Produktdetails
- Verlag: Penguin Books Ltd
- Seitenzahl: 352
- Abmessung: 166mm x 241mm x 35mm
- Gewicht: 570g
- ISBN-13: 9780241295953
- Artikelnr.: 59982282
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.05.2021Alle machen das so
In seinem fabelhaft souveränen Alterswerk „Trio“ erzählt der britische Romancier William Boyd von Glamour, Kunst und Selbstbetrug
Gefragt, was den Politikerberuf so schwierig mache, antwortete der englische Premier Clement Atlee seufzend: „Ereignisse“. Ähnliches könnte Angela Merkel über ihre gesamten 16 Regierungsjahre sagen: eine Krise nach der anderen, und keine war voraussehbar. Talbot Kydd muss in William Boyds Roman „Trio“ immerhin kein Land führen, sondern nur einen Film produzieren, aber das Unternehmen stellt sich ähnlich schwierig dar.
„Ereignisse“ gibt es genug: Filmmaterial wird gestohlen. Geldgeber verlangen einen Song für den Hauptdarsteller. Eine neue Drehbuchautorin verändert das Skript. Ein Has-been drängt sich in eine Nebenrolle. Ein amerikanischer Bombenleger taucht auf und seine Verfolger vom FBI. Und schließlich verschwindet Anny Viklund, der junge Star. Talbot umschifft jede Klippe, der Film – offenbar ein Machwerk ohne Kunstanspruch, dafür steht schon der Titel „Emily Bracegirdles außerordentlich hilfreiche Leiter zum Mond“ – wird fertig und sogar zur Berlinale eingeladen. Dass der Krisenmanager, immer freundlich und kompromissbereit, ein kompliziertes Innenleben hat, bleibt der Filmcrew, aber auch Freunden und seiner Frau verborgen. Talbot versteckt seine Homosexualität und fasst erst gegen Ende des Romans zaghaft ins Auge, seine Neigung zu leben. Wir Leser haben längst begriffen, wie es um ihn steht, schon als Talbot auf den ersten Seiten von einem schönen nackten Mann träumt. Überhaupt lässt uns William Boyd in erlebter Rede tief in die Köpfe der drei Hauptfiguren blicken – das titelgebende Trio komplettiert neben Talbot und Anny die Schriftstellerin Elfrida Wing. Tief heißt: unter deren eigene Bewusstseinsschwelle.
Während Talbot traumwandlerisch Hindernisse umkurvt, türmen sie sich vor den beiden Frauen zu unüberwindlichen Bergen auf. Anny, das „kleine Mädchen aus Minnesota“, das sie in ihrem Innern noch ist, verkraftet das Filmbusiness nicht, betäubt sich mit zwei Liebhabern und Unmengen an Beruhigungs-, Aufputsch- und Schlafmitteln. Elfridas Droge der Wahl ist flüssig; ihre Wodka-Ration bunkert und versteckt sie in „Sarson’s Weißweinessig“-Flaschen. Nach spektakulärem Start leidet sie unter einer Schreibblockade, verursacht durch das Etikett „die neue Virginia Woolf“, das ihr einfallslose Kritiker anheften. Dabei findet sie Woolfs Bücher „schrullig und überspannt“.
Fassade und heimliches Leben, Kunst und die materiellen und psychischen Bedingungen ihrer Produktion, Betrug und Selbstbetrug: Das sind die Themen des 16. Romans von William Boyd, einem der vielseitigsten Autoren Großbritanniens, der von der fiktiven Künstlerbiografie („Nat Tate“) bis zum Spionagethriller („Ruhelos“) die Möglichkeiten der verschiedenen Genres virtuos ausgereizt hat. Im Filmgeschäft kennt er sich als Drehbuchautor aus, und das Romanhandwerk beherrscht er sowieso: Günstige Voraussetzungen für ein Buch, das man erst atemlos wie einen Schmöker verschlingt – um dann über seine psychologische Weisheit und die künstlerische Raffinesse zu staunen.
Das Lebensgestolper der drei Figuren ordnet sich in der Vogelschau des Roman-Organisators zum kunstvollen Puzzle aus Motiven und Verweisen, Spiegelfiguren, Doppelungen, Symbolen und „mises en abymes“. Mit dem geklauten Filmmaterial wird parallel eine Porno-Variante der „Leiter zum Mond“ gedreht („alle machen das so“). Die Aufwachszene des Beginns kehrt in den immer neuen Romananfängen wieder, mit denen Elfrida ihre Virginia-Woolf-Obsession endlich bannen will. Richard Harris’ Song „MacArthur Park“, der Sommerhit des Jahres 1968, plagt Talbot als Ohrwurm – gibt ihm aber auch eine schöne Metapher dafür ein, wie er seinen ungetreuen Geschäftspartner letztlich doch austricksen könnte. So entdecken aufmerksame Leser eine Konstruktionsraffinesse nach der anderen.
Ein Sommerhit von 1968 – ja, der Roman spielt in der Tat in jenem Jahr, da in Paris Barrikaden brannten, Martin Luther King ermordet und die Tschechoslowakei besetzt wurde. Die Dreharbeiten im südenglischen Brighton berührt das nicht. Das ist kein Einwand gegen den Roman, sondern ein Statement: Was wir rückblickend als prägend ansehen, wurde seinerzeit anders erlebt. „Trio“ ist nicht Vintage, sondern eine kluge, leichte Reflexion über Innen- und Außenwahrnehmung, Ignoranz und Selbsterkenntnis. Talbot, sagt der ertappte Pornoproduzent, sei „blind vor lauter Privilegien“ und wisse nichts über das „wirkliche Leben“. Was man vielleicht sogar als gezielten Verweis Boyds auf das aktuelle „Alte weiße Männer“-Lamento lesen kann. Das wirkliche Leben, lesen wir später, ahmt die Kunst nach – und diese wiederum das Leben. In „Trio“ hat William Boyd aus dem Hin und Her von beiden ein formidables literarisches Altmeisterstück geschaffen.
MARTIN EBEL
Es ist 1968, das Jahr der
Revolution, aber die Dreharbeiten
in Brighton berührt das nicht
William Boyd: Trio.
Roman. Aus dem
Englischen von Patricia Klobosiczky und Ulrike Tiesmeyer. Kampa,
Zürich 2021.
424 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In seinem fabelhaft souveränen Alterswerk „Trio“ erzählt der britische Romancier William Boyd von Glamour, Kunst und Selbstbetrug
Gefragt, was den Politikerberuf so schwierig mache, antwortete der englische Premier Clement Atlee seufzend: „Ereignisse“. Ähnliches könnte Angela Merkel über ihre gesamten 16 Regierungsjahre sagen: eine Krise nach der anderen, und keine war voraussehbar. Talbot Kydd muss in William Boyds Roman „Trio“ immerhin kein Land führen, sondern nur einen Film produzieren, aber das Unternehmen stellt sich ähnlich schwierig dar.
„Ereignisse“ gibt es genug: Filmmaterial wird gestohlen. Geldgeber verlangen einen Song für den Hauptdarsteller. Eine neue Drehbuchautorin verändert das Skript. Ein Has-been drängt sich in eine Nebenrolle. Ein amerikanischer Bombenleger taucht auf und seine Verfolger vom FBI. Und schließlich verschwindet Anny Viklund, der junge Star. Talbot umschifft jede Klippe, der Film – offenbar ein Machwerk ohne Kunstanspruch, dafür steht schon der Titel „Emily Bracegirdles außerordentlich hilfreiche Leiter zum Mond“ – wird fertig und sogar zur Berlinale eingeladen. Dass der Krisenmanager, immer freundlich und kompromissbereit, ein kompliziertes Innenleben hat, bleibt der Filmcrew, aber auch Freunden und seiner Frau verborgen. Talbot versteckt seine Homosexualität und fasst erst gegen Ende des Romans zaghaft ins Auge, seine Neigung zu leben. Wir Leser haben längst begriffen, wie es um ihn steht, schon als Talbot auf den ersten Seiten von einem schönen nackten Mann träumt. Überhaupt lässt uns William Boyd in erlebter Rede tief in die Köpfe der drei Hauptfiguren blicken – das titelgebende Trio komplettiert neben Talbot und Anny die Schriftstellerin Elfrida Wing. Tief heißt: unter deren eigene Bewusstseinsschwelle.
Während Talbot traumwandlerisch Hindernisse umkurvt, türmen sie sich vor den beiden Frauen zu unüberwindlichen Bergen auf. Anny, das „kleine Mädchen aus Minnesota“, das sie in ihrem Innern noch ist, verkraftet das Filmbusiness nicht, betäubt sich mit zwei Liebhabern und Unmengen an Beruhigungs-, Aufputsch- und Schlafmitteln. Elfridas Droge der Wahl ist flüssig; ihre Wodka-Ration bunkert und versteckt sie in „Sarson’s Weißweinessig“-Flaschen. Nach spektakulärem Start leidet sie unter einer Schreibblockade, verursacht durch das Etikett „die neue Virginia Woolf“, das ihr einfallslose Kritiker anheften. Dabei findet sie Woolfs Bücher „schrullig und überspannt“.
Fassade und heimliches Leben, Kunst und die materiellen und psychischen Bedingungen ihrer Produktion, Betrug und Selbstbetrug: Das sind die Themen des 16. Romans von William Boyd, einem der vielseitigsten Autoren Großbritanniens, der von der fiktiven Künstlerbiografie („Nat Tate“) bis zum Spionagethriller („Ruhelos“) die Möglichkeiten der verschiedenen Genres virtuos ausgereizt hat. Im Filmgeschäft kennt er sich als Drehbuchautor aus, und das Romanhandwerk beherrscht er sowieso: Günstige Voraussetzungen für ein Buch, das man erst atemlos wie einen Schmöker verschlingt – um dann über seine psychologische Weisheit und die künstlerische Raffinesse zu staunen.
Das Lebensgestolper der drei Figuren ordnet sich in der Vogelschau des Roman-Organisators zum kunstvollen Puzzle aus Motiven und Verweisen, Spiegelfiguren, Doppelungen, Symbolen und „mises en abymes“. Mit dem geklauten Filmmaterial wird parallel eine Porno-Variante der „Leiter zum Mond“ gedreht („alle machen das so“). Die Aufwachszene des Beginns kehrt in den immer neuen Romananfängen wieder, mit denen Elfrida ihre Virginia-Woolf-Obsession endlich bannen will. Richard Harris’ Song „MacArthur Park“, der Sommerhit des Jahres 1968, plagt Talbot als Ohrwurm – gibt ihm aber auch eine schöne Metapher dafür ein, wie er seinen ungetreuen Geschäftspartner letztlich doch austricksen könnte. So entdecken aufmerksame Leser eine Konstruktionsraffinesse nach der anderen.
Ein Sommerhit von 1968 – ja, der Roman spielt in der Tat in jenem Jahr, da in Paris Barrikaden brannten, Martin Luther King ermordet und die Tschechoslowakei besetzt wurde. Die Dreharbeiten im südenglischen Brighton berührt das nicht. Das ist kein Einwand gegen den Roman, sondern ein Statement: Was wir rückblickend als prägend ansehen, wurde seinerzeit anders erlebt. „Trio“ ist nicht Vintage, sondern eine kluge, leichte Reflexion über Innen- und Außenwahrnehmung, Ignoranz und Selbsterkenntnis. Talbot, sagt der ertappte Pornoproduzent, sei „blind vor lauter Privilegien“ und wisse nichts über das „wirkliche Leben“. Was man vielleicht sogar als gezielten Verweis Boyds auf das aktuelle „Alte weiße Männer“-Lamento lesen kann. Das wirkliche Leben, lesen wir später, ahmt die Kunst nach – und diese wiederum das Leben. In „Trio“ hat William Boyd aus dem Hin und Her von beiden ein formidables literarisches Altmeisterstück geschaffen.
MARTIN EBEL
Es ist 1968, das Jahr der
Revolution, aber die Dreharbeiten
in Brighton berührt das nicht
William Boyd: Trio.
Roman. Aus dem
Englischen von Patricia Klobosiczky und Ulrike Tiesmeyer. Kampa,
Zürich 2021.
424 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
Dieselbe Frage, die in William Boyds Roman die scheiternde Schriftstellerin Elfrida Wing 1968 von ihrem Literaturagenten als Reaktion auf ein Manuskript über Virginia Woolfs letzten Lebtag zu hören bekommt - Warum soll das heute noch interessant sein, wo die Welt in Flammen steht? - könnte man auch an Boyds Roman selbst richten, meint Rezensent Richard Kämmerlings. Im Rahmen eines Filmdrehs in Brighton erzählt er von drei privilegierten Künstlern und ihren Lebensdramen: die alkoholkranke Elfrida mit gescheiterter Ehe, die fragile Anny Viklund, amerikanischer Filmstar mit linksradikalem Ex-Mann, und der heimlich homosexuelle Filmproduzent Talbot Kydd. Dessen unbeholfenes Coming-Out ist für den Rezensenten die "berührendste" Geschichte innerhalb der "satirisch zugespitzten" und an cineastischen Referenzen angereicherten Rahmenhandlung des Filmdrehs. Interessant seien solche Geschichten eben auch heute noch, so Kämmerling unter Bezug auf eine Romanstelle, um den Geheimnissen auf die Spur zu kommen, die sich hinter den Masken der Menschen verbergen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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