Produktdetails
- Verlag: P.O.L.
- Seitenzahl: 283
- Erscheinungstermin: 17. August 2023
- Französisch
- Abmessung: 200mm x 138mm x 22mm
- Gewicht: 292g
- ISBN-13: 9782818058268
- ISBN-10: 2818058260
- Artikelnr.: 69013461
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.12.2023Neige Sinno stört den Frieden
Erstaunlich, dass es sich noch nicht herumgesprochen hat - dass Verbote vor allem bei Jugendlichen, aber längst nicht nur, verlässlich das Gegenteil von dem bewirken dürften, was sie bezwecken. Das gilt auch für die Lektüre: Was verboten ist, wird gern gelesen. Es dürfte auch in Ploërmel nicht anders sein, einer 10.000 Seelen zählenden Gemeine in der Bretagne, die zu Beginn des Schuljahres in die Schlagzeilen geriet, weil die Leiterin einer dortigen Privatschule entschieden hatte, ein gerade erst erschienenes Buch wieder aus dem Verkehr zu ziehen. "Triste tigre" von der Schriftstellerin Neige Sinno wurde aus dem Dokumentations- und Informationszentrum der Schule verbannt und von der Lektüreliste für einen Oberstufen-Wettbewerb gestrichen. Warum? Der Text könnte "verletzen, schockieren, schwächen", so die Rektorin. Eltern aber, die ihre Kinder am "Lycée La Mennais" anmeldeten, hätten sich für eine jahrhundertealte Schule entschieden, die den jungen Menschen in den Mittelpunkt stelle. "In einer Welt, die regelmäßig von Krisen heimgesucht wird, soll unsere Schule ein Ort des Wohlbefindens und der Entfaltung sein."
Da fürchtete mal wohl, das Buch könnte stören. Neige Sinno erzählt in "Triste tigre" von dem sexuellen Missbrauch durch den Stiefvater, den sie als Kind jahrelang erleiden musste. Ihr Buch ist eine Zumutung, das stimmt schon auf den ersten Seiten. Es läuft einem eiskalt den Rücken herunter, wenn sie in schmerzhafter Klarheit beschreibt, wie der Mann sich an ihr verging. Und natürlich tun sich Abgründe auf, wenn sie schreibend versucht, diesen Täter zu fassen zu kriegen, der seit Kindertagen einen so großen Platz in ihrem Leben einnimmt. Aber dass Literatur, zumal wenn sie autobiographische Züge trägt, schockierend sein kann, lässt sich ihr kaum vorwerfen. Neige Sinno, 1977 in Vars geboren und in den französischen Alpen aufgewachsen, fragt sich immer wieder, wer sie hätte werden können, wäre sie ihrem Stiefvater nicht ausgesetzt gewesen, so erzählte sie es in einem der zahlreichen Interviews, die sie in den vergangenen Wochen gegeben hat. Sie war in Zeitungen zu lesen, im Radio zu hören, im Fernsehen zu sehen - ihr Buch ist eines von denen, die man als révélation de la rentrée bezeichnet, als Entdeckung der Saison. "Triste tigre" stand auf den Listen fast sämtlicher Literaturpreise. Mehrere hat es gewonnen, darunter den "Prix Femina" und den "Prix Goncourt des lycéens", was ungewöhnlich ist, denn es gab selten Bücher, die mit mehr als einer Auszeichnung geehrt worden sind.
Darüber hinaus aber ist das Buch, ob gewollt oder nicht, in einer Zeit erschienen, in der die vor knapp drei Jahren von Präsident Emmanuel Macron ins Leben gerufene "Kommission zu Inzest und sexueller Gewalt gegen Kinder" (genannt "Ciivise") ihren Abschlussbericht vorgelegt hat. Die Kommission hat Berichte von Opfern und Zeugen gesammelt, telefonisch, online und im Rahmen von öffentlichen Veranstaltungen, die jeden Monat in einer anderen französischen Stadt organisiert worden sind. Ausgehend von diesen Berichten hat sie Empfehlungen für die Politik formuliert, aber sie nimmt auch die Gesellschaft in die Pflicht. "Die Geschichte von Inzest und sexueller Gewalt gegen Kinder ist die Geschichte einer Gesellschaft, die so tun will, als gäbe es so etwas nicht", heißt es in dem Bericht. Dabei sei die "positive soziale Unterstützung" ein "zentraler Schutzfaktor", der helfen könne, das Leid zu lindern. Wie groß es ist, zeigen die Zahlen: Einer von zehn Menschen in Frankreich, mehr Frauen als Männer, sei in der Kindheit Opfer von sexueller Gewalt geworden.
Das alles, sagt Neige Sinno, hatte sie nicht im Kopf, als sie ihr Buch schrieb. Sie verstand es nicht als pädagogisches, gar politisches Projekt. Ihr Buch sei in kleiner Auflage gedruckt worden, mit dem Erfolg habe sie nicht gerechnet. Aber nun, da er sich eingestellt hat, möchte sie Verantwortung übernehmen. "Ich möchte ein guter, schützender Erwachsener sein." Und als solcher reiste sie vor zwei Wochen in die Bretagne, nach Ploërmel. Ein Reporter von "Le Monde" war mit dabei. Draußen war auf dem Bürgersteig vor der Buchhandlung "La Canopée" ein Zelt aufgebaut, das denen Schutz bot, die drinnen keinen Platz mehr fanden. Drinnen kam Neige Sinno auf die Polemik um ihr Buch zu sprechen und verteidigte ihr explizites Schreiben - sie habe diese Worte finden müssen, um den Missbrauch aus der Abstraktion zu holen. Und dieses Ziel verfolgte sie auch in Ploërmel weiter, als sie die Zahlen aus dem Bericht der "Ciivise" auf die lokale Wirklichkeit anwandte: An einer Schule mit 1700 Schülern seien statistisch 170 Jugendliche betroffen. "Ein Buch über Inzest aus einer Bibliothek zu entfernen ist eine zusätzliche Gewalt, die zum Schweigen ermutigt."
Dagegen wehrt sie sich, aber nicht allein. Wie berichtet wird, haben Schüler eine Petition lanciert und Lehrer der Schule gegen die Verbannung des Buches aus der Bibliothek protestiert. Bislang vergebens. LENA BOPP
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Erstaunlich, dass es sich noch nicht herumgesprochen hat - dass Verbote vor allem bei Jugendlichen, aber längst nicht nur, verlässlich das Gegenteil von dem bewirken dürften, was sie bezwecken. Das gilt auch für die Lektüre: Was verboten ist, wird gern gelesen. Es dürfte auch in Ploërmel nicht anders sein, einer 10.000 Seelen zählenden Gemeine in der Bretagne, die zu Beginn des Schuljahres in die Schlagzeilen geriet, weil die Leiterin einer dortigen Privatschule entschieden hatte, ein gerade erst erschienenes Buch wieder aus dem Verkehr zu ziehen. "Triste tigre" von der Schriftstellerin Neige Sinno wurde aus dem Dokumentations- und Informationszentrum der Schule verbannt und von der Lektüreliste für einen Oberstufen-Wettbewerb gestrichen. Warum? Der Text könnte "verletzen, schockieren, schwächen", so die Rektorin. Eltern aber, die ihre Kinder am "Lycée La Mennais" anmeldeten, hätten sich für eine jahrhundertealte Schule entschieden, die den jungen Menschen in den Mittelpunkt stelle. "In einer Welt, die regelmäßig von Krisen heimgesucht wird, soll unsere Schule ein Ort des Wohlbefindens und der Entfaltung sein."
Da fürchtete mal wohl, das Buch könnte stören. Neige Sinno erzählt in "Triste tigre" von dem sexuellen Missbrauch durch den Stiefvater, den sie als Kind jahrelang erleiden musste. Ihr Buch ist eine Zumutung, das stimmt schon auf den ersten Seiten. Es läuft einem eiskalt den Rücken herunter, wenn sie in schmerzhafter Klarheit beschreibt, wie der Mann sich an ihr verging. Und natürlich tun sich Abgründe auf, wenn sie schreibend versucht, diesen Täter zu fassen zu kriegen, der seit Kindertagen einen so großen Platz in ihrem Leben einnimmt. Aber dass Literatur, zumal wenn sie autobiographische Züge trägt, schockierend sein kann, lässt sich ihr kaum vorwerfen. Neige Sinno, 1977 in Vars geboren und in den französischen Alpen aufgewachsen, fragt sich immer wieder, wer sie hätte werden können, wäre sie ihrem Stiefvater nicht ausgesetzt gewesen, so erzählte sie es in einem der zahlreichen Interviews, die sie in den vergangenen Wochen gegeben hat. Sie war in Zeitungen zu lesen, im Radio zu hören, im Fernsehen zu sehen - ihr Buch ist eines von denen, die man als révélation de la rentrée bezeichnet, als Entdeckung der Saison. "Triste tigre" stand auf den Listen fast sämtlicher Literaturpreise. Mehrere hat es gewonnen, darunter den "Prix Femina" und den "Prix Goncourt des lycéens", was ungewöhnlich ist, denn es gab selten Bücher, die mit mehr als einer Auszeichnung geehrt worden sind.
Darüber hinaus aber ist das Buch, ob gewollt oder nicht, in einer Zeit erschienen, in der die vor knapp drei Jahren von Präsident Emmanuel Macron ins Leben gerufene "Kommission zu Inzest und sexueller Gewalt gegen Kinder" (genannt "Ciivise") ihren Abschlussbericht vorgelegt hat. Die Kommission hat Berichte von Opfern und Zeugen gesammelt, telefonisch, online und im Rahmen von öffentlichen Veranstaltungen, die jeden Monat in einer anderen französischen Stadt organisiert worden sind. Ausgehend von diesen Berichten hat sie Empfehlungen für die Politik formuliert, aber sie nimmt auch die Gesellschaft in die Pflicht. "Die Geschichte von Inzest und sexueller Gewalt gegen Kinder ist die Geschichte einer Gesellschaft, die so tun will, als gäbe es so etwas nicht", heißt es in dem Bericht. Dabei sei die "positive soziale Unterstützung" ein "zentraler Schutzfaktor", der helfen könne, das Leid zu lindern. Wie groß es ist, zeigen die Zahlen: Einer von zehn Menschen in Frankreich, mehr Frauen als Männer, sei in der Kindheit Opfer von sexueller Gewalt geworden.
Das alles, sagt Neige Sinno, hatte sie nicht im Kopf, als sie ihr Buch schrieb. Sie verstand es nicht als pädagogisches, gar politisches Projekt. Ihr Buch sei in kleiner Auflage gedruckt worden, mit dem Erfolg habe sie nicht gerechnet. Aber nun, da er sich eingestellt hat, möchte sie Verantwortung übernehmen. "Ich möchte ein guter, schützender Erwachsener sein." Und als solcher reiste sie vor zwei Wochen in die Bretagne, nach Ploërmel. Ein Reporter von "Le Monde" war mit dabei. Draußen war auf dem Bürgersteig vor der Buchhandlung "La Canopée" ein Zelt aufgebaut, das denen Schutz bot, die drinnen keinen Platz mehr fanden. Drinnen kam Neige Sinno auf die Polemik um ihr Buch zu sprechen und verteidigte ihr explizites Schreiben - sie habe diese Worte finden müssen, um den Missbrauch aus der Abstraktion zu holen. Und dieses Ziel verfolgte sie auch in Ploërmel weiter, als sie die Zahlen aus dem Bericht der "Ciivise" auf die lokale Wirklichkeit anwandte: An einer Schule mit 1700 Schülern seien statistisch 170 Jugendliche betroffen. "Ein Buch über Inzest aus einer Bibliothek zu entfernen ist eine zusätzliche Gewalt, die zum Schweigen ermutigt."
Dagegen wehrt sie sich, aber nicht allein. Wie berichtet wird, haben Schüler eine Petition lanciert und Lehrer der Schule gegen die Verbannung des Buches aus der Bibliothek protestiert. Bislang vergebens. LENA BOPP
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main