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A Times book of the yearA Guardian book of the year'Magnificent'The Times 'Dazzling' New Statesman'It filled me with hope' Zadie Smith

Produktbeschreibung
A Times book of the yearA Guardian book of the year'Magnificent'The Times 'Dazzling' New Statesman'It filled me with hope' Zadie Smith
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Autorenporträt
Jia Tolentino is a staff writer at The New Yorker. She grew up in Texas, attended the University of Virginia, and served in Kyrgyzstan in the Peace Corps. She received her MFA in fiction from the University of Michigan. She was a contributing editor at The Hairpin and the deputy editor at Jezebel. Her work has appeared in The New York Times, The New York Times Magazine, Time, Grantland, Slate, Pitchfork, Bon Appétit, Spin, and Fader. She lives in Brooklyn.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.03.2021

Wenn die Arbeit am Körper zum Kunstprojekt wird

Die Erscheinung muss veredelt werden: Jia Tolentino erörtert in pointierten Essays, wie sich Millennials online und analog in Szene setzen.

Von Melanie Mühl

Ihren Instagram-Account staffiert die Autorin Jia Tolentino am liebsten mit vermeintlich intimen Einblicken in ihr Familienleben aus, wofür sie zuverlässig Tausende von Herzchen einheimst. Mal lichtet sie ihre wenige Monate alte Tochter in einem kuscheligen Teddy-Anzug ab, mal zeigt sie, wie der Vater den Familienzuwachs küsst. Selbstverständlich bekommt auch der Hund einen Platz im Selbstvermarktungskosmos der von der "Washington Post" als "Susan Sontag der Millennials" gefeierten Autorin, deren Essayband "Trick Mirror. Über das inszenierte Ich" es sofort nach Erscheinen auf die "New York Times"-Bestsellerliste schaffte. Was nach Schnappschüssen aussieht und Authentizität suggerieren soll, ist bis ins Detail kuratiert. Performance auf höchstem Niveau. Nur: Wie passt diese mediale Inszenierung, die bares Geld bringt, zu Jia Tolentinos nun auch hierzulande erschienenem Buch, in dem sie dem Internet geradezu monsterhafte Züge bescheinigt? Es handle sich um eine Erfindung, die in die Gehirne seiner Nutzer eindringt, sie neu verdrahtet und "in einen Zustand primitiver Überwahrnehmung und Ablenkung zurückversetzt". Ein toxisches Instrument, das die schlechtesten Seiten und Optimierungsbestrebungen in uns hervorbringt. "Nun bin ich dreißig, und ein Großteil meines Lebens lässt sich nicht mehr trennen vom Internet und seinem Wirrwarr unablässigen erzwungenen Verbundenseins - dieser fieberhaften elektronischen, unerträglichen Hölle."

Jia Tolentino, Jahrgang 1988, "verhökert" ihre Persönlichkeit trotzdem weiter im Netz, denn sie weiß, wie man aus diesem vermeintlichen Widerspruch Kapital schlägt: indem man ihn selbst und die eigene Verwirrung zum Thema macht. Die (Selbst-)Täuschung, der Trickspiegel, dessen zurückgeworfenes Bild stets etwas Schimärenhaftes hat, zieht sich leitmotivisch durch die Essaysammlung, in der es gleich zu Beginn leicht vernebelnd heißt: "Das Schreiben bringt mich entweder dazu, meine Selbsttäuschungen abzuschütteln oder sie weiterzuentwickeln."

Dass Jia Tolentino, Tochter streng religiöser philippinischer Einwanderer, mit sechzehn Jahren, einem Alter also, in dem andere mit Selbstzweifeln zu kämpfen haben, für eine Reality-TV-Show namens "Girls v. Boys" in Puerto Rico vor der Kamera stand - das Kapitel dazu heißt "Mein Reality-TV-Ich" -, scheint der logische Startschuss einer Karriere im Scheinwerferlicht sozialer Medien zu sein. "Der Anpassungsprozess meines äußeren Ichs verlief so instinktiv, so automatisch, dass ich ihn nicht mehr bewusst wahrnehmen konnte. Das Reality-Fernsehen machte mich frei von der Selbstwahrnehmung und band mich zugleich an sie, indem es die Selbstwahrnehmung untrennbar mit allem anderen vereinte", schreibt Tolentino, die inzwischen feste Autorin beim "New Yorker" ist. Diese Erfahrung bezeichnet sie als eine nützliche, wenn auch fragwürdige Vorbereitung auf ein Leben in den Fängen des Internets.

Ihre Essays über diese Fänge tragen Titel wie "Die Geschichte einer Generation in sieben Betrugsmaschen", "Pure Heldinnen", "Der Kult um die schwierige Frau" und "Ekstase", ein Text, in dem Tolentino aus ihrer Jugend in einer Megakirche im texanischen Houston erzählt und zu dem Schluss kommt, dass Religion und Ecstasy zwei Wege sind, die in die übermenschliche Welt des Rausches und der Vergebung führen. Die Kirche erschien ihr dabei nie viel tugendhafter als Drogen, und Drogen wiederum erschienen ihr nie viel sündhafter als die Kirche.

Der Arbeit am Selbst, die Frauen dazu treibt, sich in Fitnessstudios und beim ästhetischen Dermatologen oder plastischen Chirurgen zu optimieren, um den eigenen Marktwert in die Höhe zu treiben, unterwirft sich auch Tolentino. Gleichzeitig kritisiert sie den Instandhaltungswahnsinn, der viel Zeit und Geld verschlingt, jedoch niemals nach harter Arbeit aussehen darf - und distanziert sich intellektuell von ihm. Im Kapitel "Optimierung ohne Ende" konterkariert Tolentino ihre klugen Überlegungen durch die Diktion, schildert sie doch eine skurrile Yoga-Stunde, bei der ihrer Nachbarin ein "Muschifurz" nach dem nächsten entfährt.

Erst belustigt, dann angeekelt von derart wenig Selbstkontrolle schließt Tolentino fürs Erste das Kapitel Yoga und probiert Barre, ein vom Ballett inspiriertes Ganzkörper-Workout. "Barre ist ergebnisorientiert und auf gutes Aussehen fixiert - es ist so kultig wie CrossFit oder Bootcamp-Kurse, aber das wichtigste Ziel ist Schönheit, nicht Stärke." Ein über dieses schweißtreibende Workout im "Observer" erschienener Artikel trug die Überschrift: "Battle of the Butts". Barres Nähe zum Ballett nährt bei den Körperveredlerinnen die Illusion, dass ihrem Streben nach dem perfekten Body ein ernsthaftes, künstlerisches Ziel zugrunde liegt - womit wir laut Tolentino wieder bei der Selbsttäuschung wären und bereit, vierzig Dollar pro Trainingsstunde zu investieren.

Es ist erstaunlich, wie raffiniert Tolentino stets gerade genug von sich preisgibt, um die Leser auf ihre Seite zu ziehen, ohne dabei die Hosen runterzulassen. Kein Satz in diesem Buch muss ihr in fünf Jahren peinlich sein. Ihre kritische Selbstbefragung driftet nur einmal, nämlich in dem Kapitel "Ja, ich will (dich fürchten)" über die Hochzeits-Industrie in Rechtfertigung ab. Tolentino, seit langer Zeit mit ihrem Freund zusammen, war in den vergangenen neun Jahren auf sage und schreibe 46 Hochzeiten eingeladen. Sie selbst will nicht heiraten, bemerkt aber, dass sie Freunde und Bekannte immer häufiger nach dem Warum fragen. Antworten finden sie reichlich. "Ich frage mich, ob Frauen heute so bereitwillig die ungleiche Einschränkung ihrer Unabhängigkeit in Kauf nehmen würden, wenn ihr Ego nicht zuerst über die Maßen aufgeblasen würde." Als würde jede Frau bei der Hochzeit ihre Identität ablegen und in die Rolle der ambitionslosen Ehefrau schlüpfen. Ganz unrecht hat sie trotzdem nicht.

Jia Tolentinos Essays sind scharfsinnig, pointiert, mitunter amüsant, und manchmal schwirrt einem so sehr der Kopf, als hätte man eine Pille eingeworfen. Sie zerlegt das von (Selbst-)Betrug geprägte Social-Media-Zeitalter in all seine hässlichen Einzelheiten. Ihr Buch ähnelt ihrem Instagram-Account: Hier wie dort bewegt sie sich auf der sicheren Seite. Sie ist eine Trickschreiberin, die einen kunstvoll verführt - und man lässt es gern mit sich geschehen.

Jia Tolentino: "Trick Mirror".

Über das inszenierte Ich.

Aus dem Englischen von Margarita Ruppel.

S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021. 368 S., geb., 22,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.11.2021

Geschencke für den Kopf (Fortsetzung von Seite 20)
Andrian Kreye
EINE HILFE
Bruno Mars und Anderson .Paak lieben die Grooves der Siebziger und haben deswegen zusammen ein Album eingespielt, das wie ein Defibrillator für die Seele wirkt. Hemmungslos nostalgisch und zutiefst ironisch blasen sie jede Form von Wintertrübsal und Pandemie-Elend in eine Supernova aus Funk-Brettern und Erotiksoul.
Bruno Mars and Anderson .Paak: An Evening with Silk Sonic. Atlantic.
EIN GROSSER SPASS
Colson Whitehead spielt mit dem Krimi-Genre so lässig wie ein Jazzvirtuose mit einem Broadway-Schlager. Doch hinter der Schurkengeschichte aus dem Harlem der Sechzigerjahre steckt ein zeitloses Sittengemälde Amerikas.
Colson Whitehead: Harlem Shuffle. Hanser Verlag. 384 Seiten, 25 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Bert Stern war Modefotograf. Sein Film über das Newport Jazz Festival von 1958 war deswegen eher Zeitgeiststudie als Musikdoku. Weil er sich auf Bilder und Stimmung konzentrierte und nicht nur auf die Musik in jenem Moment, als der Jazz auf der Wiese des Tennisklubs am Meer zum Kanon wurde. In den letzten Jahren war der Film selten zu sehen. Jetzt wurde er restauriert und erscheint bei den Diamantschürfern der Filmgeschichte, Rapid Eye Movies.
Jazz an einem Sommerabend. Regie: Bert Stern. Mit Louis Armstrong, Thelonious Monk, Anita O’Day u. a. Blue Ray. Rapid Eye Movies.
Sonja Zekri
EIN LIEBESBEWEIS
Kohl gilt als unansehnlich, schwer verdaulich und oh so yesterday. Zu Unrecht! Angelika Overaths „Krautwelten“ eröffnen ein Reich der Sinne mit kosmopolitischem Wirsing und freundlichem Brokkoli, antiken Krautfreunden (Cato) und vergessenen Berufen (Kohlschneider). Overath legt sogar das feministische Potenzial von Kohl offen. Aktueller, politischer war selten ein Gemüse. Angelika Overath: Krautwelten, Insel Verlag. 117 Seiten, 15 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Die letzten Kriegstage bei Leipzig. Ein Mann, der Erzähler, hat sich auf eine Insel gerettet. Bitter schaut er auf sein leeres Haus am anderen Ufer. Dort lebte er mit seiner Familie. Wurde sie entführt? War es die Rache des hinkenden Dorflehrers? Viel hat der Mann nicht mitgenommen, ein paar Konserven, Akten und das Medikament Luminal, von dem er sich bald ausschließlich ernährt. Warum klagt er, dass der Krieg „widernatürlich selektiert“? Und welche Beziehung hatte er zu einem kleinen Mädchen namens Luise? Seite um Seite versinkt der Erzähler tiefer im Schlamm, Seite um Seite führt tiefer in den Abgrund deutscher Geschichte. Francis Nenik, der diesen Namen als Pseudonym benutzt, hat ein Buch geschrieben, das man nicht mehr loswird. Meisterhaft, verstörend.
Francis Nenik: E. oder die Insel. Verlag Voland & Quist. 290 Seiten, 24 Euro.
Miryam Schellbach
EINE HERAUSFORDERUNG
Gedichtanfänge wie diese müssen mindestens 20 Mal gelesen werden, bevor es klickt: „Auf den erfragten Fersen / im düsteren Seitengraben / den Mund überantworten“. Dass „Ferse“ und „Verse“ Homophone, aber keine semantischen Verwandten sind, ist ein linguistischer Fakt. Was es aber bedeuten kann, sich so tief in den Bergbau der Semantik zu graben, dass aus dem homophonen Ersetzungsspiel ein Sinn entsteht, den nur die lyrische Feinschliff-Sprache bergen kann, das bezeugt Leo Pinke mit seinem starken dichterischen Debüt „Schräg am Federbug“. Die Referenzen werden gleich mitgeliefert, denn Pinke stellt, unüblich für die Lyrik, vielen seiner Gedichte Prosaminiaturen, etwa von Walter Benjamin, oder Briefe, zum Beispiel von Kafka, voran.
Leo Pinke: Schräg am Federbug. Matthes & Seitz. 140 Seiten, 18 Euro.
EINE HILFE
Es ist ein alter Hut, dass technischer Fortschritt auch an der Kunst nicht spurlos vorüberzieht. Kolja Reichert, Kurator an der Kunsthalle Bonn, beschreibt und entschlüsselt das vielleicht größte Mysterium der Gegenwart, die Krypto-Kunst. Weil dieses Mysterium, das sich sehr kurz damit zusammenfassen lässt, dass sehr viele Leute online für sehr viel Geld Kunstwerke kaufen, die ihnen dann nicht materiell, sondern nur qua zertifiziertem Beschluss gehören, noch sehr jung ist, sieht er in seinem Buch einem neuen Hype beim Entstehen zu. Kolja Reichert: Krypto-Kunst. Wagenbach. 80 Seiten, 10 Euro.
Jens-Christian Rabe
EINE HILFE
Warmer Siebziger-Softrock irgendwo zwischen Lou Reed, Steely Dan, Stevie Wonder. Funky zurückgelehnt. Und dann auch noch solche Zeilen: „It’s just the melting of the sun / I wanna watch you watch it burn.“ Wiegenlieder für den Weltuntergang. Schlauer, genauer und lässiger als Annie Clark alias St. Vincent kann man die Tragik unserer taumelnden Popmoderne nicht in Musik gießen. St. Vincent: Daddy’s Home. Caroline (Universal).
EIN GROSSER SPASS
Die Essays des Jahres darüber, was die irre Inszenierung, die wir Gegenwart nennen, mit uns selbst zu tun hat.
Jia Tolentino: Trick Mirror. Über das inszenierte Ich. Fischer. 368 S., 22 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Aufgewühlte Zeiten brauchen nicht nur eine bessere Bürokratie und Verwaltung, sie brauchen auch eine bessere, also vor allem weniger triviale Kritik an Bürokratie und Verwaltung. Noch immer lässt sich dafür von niemandem so viel lernen wie von Niklas Luhmann.
Niklas Luhmann: Die Grenzen der Verwaltung. Suhrkamp. 254 S., 28 Euro.
EIN AUFREGER
Schwungvoll, aber immer nachdenklich und selbstkritisch versucht sich der linke griechische Ökonom Giorgos Kallis an einer Antwort auf die Frage unserer Zeit: „Wie kann sich eine Gesellschaft im Namen des guten Lebens einschränken?“ Giorgos Kallis: Grenzen. Matthes & Seitz, 171 S., 20 Euro.
Gustav Seibt
EIN GROSSER SPASS
Gabriel Yoran, lustiger Zeitgenosse auf Twitter, erfreut seine Follower regelmäßig mit erfundenen Synonymen: „Warum heißt es Hantel und nicht Pumpernickel?“ „Warum heißt es Erkenntnisproblem und nicht Feststellbremse?“ Ein Spiel mit der Willkür sprachlicher Zeichen, mit ihrer Offenheit, das jeder fortsetzen kann. Nun auch als Buch mit Bildern. Gabriel Yoran, Christoph Rauscher: Warum heißt es Traum und nicht Memoryschaum. Frohmann Kleine Formen. 130 Seiten, 20 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
„So war’s eben“ lautet der Titel eines bislang ungedruckten, 600 Seiten dicken Romans von Gabriele Tergit, der großen Erzählerin von Berlin im 20. Jahrhundert. Der Titel setzt den Ton: deutsch-jüdische Familiengeschichten über drei Generationen seit 1890, mit kalter Präzision, unerbittlicher Feststellungskraft, ein eiliger Film. Man kann nicht aufhören zu lesen.
Gabriele Tergit: So war’s eben. Schöffling Verlag. 618 Seiten, 28 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Die langen Winterabende gibt es ja eigentlich nicht mehr. Man muss sie sich nehmen. Man sollte es tun für die mehr als 200 deutschen Jahrhundertstimmen, die der Historiker Ulrich Herbert (und andere) gesammelt und erläutert hat. Politiker, Philosophen, Künstler – alle überwältigen uns mit Präsenz. Ulrich Herbert, Michael Krüger u. a.: Jahrhundertstimmen 1900–1945. Hörverlag.
Peter Richter
EINE HERAUSFORDERUNG
„More Than I Can Chew“ heißt eines der Stücke. Das beschreibt auch das Doppelalbum: Mastodon geben mit „Hushed And Grim“ wirklich etwas zu Kauen, und das ist so reich, das reicht so weit, von Protometal bis Progressive Rock, von Blues bis zur Ballade, von Grübelhöllen bis in die heiligen Himmel der Sinnsucher, dass man noch lange damit zu tun haben wird. Die Zwanzigerjahre wären gerettet. Mastodon: Hushed And Grim. Reprise Records.
EIN LIEBESBEWEIS
Der Urgroßvater hatte, wo eben noch Feld war, ein kleines Stadtviertel aus dem Boden gestampft, mit Postamt und Kirche. Fabriken wuchsen, Kaiserreich, Weimar, Nazis und DDR gingen darüber, dann wurde die Familie vertrieben, der Enkel kam wieder – und hat jetzt ein erstaunliches Buch darüber geschrieben: Martin Wiebels „Berlin Upper East Side – eine Friedrichshain-Biografie“ erzählt Stadt- als Familiengeschichte und umgekehrt. Sutton Verlag. 344 Seiten, 19,99 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Diese Sammlung von Erzählungen des Drehbuchautors Wolfgang Kohlhaase erschien wohl zuerst in der DDR, war aber schnell vergriffen. Wer ihnen daher zuerst in dieser Neuauflage begegnet, wird a) sein Glück kaum fassen können, und b) nicht mehr für möglich halten, ohne dieses Buch ausgekommen zu sein. Wolfgang Kohlhaase: Erfindung einer Sprache und andere Erzählungen. Wagenbach. 192 Seiten, 18 Euro.
Alexander Gorkow
EINE LIEBESERKLÄRUNG
Nicht nur der Romantiker, vor allem der Modernist Frédéric Chopin erstrahlt in dieser grandiosen Vinyl-Kompilation von Martha Argerich. Ihren 80. Geburtstag feiert die Deutsche Grammophon mit einer Auswahl ihrer Solo- und Konzertaufnahmen Chopins aus 40 Jahren. Allein die beiden Klavierkonzerte hört man sonst nur von Arthur Rubinstein und Daniil Trifonov in solcher Klarheit, aber mit diesem Temperament, dieser Wucht?
Frédéric Chopin, Martha Argerich, Solo & Concerto Recordings. 5 LPs. Deutsche Grammophon.
EINE HERAUSFORDERUNG
Der Historiker Malinowski ist detailversessen – und ein brillanter Erzähler. Seine Geschichte der HohenzollernKollaboration mit den Nazis ist das Sachbuch des Jahres, es erhellt die Parteinahme des Kronprinzen und die Preußen-Premium-Mischung aus Größenwahn, Faschismusbegeisterung und Selbstmitleid. Enthält Grauen wie Hochkomik. Nimmt zum zweiten Mal richtig Fahrt auf ab 1945 und ist topaktuell. Binge-Reading-Alarm! Stephan Malinowski: Die Hohenzollern und die Nazis. Propyläen. 752 Seiten, 35 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Kafka war auch beim Zeichnen unbestechlich. Seine Aquarelle und Skizzen sind wie seine Texte: klarsichtig, verbogen, bitterschön und oft sehr komisch. Ein Schatz. Andreas Kilcher (Hrsg.): Franz Kafka. Die Zeichnungen. C. H. Beck. 366 Seiten, 45 Euro.
Tobias Kniebe
EINE HERAUSFORDERUNG
Die französische Regisseurin Julia Ducournau hat dieses Jahr beim Cannes-Festival gewonnen, mit ihrem posthumanen Verwandlungsspektakel „Titane“. Fast noch packender ist aber ihr wenig bekannter erster Spielfilm „Raw/Grave“. Er folgt der scheuen Studentin Justine zum Studium der Tiermedizin, wo sie mit ihrer rabiaten Schwester, rauen Wohnheim-Ritualen, Hunde-
Autopsien und wild aufkeimenden
Gelüsten klarkommen muss. Als sich diese auf rohes Fleisch ausweiten, in toter und sogar lebendiger Form, ist niemand mehr geschockt als die überzeugte Vegetarierin … Steht quer zu allen aktuellen Befindlichkeiten und beweist dennoch eindrucksvoll, dass die Zukunft weiblich ist.
Julia Ducournau: Raw/Grave. Auf Import-Bluray und VoD.
EIN GROSSER SPASS
Wann immer die Stimme von Isabelle Geffroy alias Zaz erklingt, beginnt die Seele zu schwingen, das ist bei ihrem neuen Album „Isa“ nicht anders. Wenn dann aber bei einem Song überraschend eine dunkle Männerstimme mitsingt und die sich als Till Lindemann entpuppt, ist der Effekt wirklich erstaunlich. Und schon kann man herrlich rätseln, wie es wohl zu dieser deutsch-französischen Mésalliance kam, die im „jardin des larmes“, dem kleinen Reich der Tränen, spielt.
Zaz: Isa. Warner Music International.
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