Margherita möchte unbedingt mit ihrem Physiotherapeuten Andrea ins Bett, der jedoch eigentlich schwul ist. Trotzdem landen sie ohne Ohnmachtsanfall am Zielort, danach hat Andrea sein Comingout und Margherita einen Kinderwunsch. Beide werden beste Freunde.
Missiroli bauscht diese Handlung durch einige vermeintliche Spannungsbögen auf, die indes nicht halten, was sie versprechen. Dabei sind Ehebrüche doch Stoff für große Literatur. "Madame Bovary", "Anna Karenina" und "Effi Briest" haben gezeigt, wie der Begriff der Treue ausgelotet werden kann, auch und vor allem der der Treue gegenüber sich selbst.
Missiroli lässt seine Geschichte in Mailand spielen, wo der 1981 geborene Autor inzwischen selbst lebt, und das Stadtporträt, das er zeichnet, ist der einzige gelungene Aspekt des Romans. Ansonsten strotzt er von Klischees. Carlo fühlt sich als Versager und leidet an seiner Herkunft aus betuchten Verhältnissen. "Du bist die Geisel eines Romans, den du nie schreiben wirst. Dozent bist du ganze sechs Stunden in der Woche, im wahren Leben schreibst du Urlaubsbroschüren zusammen und überlebst nur dank der monatlichen Zuwendung deiner Familie, was du aber zu verheimlichen suchst. Du verkörperst sämtliche männlichen Stereotypen." Margherita ist für nichts so recht Feuer und Flamme, hat aber nach dem Aufwachen schon mal "ihre Unversöhnlichkeit gegenüber den eigenen Zweifeln bemerkt, ihre Lust, einmal anmaßend zu sein - war das nicht ihr gutes Recht, wo sie den ganzen Abend damit zugebracht hatte, sich Strategien zurechtzulegen, um eine Wohnung zu kaufen, die sie und ihr Mann sich eigentlich nicht leisten konnten?" Wobei "Strategie" als Synonym für "jemanden durch Vorspiegelung falscher Tatsachen über den Löffel barbieren" zu verstehen ist.
Der Roman ist mit dem Premio Strega Giovani ausgezeichnet und war für den Premio Strega nominiert. Außerdem soll er für Netflix zu einer Serie umgearbeitet werden. Bleibt die Frage, ob Missiroli beim Schreiben bereits daran gedacht hat. Sein Text liest sich häufig wie ein langer Kameraschwenk, was nicht als Kompliment zu verstehen ist. Als Sofia einmal das Grab ihrer Mutter besucht, betrachtet sie eingehend das Porträt mit dem scheuen Blick, denn die Mutter "war bei Fotos immer verlegen gewesen, wurde aber im Grunde gerne fotografiert. Hier bin ich, Mama, Margherita betrat das Zimmer, in dem noch das Antidekubitus-Bett stand und auch die Nähmaschine, hier bin ich." Bei dem Zitat wurden keine Absätze eingespart und kein Punkt durch ein Komma ersetzt, es ist exakt so am Ende des Buches zu finden.
Die lauernde Verfilmung bringt endgültig jenes Werk ins Spiel, das sich bei der Lektüre aufdrängt: Schnitzler hat in seiner "Traumnovelle" die Thematik Eros versus Ethos unendlich viel feinsinniger dargestellt. Ihm ist es gelungen, echte seelische Erschütterungen zu zeigen, kein Gejammer auf hohem Niveau. Mit knappem Vorsprung schafft das sogar die psychologisch heruntergedimmte Filmadaption "Eyes Wide Shut". Und damit: Cut.
CHRISTIANE PÖHLMANN
Marco Missiroli: "Treue". Roman.
Aus dem Italienischen von Esther Hansen. Wagenbach Verlag, Berlin 2021. 256 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Kompromisslos legt dieser Roman die Empfindungen unserer Zeit offen: Was ist aus uns geworden, was sind unsere Kämpfe und Freiheiten? Marco Missiroli rührt an unsere verborgensten Abgründe.« Roberto Saviano