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Können Millionen von Mitläufern irren? Von der Antike bis in die Gegenwart hat jede Epoche ihre eigenen Formen des öffentlichen Umherziehens entwickelt: Kommunikationsmittel, mit denen sowohl Einverständnis als auch Widerstand gegenüber den gesellschaftlichen Umständen zum Ausdruck gebracht werden können. Der Triumphzug als Massenmedium zur Ästhetisierung von Politik, als Organisationsform der öffentlichen Meinung und als Inszenierung des Verhältnisses von Teilnahme und Außenstehen behauptet einen festen Platz in der Event-Kultur aller Zeiten.Der vorliegende Band will die Vielfalt der…mehr

Produktbeschreibung
Können Millionen von Mitläufern irren? Von der Antike bis in die Gegenwart hat jede Epoche ihre eigenen Formen des öffentlichen Umherziehens entwickelt: Kommunikationsmittel, mit denen sowohl Einverständnis als auch Widerstand gegenüber den gesellschaftlichen Umständen zum Ausdruck gebracht werden können. Der Triumphzug als Massenmedium zur Ästhetisierung von Politik, als Organisationsform der öffentlichen Meinung und als Inszenierung des Verhältnisses von Teilnahme und Außenstehen behauptet einen festen Platz in der Event-Kultur aller Zeiten.Der vorliegende Band will die Vielfalt der Erscheinungsformen und Funktionsweisen des Paradierens exemplarisch sichtbar machen. Die Bandbreite seiner Themen reicht von den jüngsten Beispielen mobiler Gemeinschaftserlebnisse bis zu den Ursprüngen triumphaler Selbstdarstellung: historische Dimensionen und aktuelle Perspektiven eines Rituals zwischen Siegerpose und Meinungsbekundung, höfischem Festzeremoniell und demokratischem Protestverhalten, autoritärer Einschüchterungsszenerie und populistischem Animationsprogramm.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.07.2001

Der Groove für die Fürsten
Das Buch zur Love Parade: die Kulturgeschichte der Triumphzüge durch Raum und Zeit

Eine "anormalische und in polizeilicher Hinsicht nicht unbedenkliche Lustbarkeit" witterte Friedrich Wilhelm III., als er 1828 in den linksrheinischen Gebieten ein gerade mal fünf Jahre altes Volksvergnügen verbot. Die Romantiker hatten die Mode aufgebracht, an Stelle des wilden Treibens in Kneipen und auf der Straße vor der Fastenzeit einen Umzug zu organisieren. "Der Triumphzug des Helden Karneval" wurde fortan zum Vorbild für rheinische Fastnachtsfeiern - ein Zug, der sich weder durch königliche Verbote noch durch Kriege aufhalten ließ. In diesem Jahr wurde der Karneval selbst in der preußischen Hauptstadt zumindest freundlich empfangen. Die Berliner - gewöhnt an Militärparaden, Aufmärsche und Demonstrationen, vor allem aber an Love Parade, Christopher Street Day und Karneval der Kulturen - ließen mit Contenance auch die Jecken vorüberziehen.

Pünktlich zur diesjährigen Love Parade erscheint eine Kulturgeschichte der beweglichen Feste. Der Band "Triumphzüge. Paraden durch Raum und Zeit" ist eine Sammlung anregender, teilweise etwas disparater Aufsätze, mit Illustrationen von Paraden aus allen Zeiten. Die Autoren beschreiben am Beispiel von antiken Triumphzügen, katholischen Prozessionen, Militäraufmärschen, Karnevalsumzügen, Demonstrationen und anderen Straßen-Events, daß das "öffentliche Umherziehen" in den unterschiedlichsten Zeit- und Kulturräumen populär war. Dabei bewirkten die Paraden immer eine Identifikation in zweifacher Hinsicht: Der Mitziehende fügte sich ein in die Gemeinschaft und zelebrierte damit gleichzeitig den Ausschluß der nicht teilnehmenden Zuschauer.

So besaßen etwa in der griechischen Antike Prozessionen immer auch soziale Ausschlußfunktion. Der Marsch vom Tempel der angebeteten Gottheit zur Opferstätte war der jeweiligen Kultgemeinschaft vorbehalten, meistens also den Bürgern des Stadtstaates. Sklaven und Fremde waren ausgeschlossen. Der Opfergang wurde zur Selbstinszenierung der Bürgerschaft, zu Ehren und zum Wohlstand der Stadt. Auf dem Höhepunkt des athenischen Selbstbewußtseins setzte man einer solchen Prozession ein Denkmal: Im 5. Jahrhundert v. Chr., zu einer Zeit wirtschaftlichen Wohlstands und demokratischer Selbstbestimmung, schmückten die Bürger den neuen Tempel der Athena mit dem Fries einer Festprozession.

Fast 2000 Jahre später wurde die mediale Verbreitung einer Parade wieder für politische Zwecke genutzt - diesmal mit Hilfe eines fiktiven Triumphzuges.

Im 14. Jahrhundert kam in italienischen Fürstenhäusern die Mode auf, trionfi zu inszenieren, Triumphzüge nach antikem Vorbild, die der Legitimierung des Fürsten dienten und sich mit der Renaissance bald in ganz Europa verbreiteten. Dieser Triumphkult war es wohl, der Kaiser Maximilian I. im Jahr 1512 bewog, seine Herrschaft mit Hilfe eines fiktiven Triumphzuges zu festigen.

Er ließ rund 150 Holzschnitte mit einer Gesamtlänge von über 57 Metern anfertigen, die sich zu einem Ehrenzug des Kaisers formieren: mit Herolden und Bannerträgern, Familienmitgliedern, Unterworfenen, exotischen Menschen und Tieren, aufwendigen Wagen, Hochzeiten, Jagden und Musikern. Im Zentrum dieses Aufmarsches steht Albrecht Dürers "Großer Triumphwagen", auf dem der Kaiser inmitten von allegorischen Tugenden thront.

Obgleich der Bilderzyklus unvollendet blieb, ist das Auftragsprojekt bis heute beeindruckend. Die Holzschnitte waren als Druckplatten für einen Wandfries in allen Rathaussälen des Reiches gedacht. Die neue Technik wurde geschickt als politisches Massenmedium eingesetzt.

Anders als in absolutistischen Gesellschaften ehren Demokratien mit ihren Paraden eher Gemeinschaften als das Individuum. Auf Protestmärschen erprobt der Städter das Gefühl von Stärke und Gemeinschaft. Mit dem kulturellen Entwurf der Straße, die Walter Benjamin einmal "Wohnung des Kollektivs" genannt hat, beschäftigt sich im vorliegenden Band der Soziologieprofessor Ronald Lutz. Die Straße hat in unseren Kulturen ein anarchisches Image, sie steht für Chaos, Gefahr und Abwesenheit von Macht - und ist damit ein faszinierendes Medium für Stadtbewohner.

Mit dem Gefühl der "inneren Sensation" erklärt Lutz auch die ungebrochene Popularität von Demonstrationen und Straßen-Events. Ob Ostermärsche in den achtziger oder Love Parade in den neunziger Jahren - der Autor interpretiert sie als moderne Triumphzüge, die mit körperlicher Präsenz jeweils den Lebensstil einer Gruppe feiern. Die politische Dimension von Kundgebungen wird in dieser Sichtweise freilich verkürzt.

Dennoch erweitert der Parcours des Buches durch die Triumphzüge vergangener und gegenwärtiger Zeiten auch den Blick auf die Berliner Sommerparaden. Wenn heterosexuelle Technomuffel begeistert zum Christopher Street Day und zur Love Parade gehen, dann hat eine Verschiebung zwischen den feiernden Gruppen stattgefunden. Die Selbstinszenierung einer Minderheit wurde von der Mehrheit vereinnahmt, nicht nur Politiker aller Parteien erklären die jugendlichen Spektakel zur eigenen Sache.

Der Grund für den Paradekult ist dabei offensichtlich: Berlin feiert sich selbst. Ob mit Currywurst oder Caipirinha, es geht um die Inszenierung der Stadt und weniger um den Auftritt einer Szene. Wie bei antiken Opferzügen werden Wohlstand und Ehre mit den Füßen erlaufen, das Bild der postmodernen Polis soll jung, bunt und flexibel sein. Verbannt auf die Zuschauerränge der Barbarei ist nun die Provinz, die sich der Metropolenbewohner gerne finster und intolerant vorstellt. Bei genauem Hinsehen bröckelt auch dieser Unterschied, denn gerade von außerhalb strömen die hartnäckigsten Marschierer herbei - und schon formieren sich auch dort trionfi aller Art: vom Schlagergroove bis hin zur Weihnachtsmann-Parade. So ziehen die Zuschauer schließlich selber ihre Karren, und unabhängig von Originalität und Geschmack der neuen Paraden bleibt die kreative Kraft bewegter Feste ungebrochen.

DOROTHEA SCHILDT

"Triumphzüge. Paraden durch Raum und Zeit", herausgegeben von Harald Kimpel und Johanna Werckmeister, Jonas Verlag für Kunst und Literatur, Marburg

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