Zwei Menschen, die sich in ihrer heimischen Inselgemeinschaft nicht zu Hause fühlen: Der Fischer Lars lässt Frau und Sohn auf Tristan da Cunha zurück, weil er sich in England neu verliebt hat. Und auch Martha, die Insellehrerin, träumt von einem Schiff, das sie mitnimmt. Sie musste erfahren, dass sie nicht allen Insulanern vertrauen und überdies mit ihrem Mann kein Kind bekommen kann. Und dann, eines Tages, bricht auf Tristan der Vulkan aus. Alle Bewohner müssen fliehen. Nur Jon, Lars' Sohn und Marthas Schüler, wird plötzlich vermisst, und Lars und Martha erkennen, dass ihre Schicksale untrennbar mit der Insel verbunden sind.In poetischer, bildmächtiger Sprache erzählt Marianna Kurtto eine universell menschliche Geschichte voll spannungsreicher Wendungen - mit Figuren, die uns nahe sind in ihren Irrungen und Wirrungen und in ihrer Sehnsucht nach der wirklichen Heimat.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.12.2022Warum nimmt nichts die Sehnsucht?
In Marianna Kurttos melancholischem Roman "Tristania" verlässt ein Mann seine Familie - aber auch die entlegenste bewohnte Insel der Welt
Neunzehn Jahre ist es her, seit Raoul Schrott aus der Perspektive einer Wissenschaftlerin, eines Pfarrers, eines Funkers und eines Briefmarkensammlers von einer Vulkaninsel im Atlantik erzählte, und man konnte schon damals, in diesem herrlich redseligen Wälzer, kaum glauben, dass es einen derart abseitigen und doch besiedelten Ort wie Tristan da Cunha tatsächlich gibt. Die karge Insel, die lange nur Walfängern bekannt war, liegt 4100 Kilometer östlich von Buenos Aires, 2800 Kilometer westlich von Kapstadt, sie gehört seit 1816 zu Großbritannien, und sie hat auch andere Dichter schwer fasziniert.
Manche von ihnen schrieben ganze Romane über das Eiland wie Johann Gottfried Schnabel, der sich von Tristan da Cunha wohl zu seiner utopischen Geschichte "Insel Felsenburg" inspirieren ließ. Andere streiften es nur, nutzten das unvorstellbar weltferne Tristan, so schrieb es der Literaturwissenschaftler Karl Guthke in einer thematischen Zusammenschau, eher als "Zauberwort".
In "Tristania", dem Debütroman der finnischen Dichterin Marianna Kurtto, wird die Insel zur Kulisse eines Ehedramas, das genauso gut in einer europäischen Reihenhaussiedlung hätte spielen können, nun aber durch die Entlegenheit des Schauplatzes, die Kargheit seiner Landschaft und den Vulkanausbruch vom 12. Oktober 1961 - der vorübergehend zur Evakuierung der Bevölkerung nach Kapstadt führte - ins Tagtraumhafte, ja Poetische gezogen wird.
Die Figuren der Handlung sind anfangs schwer zu erkennen. Kurtto hat die Story zersplittert, sie lässt bewusst vieles aus, deutet manches nur an, und der Blickwinkel wechselt von Abschnitt zu Abschnitt. Wir begegnen Jon, einem melancholischen Knaben, der seinen Vater vermisst und seine Mutter "um Verzeihung bitten" möchte, "dafür dass ich immer derselbe bin", besagter Mutter, die Lisa heißt und bei einem Spaziergang zu den Schafen darüber nachdenkt, dass sich "etwas verschoben" hat, der Lehrerin Martha, die ebenso kinderlos wie depressiv mit ihrem Mann im Nachbarhaus lebt.
Und neben weiteren Inselbewohnern begegnen wir vor allem Lars, dem vermissten Vater. Er erwacht eines Tages in London, eine sechswöchige Seereise von seiner Familie entfernt, neben ihm eine lebensfrohe Blumenhändlerin voller Sommersprossen, um ihn eine Stadt, in der sie "Fisch mögen, der zum Zwieback gebraten wird", und viele andere Gewohnheiten haben, die ihm fremd sind. Die Eltern seiner Geliebten essen "mit blinkenden Gabeln" und legen Wert darauf, "wie man eine Kaffeetasse hebt". Auf Tristan wird "das Bier aus Blechtassen mit oxidierten Henkeln" getrunken.
So wird das Leben in der Fremde bei allen Vorzügen, die eine anonyme Großstadt im Vergleich zu einer 250 Seelen umfassenden Inselgesellschaft hat, immer stärker zu einer Erinnerung an das, was er verließ, und "Tristania" zu einem Buch über Sehnsüchte, Treue und Untreue und Verantwortung und Schuld. Bis der Vulkan als äußerer Ausdruck der inneren Anspannung, die viele Bewohner der Insel beherrscht und lähmt, einfach ausbrechen muss und sich alles noch mal neu sortieren darf.
Gewöhnungsbedürftig ist die von Stefan Moster ins Deutsche übertragene bildhafte Sprache von Marianna Kurtto. Sie ist voller Stolperfallen ("Dann schaut Martha aufs Meer, dessen Diamanten sich getrübt haben") und schrammt manchmal haarscharf am Kitsch entlang. Die Lehrerin Martha kann vom Ufer aus den Walen im Atlantik zuhören: "Sie unterhalten sich über das Wetter. Sie wählen ihre Partner aus, und wenn die Wahl getroffen ist, gilt sie für das ganze Leben." Yvonne in London verstreut auch mal Blumen auf den Bänken im Park, oder sie will "auf der Haut die harten Schläge des Regens spüren". Im Meer versinkt ein Schiff "mit einem kompletten Zirkus an Bord". Am Himmel "pulsieren" die Sterne "wie aus Licht geschnitzte Medusen".
Aber vielleicht gehört sich das einfach so, wenn eine Autorin, die vorher fünf Gedichtbände schrieb, ihren ersten Roman verfasst. 2019 jedenfalls war Marianna Kurttos stiller Roman "Tristania" - der keineswegs nur melancholisch-verträumte, sondern auch heftigere Passagen hat - einer der beiden finnischen Vorschläge für den renommierten Literaturpreis des Nordischen Rates.
Auf der offiziellen Homepage von Tristan ist unterdessen zu lesen, dass die einzige Siedlung der Insel, Edinburgh of the Seven Seas, aktuell 238 Bewohner mit neun unterschiedlichen Nachnamen habe. MATTHIAS HANNEMANN
Marianna Kurtto: "Tristania". Roman.
Aus dem Finnischen von Stefan Moster. Mare Verlag, Hamburg 2022. 304 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In Marianna Kurttos melancholischem Roman "Tristania" verlässt ein Mann seine Familie - aber auch die entlegenste bewohnte Insel der Welt
Neunzehn Jahre ist es her, seit Raoul Schrott aus der Perspektive einer Wissenschaftlerin, eines Pfarrers, eines Funkers und eines Briefmarkensammlers von einer Vulkaninsel im Atlantik erzählte, und man konnte schon damals, in diesem herrlich redseligen Wälzer, kaum glauben, dass es einen derart abseitigen und doch besiedelten Ort wie Tristan da Cunha tatsächlich gibt. Die karge Insel, die lange nur Walfängern bekannt war, liegt 4100 Kilometer östlich von Buenos Aires, 2800 Kilometer westlich von Kapstadt, sie gehört seit 1816 zu Großbritannien, und sie hat auch andere Dichter schwer fasziniert.
Manche von ihnen schrieben ganze Romane über das Eiland wie Johann Gottfried Schnabel, der sich von Tristan da Cunha wohl zu seiner utopischen Geschichte "Insel Felsenburg" inspirieren ließ. Andere streiften es nur, nutzten das unvorstellbar weltferne Tristan, so schrieb es der Literaturwissenschaftler Karl Guthke in einer thematischen Zusammenschau, eher als "Zauberwort".
In "Tristania", dem Debütroman der finnischen Dichterin Marianna Kurtto, wird die Insel zur Kulisse eines Ehedramas, das genauso gut in einer europäischen Reihenhaussiedlung hätte spielen können, nun aber durch die Entlegenheit des Schauplatzes, die Kargheit seiner Landschaft und den Vulkanausbruch vom 12. Oktober 1961 - der vorübergehend zur Evakuierung der Bevölkerung nach Kapstadt führte - ins Tagtraumhafte, ja Poetische gezogen wird.
Die Figuren der Handlung sind anfangs schwer zu erkennen. Kurtto hat die Story zersplittert, sie lässt bewusst vieles aus, deutet manches nur an, und der Blickwinkel wechselt von Abschnitt zu Abschnitt. Wir begegnen Jon, einem melancholischen Knaben, der seinen Vater vermisst und seine Mutter "um Verzeihung bitten" möchte, "dafür dass ich immer derselbe bin", besagter Mutter, die Lisa heißt und bei einem Spaziergang zu den Schafen darüber nachdenkt, dass sich "etwas verschoben" hat, der Lehrerin Martha, die ebenso kinderlos wie depressiv mit ihrem Mann im Nachbarhaus lebt.
Und neben weiteren Inselbewohnern begegnen wir vor allem Lars, dem vermissten Vater. Er erwacht eines Tages in London, eine sechswöchige Seereise von seiner Familie entfernt, neben ihm eine lebensfrohe Blumenhändlerin voller Sommersprossen, um ihn eine Stadt, in der sie "Fisch mögen, der zum Zwieback gebraten wird", und viele andere Gewohnheiten haben, die ihm fremd sind. Die Eltern seiner Geliebten essen "mit blinkenden Gabeln" und legen Wert darauf, "wie man eine Kaffeetasse hebt". Auf Tristan wird "das Bier aus Blechtassen mit oxidierten Henkeln" getrunken.
So wird das Leben in der Fremde bei allen Vorzügen, die eine anonyme Großstadt im Vergleich zu einer 250 Seelen umfassenden Inselgesellschaft hat, immer stärker zu einer Erinnerung an das, was er verließ, und "Tristania" zu einem Buch über Sehnsüchte, Treue und Untreue und Verantwortung und Schuld. Bis der Vulkan als äußerer Ausdruck der inneren Anspannung, die viele Bewohner der Insel beherrscht und lähmt, einfach ausbrechen muss und sich alles noch mal neu sortieren darf.
Gewöhnungsbedürftig ist die von Stefan Moster ins Deutsche übertragene bildhafte Sprache von Marianna Kurtto. Sie ist voller Stolperfallen ("Dann schaut Martha aufs Meer, dessen Diamanten sich getrübt haben") und schrammt manchmal haarscharf am Kitsch entlang. Die Lehrerin Martha kann vom Ufer aus den Walen im Atlantik zuhören: "Sie unterhalten sich über das Wetter. Sie wählen ihre Partner aus, und wenn die Wahl getroffen ist, gilt sie für das ganze Leben." Yvonne in London verstreut auch mal Blumen auf den Bänken im Park, oder sie will "auf der Haut die harten Schläge des Regens spüren". Im Meer versinkt ein Schiff "mit einem kompletten Zirkus an Bord". Am Himmel "pulsieren" die Sterne "wie aus Licht geschnitzte Medusen".
Aber vielleicht gehört sich das einfach so, wenn eine Autorin, die vorher fünf Gedichtbände schrieb, ihren ersten Roman verfasst. 2019 jedenfalls war Marianna Kurttos stiller Roman "Tristania" - der keineswegs nur melancholisch-verträumte, sondern auch heftigere Passagen hat - einer der beiden finnischen Vorschläge für den renommierten Literaturpreis des Nordischen Rates.
Auf der offiziellen Homepage von Tristan ist unterdessen zu lesen, dass die einzige Siedlung der Insel, Edinburgh of the Seven Seas, aktuell 238 Bewohner mit neun unterschiedlichen Nachnamen habe. MATTHIAS HANNEMANN
Marianna Kurtto: "Tristania". Roman.
Aus dem Finnischen von Stefan Moster. Mare Verlag, Hamburg 2022. 304 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Johann Gottfried Schnabel schrieb über die Insel Tristan da Cunha im Atlantik, ihm folgten zahlreiche Schriftsteller, zuletzt etwa Raoul Schrott. Nun siedelt die finnische Dichterin Marianna Kurtto ihren Debütroman dort an und Rezensent Matthias Hannemann lässt sich in den Bann ziehen von dem "Tagtraumhaften, Poetischen" der Kulisse. Zunächst hat der Kritiker einige Probleme, die verschiedenen Figuren in der oft nur angedeuteten Handlung zu erfassen. Bald aber erkennt er: Hier spielt sich ein Ehedrama ab, Vater Lars ist an der Seite einer Blumenhändlerin nach London verschwunden, Sohn Jon verfällt der Melancholie, Lehrerin Martha der Depression. Schließlich bricht ein Vulkan aus und alles wird noch einmal auf null gesetzt. Tristania ist ein Roman über Schuld, Treue und Sehnsüchte, erläutert Hannemann, der zwar gelegentlich über schiefe Bilder stolpert. Die deftigen Passagen im Roman sorgen aber für den Ausgleich, versichert der Kritiker.
© Perlentaucher Medien GmbH
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