Ein Haus auf dem Land, irgendwo in der Toskana, im letzten Jahr des 20. Jahrhunderts. Am Ende seines Lebens holt Tristano einen Schriftsteller an sein Krankenbett, ihm will er seine Geschichte erzählen. Beim Versuch, die Widersprüchlichkeit seines Lebens in den Rahmen einer Erzählung zu fassen, mischt der alte Mann Figuren aus Romanen, Zitate aus Liedern und Szenen aus alten Filmen in seine Erinnerung. So entsteht ein facettenreiches Bild Italiens von der Zeit der Partisanenkämpfe bis in die jüngste Vergangenheit.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.11.2005Wahre Freiheit ist es, erdacht zu werden
Zwischen Heiterkeit und Raserei: Antonio Tabucchi untersucht den Tod als poetische Inspiration
Dasein und Zeitvergehen", "Sich fremd werden", "Der Blick der Anderen", "Die Welt nicht mehr verstehen", "Mit dem Sterben leben" - das sind die Kapitel von Jean Amérys Buch "Über das Alter. Revolte und Resignation", eine existentialistische Analyse des Bewußtseins im Angesicht des Todes. Antonio Tabucchis sterbender Tristano scheint die poetische Inkarnation all dieser auf Kants Transzendentalphilosophie basierenden Beobachtungen Amérys zu sein. Die Nähe des italienischen Schriftstellers und Übersetzers zum deutschen Existentialismus ist in seinem Werk schon häufiger bemerkt worden; die existentielle Situation des Sterbens, für die er die Figur des Tristano erfindet, gibt ihm Gelegenheit, schier wörtlich die von Améry beschriebenen Erfahrungen zu wiederholen.
"Der Blick des Anderen" sei, so der deutsche Philosoph, die einzige Chance, das Sterben dem Delirium zu entreißen und es zu einer sozialen Realität zu machen: "Das Ereignis meines Sterbens, die Tatsache meines Todes, die trotz aller logischen Problematik mich mehr angeht als alle anderen und alles andere, ist faßbar nur für die Überlebenden und nur von ihnen dem Gang der Dinge einzuordnen." Tabucchis Todeskandidat lädt, um sein Sterben kommunizierbar zu machen, seinen Freund ein, einen Schriftsteller, dem er Bruchstücke seines Lebens erzählt. "Du sollst nur zuhören", verlangt Tristano vom Schriftstellerfreund, "spitz die Ohren und schreib, das ist das Prinzip der Literatur, den Traum eines anderen wiederzugeben. Machen wir es also so, du erzählst aus meiner Perspektive, beziehungsweise aus Tristanos Perspektive, denn diese Situation hat er erlebt, ich hingegen habe sie aus meiner Perspektive geträumt und erzähle dir davon, aber du wirst sie dann erzählen."
"Tristano stirbt" ist also ein Buch mit zwei Erzählern, dem Sterbenden, der das Leben, und dem Schriftsteller, der das Sterben erzählt. Tristanos Vergangenheit, vom Gedächtnis im Augenblick des Todes aus dem dunklen Innern emporgehoben, unterscheidet sich von dem Bericht, den der Schriftsteller vom Prozeß des erlöschenden Lebens gibt. Der Leser hat sich auf eine Biographie und auf deren Auflösung ins "Todesgestammel", um noch einmal Améry zu zitieren, einzulassen.
Tristanos Biographie ist zwar nicht alltäglich, seine Erinnerung jedoch mit literarischen Klischees überhäuft. Der Italiener, der zur Zeit des Faschismus als Soldat nach Griechenland kommt, schlägt sich bald auf die Seite der kommunistischen Partisanen, um so auch Italien, sein verirrtes Vaterland, von der Diktatur zu befreien. Bei seinem vaterländischen Befreiungskampf macht er genau die erotischen Erfahrungen, die sich für einen tapferen Mann in Feindesland schicken: Er verliebt sich in eine schöne Griechin und außerdem in eine kühne Freiheitskämpferin, die ihm in der Einsamkeit der Gebirge begegnet. Er tauft sie die Sterbende Rosamunde, besingt sie in Gedichten. Manchmal werden die Episoden tragisch, so etwa für die eine Geliebte, die, selbst dem Tode nahe, dem ehemaligen Freund ein Kind anvertraut, das sie adoptierte, weil er sich geweigert hatte, ihr eines zu "schenken".
Tristano erinnert sich an seine Frauengeschichten, wie sich Männer eben daran erinnern - immer mit einem gewissen Tremolo in der Stimme - als an etwas Erschütterndes, Großes, die Einmaligkeit und Verehrungswürdigkeit der Frau schlechthin Bestätigendes. Vom Freiheitskampf spricht er selten, doch auch dann mit Pathos: So wendet er sich von der eigenen Truppe ab, als ein Deutscher ein Kind und eine alte Frau erschießt; daraufhin wirft er dem Deutschen seine italienische Uniform vor die Füße und schließt sich den griechischen Partisanen an.
All diese Geschichten aber sind nur Exempla, die Tabucchi nutzt, um sein eigentliches Thema, den Zusammenhang von Sterben und Dichten, von "Todesgestammel" und Poesie, abzuhandeln. Auch der Freiheitskampf fügt sich so in eine Lebensphilosophie, die für einen Schriftsteller wie Tabucchi notwendig zur Theorie der Dichtung werden muß: "Tristano, du hast für die Freiheit gekämpft, und jetzt haben wir sie erreicht, sie besteht darin, vom Denken befreit zu sein, darin, nicht mehr zu denken . . . Die wahre Freiheit besteht darin, erdacht zu werden." Die Todeserfahrung ist dem Traum verwandt, und dieser erleichtert den Einstieg ins "innere Peru", in jene romantischen Tiefen der Seele, wo poetische Kräfte wirken. Nur aus dem Urstrom der Bilder sei das wahre Ich zu schöpfen; Sterben wird zur poetischen Geburtsstunde der Poesie: "Erinnerungen, von denen ich gar nichts wußte (. . .), sprudeln mit unglaublicher Geschwindigkeit hervor und ziehen an meinen Augen vorbei, als ob ich einen an die Wand projizierten Film sehen würde, als ob meine Augen diesen Film an sie projizieren würden."
Das "Todesgestammel" des Sterbenden ähnelt der lyrischen Poesie. Sie entsteht aus dem Wahnsinnszustand, in den das Bewußtsein eintaucht, als dem Sterbenden die Ordnungskategorien Raum und Zeit entgleiten. Schließlich lösen sich Tristanos Sätze in unzusammenhängende, absurde, doch wohlklingende Wort- und Silbengefüge auf. Der verlöschende Verstand hat immerhin genug lichte Augenblicke, um diesen Zustand zu reflektieren und die ausgeworfenen Gedächtnisbrocken auf ihre poetische Verwendbarkeit zu prüfen: "Zweifellos hast du die Schriften gelesen, in denen es um Wahnsinn geht, denn Tristano befand sich in genau so einem Zustand", verkündet dieser seinem lauschenden Freund, "zwischen Heiterkeit und Raserei, den Extremen, die das Leben in manchen Momenten für uns bereithält."
Tabucchi führt seinen Text immer entschiedener auf eine Demonstration dessen hinaus, was moderne Poesie zu sein hat, und macht daraus ein Resümee des eigenen Schaffens. Er nutzt den Furor poeticus seines Helden, um die Prosa in Lyrik, die Erzählung in den Bewußtseinsstrom, die Heldenbiographie in Anarchie übergehen zu lassen. Was Handlung war, wird Klang. Die Klischees und Sentimentalitäten des anfänglich skizzierten Heldenlebens erscheinen nun wie notwendige, aber verdämmernde Strukturen einer vergangenen Erzählkonvention. Die Himmelfahrt des wahren Helden findet im Wortspiel statt.
Antonio Tabucchi: "Tristano stirbt". Ein Leben. Aus dem Italienischen übersetzt von Karin Fleischanderl. Hanser Verlag, München 2005. 229 S., geb., 19,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zwischen Heiterkeit und Raserei: Antonio Tabucchi untersucht den Tod als poetische Inspiration
Dasein und Zeitvergehen", "Sich fremd werden", "Der Blick der Anderen", "Die Welt nicht mehr verstehen", "Mit dem Sterben leben" - das sind die Kapitel von Jean Amérys Buch "Über das Alter. Revolte und Resignation", eine existentialistische Analyse des Bewußtseins im Angesicht des Todes. Antonio Tabucchis sterbender Tristano scheint die poetische Inkarnation all dieser auf Kants Transzendentalphilosophie basierenden Beobachtungen Amérys zu sein. Die Nähe des italienischen Schriftstellers und Übersetzers zum deutschen Existentialismus ist in seinem Werk schon häufiger bemerkt worden; die existentielle Situation des Sterbens, für die er die Figur des Tristano erfindet, gibt ihm Gelegenheit, schier wörtlich die von Améry beschriebenen Erfahrungen zu wiederholen.
"Der Blick des Anderen" sei, so der deutsche Philosoph, die einzige Chance, das Sterben dem Delirium zu entreißen und es zu einer sozialen Realität zu machen: "Das Ereignis meines Sterbens, die Tatsache meines Todes, die trotz aller logischen Problematik mich mehr angeht als alle anderen und alles andere, ist faßbar nur für die Überlebenden und nur von ihnen dem Gang der Dinge einzuordnen." Tabucchis Todeskandidat lädt, um sein Sterben kommunizierbar zu machen, seinen Freund ein, einen Schriftsteller, dem er Bruchstücke seines Lebens erzählt. "Du sollst nur zuhören", verlangt Tristano vom Schriftstellerfreund, "spitz die Ohren und schreib, das ist das Prinzip der Literatur, den Traum eines anderen wiederzugeben. Machen wir es also so, du erzählst aus meiner Perspektive, beziehungsweise aus Tristanos Perspektive, denn diese Situation hat er erlebt, ich hingegen habe sie aus meiner Perspektive geträumt und erzähle dir davon, aber du wirst sie dann erzählen."
"Tristano stirbt" ist also ein Buch mit zwei Erzählern, dem Sterbenden, der das Leben, und dem Schriftsteller, der das Sterben erzählt. Tristanos Vergangenheit, vom Gedächtnis im Augenblick des Todes aus dem dunklen Innern emporgehoben, unterscheidet sich von dem Bericht, den der Schriftsteller vom Prozeß des erlöschenden Lebens gibt. Der Leser hat sich auf eine Biographie und auf deren Auflösung ins "Todesgestammel", um noch einmal Améry zu zitieren, einzulassen.
Tristanos Biographie ist zwar nicht alltäglich, seine Erinnerung jedoch mit literarischen Klischees überhäuft. Der Italiener, der zur Zeit des Faschismus als Soldat nach Griechenland kommt, schlägt sich bald auf die Seite der kommunistischen Partisanen, um so auch Italien, sein verirrtes Vaterland, von der Diktatur zu befreien. Bei seinem vaterländischen Befreiungskampf macht er genau die erotischen Erfahrungen, die sich für einen tapferen Mann in Feindesland schicken: Er verliebt sich in eine schöne Griechin und außerdem in eine kühne Freiheitskämpferin, die ihm in der Einsamkeit der Gebirge begegnet. Er tauft sie die Sterbende Rosamunde, besingt sie in Gedichten. Manchmal werden die Episoden tragisch, so etwa für die eine Geliebte, die, selbst dem Tode nahe, dem ehemaligen Freund ein Kind anvertraut, das sie adoptierte, weil er sich geweigert hatte, ihr eines zu "schenken".
Tristano erinnert sich an seine Frauengeschichten, wie sich Männer eben daran erinnern - immer mit einem gewissen Tremolo in der Stimme - als an etwas Erschütterndes, Großes, die Einmaligkeit und Verehrungswürdigkeit der Frau schlechthin Bestätigendes. Vom Freiheitskampf spricht er selten, doch auch dann mit Pathos: So wendet er sich von der eigenen Truppe ab, als ein Deutscher ein Kind und eine alte Frau erschießt; daraufhin wirft er dem Deutschen seine italienische Uniform vor die Füße und schließt sich den griechischen Partisanen an.
All diese Geschichten aber sind nur Exempla, die Tabucchi nutzt, um sein eigentliches Thema, den Zusammenhang von Sterben und Dichten, von "Todesgestammel" und Poesie, abzuhandeln. Auch der Freiheitskampf fügt sich so in eine Lebensphilosophie, die für einen Schriftsteller wie Tabucchi notwendig zur Theorie der Dichtung werden muß: "Tristano, du hast für die Freiheit gekämpft, und jetzt haben wir sie erreicht, sie besteht darin, vom Denken befreit zu sein, darin, nicht mehr zu denken . . . Die wahre Freiheit besteht darin, erdacht zu werden." Die Todeserfahrung ist dem Traum verwandt, und dieser erleichtert den Einstieg ins "innere Peru", in jene romantischen Tiefen der Seele, wo poetische Kräfte wirken. Nur aus dem Urstrom der Bilder sei das wahre Ich zu schöpfen; Sterben wird zur poetischen Geburtsstunde der Poesie: "Erinnerungen, von denen ich gar nichts wußte (. . .), sprudeln mit unglaublicher Geschwindigkeit hervor und ziehen an meinen Augen vorbei, als ob ich einen an die Wand projizierten Film sehen würde, als ob meine Augen diesen Film an sie projizieren würden."
Das "Todesgestammel" des Sterbenden ähnelt der lyrischen Poesie. Sie entsteht aus dem Wahnsinnszustand, in den das Bewußtsein eintaucht, als dem Sterbenden die Ordnungskategorien Raum und Zeit entgleiten. Schließlich lösen sich Tristanos Sätze in unzusammenhängende, absurde, doch wohlklingende Wort- und Silbengefüge auf. Der verlöschende Verstand hat immerhin genug lichte Augenblicke, um diesen Zustand zu reflektieren und die ausgeworfenen Gedächtnisbrocken auf ihre poetische Verwendbarkeit zu prüfen: "Zweifellos hast du die Schriften gelesen, in denen es um Wahnsinn geht, denn Tristano befand sich in genau so einem Zustand", verkündet dieser seinem lauschenden Freund, "zwischen Heiterkeit und Raserei, den Extremen, die das Leben in manchen Momenten für uns bereithält."
Tabucchi führt seinen Text immer entschiedener auf eine Demonstration dessen hinaus, was moderne Poesie zu sein hat, und macht daraus ein Resümee des eigenen Schaffens. Er nutzt den Furor poeticus seines Helden, um die Prosa in Lyrik, die Erzählung in den Bewußtseinsstrom, die Heldenbiographie in Anarchie übergehen zu lassen. Was Handlung war, wird Klang. Die Klischees und Sentimentalitäten des anfänglich skizzierten Heldenlebens erscheinen nun wie notwendige, aber verdämmernde Strukturen einer vergangenen Erzählkonvention. Die Himmelfahrt des wahren Helden findet im Wortspiel statt.
Antonio Tabucchi: "Tristano stirbt". Ein Leben. Aus dem Italienischen übersetzt von Karin Fleischanderl. Hanser Verlag, München 2005. 229 S., geb., 19,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Als "Buch mit zwei Erzählern" beschreibt Rezensentin Hannelore Schlaffer diese Geschichte, in der sie einen Sterbenden das Leben, und einen Lebenden das Sterben erzählen sah. Titelheld Tristano lade seinen Freund, einen Schriftsteller ein, um ihm sterbend noch einmal sein Leben zu erzählen, skizziert Schlaffer die Handlungskonstruktion. Der Leser habe sich also einerseits auf eine Biografie "und deren Auflösung im Todesgestammel" einzulassen. Auf der anderen Seite werde ihm der Bericht vom Erlöschen eines Lebens gegeben. Nach Ansicht der Rezensentin nutzt Antonio Tabuccchi die "mit literarischen Klischees überhäuften Erinnerungen" Tristanos außerdem als Exempel, um daran seine "eigentliches Thema" abzuhandeln, nämlich den "Zusammenhang von Sterben und Dichten". In seiner Erzählung, in der Ordnungskategorien wie Raum und Zeit im Prozess des Sterbens langsam entglitten, lasse der Autor seinen Text schließlich "immer entschiedener" auf eine Demonstration dessen hinauslaufen, "was moderne Poesie zu sein" habe. Deshalb betrachtet die Rezensentin Tabucchis Buch auch als "Resümee des eigenen Schaffens".
© Perlentaucher Medien GmbH"
© Perlentaucher Medien GmbH"
"Bei der Lektüre dieses Romans glaubt man immer weniger an all das, was sich scheinbar erklären lässt, und immer mehr an die Größe und an die Lüge der Literatur." (L' Unita)
"Tabucchis schönster, aufwühlendster Roman, bewegend und zutiefst menschlich." (Le Monde)
"Tabucchis schönster, aufwühlendster Roman, bewegend und zutiefst menschlich." (Le Monde)