Dass Lesen weit mehr ist als das sinnstiftende Erfassen von Buchstaben, zeigen die vier Übungen, die dieser Essay versammelt. Sie führen das Lesen zusammen mit dem Schreiben, dem Hören, dem Beten und dem Genießen: Der heute nur wenigen bekannte Franz Xaver Kappus regte Rilke durch seine Briefe zu einer Auseinandersetzung mit den Grundlagen des Dichtens an, die bis heute Schreibende (und Lesende) inspiriert. Die Tonaufnahme von David Foster Wallaces Rede »This Is Water« und ein Hörspiel zu Walt Disneys Aristocats zeugen von einem Lesen, das Hören ist. Eileen Myles findet als Kind ein Rollenmodell in der Lektüre eines Johanna-von-Orléans-Comics und Adorno gönnt sich neben Kritik auch mal Eiscreme. In dieser Engführung von Kritik und Enthusiasmus, Kanon und Pop, Alltag und Ästhetik, Persönlichem und Theoretischem o_enbart sich mit jedem weiteren Kapitel genau das, was der Titel verspricht: vier Übungen, die klug, voller Witz und doch mit Ernsthaftigkeit Text und Nebentext feiern undsich zu einer leisen, aber unbedingten Leseempfehlung für schwere und nicht ganz so schwere Zeiten fügen.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensent Stephan Wackwitz ist von Hanna Engelmeiers "Trost. Vier Übungen" positiv überrascht. Die Autorin verknüpft in ihrem neuen Buch spirituelle und säkulare Texte miteinander, um zu zeigen, dass Erwachsene durch die vier Übungen "Schreiben, Hören, Beten, Lesen" zum Selbsttrost geführt werden können, erklärt Wackwitz. Nicht nur die textliche Vielfalt überrascht den Rezensenten im besten Sinne, er empfindet es ebenso beeindruckend, dass damit Belesenheit und Intellekt als essenzielles, humanes Grundbedürfnis dargestellt werden. Auch wenn es schwer zu erreichen sei, stehe am Ende somit der Trost, und der sei einfach, resümiert der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.10.2021Eiscreme im Hörnchen, das ist das Glück
Distinktion um ihrer selbst willen hilft halt auch nicht: Hanna Engelmeier sucht und findet Trost in Texten aller Art
Die meisten Bücher liest man nur einmal. Denn man will ja noch andere lesen. Der Vorteil dieser Strategie besteht darin, dass man mehr Bücher schafft, und der Nachteil, dass man weniger wirklich kennt. Ein Buch zu lesen ist manchmal, wie eine Straße entlangzugehen, häufig fällt einem etwas Entscheidendes erst beim dritten Mal auf, und auch das Gefühl, sich auszukennen, stellt sich nur durch Wiederholung ein. Vor allem aber ergibt sich eine besondere Form des Trosts daraus, einen Text zu haben, den man immer wieder aufsuchen will.
Das ist eine der Grundannahmen, von denen der Essay "Trost. Vier Übungen" der Kulturwissenschaftlerin Hanna Engelmeier ausgeht. Er handelt vom Verhältnis zwischen Texten und ihren Lesern, genauer von der Frage, was Texte für ihre Leser zu leisten imstande sind. Dabei geht es nicht um Funktionen, wie sie etwa Bedienungsanleitungen für die Nutzer von Elektrogeräten erfüllen, sondern um Wirkungen, die sich erst einstellen, wenn der Leser bereit für sie ist. Oder die Leserin, zum Beispiel Engelmeier.
Die vier Kapitel entsprechen, wenn man Texte auch als so etwas wie Straßen versteht, vier Spaziergängen, die Engelmeier anführt. Der erste handelt von "dem Gedanken, dass Trost in den Texten von Fremden liegt, und zwar in den Texten, die sie einem geben, aber mehr noch in denen, die man für sie schreibt". Anschaulich macht Engelmeier das an zwei Beispielen. Das eine ist der Briefwechsel zwischen dem jungen Leutnant Franz Xaver Kappus, der gern Dichter sein wollte, und Rainer Maria Rilke, dessen Antworten an Kappus bekannt geworden sind als "Briefe an einen jungen Dichter". Das zweite Beispiel ist eine auf der Website "The Rumpus" veröffentlichte Folge der Ratgeberkolumne "Dear Sugar", in der die erfolgreiche amerikanische Schriftstellerin Cheryl Strayed einer jungen Autorin Rat gibt, die es nicht schafft, das Buch zu schreiben, das sie gern schreiben würde.
Engelmeier erzählt von diesen Texten, indem sie auch von sich erzählt. Jahre trug sie eine billige Ausgabe von Rilkes Briefen mit sich herum, "um mir im Zweifelsfall Rilkes Worte leihen zu können, als Ersatz für all die, die mir selbst nicht einfielen". Auch eine Ausgabe der gesammelten Kummerkastenkolumnen hatte sie lange auf dem E-Book-Reader dabei, um markierte Stellen jederzeit ansteuern zu können, "manchmal in zu Verlassenheitsgefühlen besonders einladenden Hotelbetten", wo sie selbst genau wie die zitierten Briefeschreiber von Zweifeln geplagt wurde, ob sie so gut schreiben können würde, wie sie es für nötig hielt.
Die Unterschiedlichkeit dieser Lektüren - und das Verbindende - reflektiert Engelmeier auf eine Weise, die sich durch den gesamten Essay zieht, so wie auch durch ihre an anderer Stelle veröffentlichten Texte, etwa in der Zeitschrift Merkur. Man könnte sie als zugewandt beschreiben. Das bedeutet, so gründlich zu denken und zu schreiben, wie es in der Wissenschaft üblich ist, dabei aber auch so lustig und persönlich, wie es sich Wissenschaftler leider oft verkneifen. So thematisiert Engelmeier beispielsweise die Tatsache, dass sie ihre Lieblingsstellen im Kummerkasten-E-Book markiert hat, genau wie viele andere Leser es getan haben, von denen sie das dank digitaler Verknüpfung weiß.
Das Buch als Selbstbedienungsladen, in dem alle nach denselben Schnäppchen greifen - das kommt ihr zunächst schwach vor, denn sie gehört einem Milieu an, das den Massengeschmack routiniert ablehnt. "Bereits als Kind hatte ich gelernt, Trivialliteratur zu verachten." Ein "vermutlich selbst ausgedachtes Zitat" kursierte in der Familie, um die Schrecken des Schunds auf den Punkt zu bringen: ",Sie sind mir ein Halbgott, Graf Bodo', wogte ihr Busen."
Aber Distinktion um ihrer selbst willen hilft halt auch nicht. So beschreibt Engelmeier, wie sich ihre Eindrücke bei der Lektüre der Rilke-Briefe über die Jahre änderten. "Mir erscheint der Anspruch, die eigene schreiberische Motivation solle entweder existenziell oder wertlos sein, in seinem Pathos mittlerweile leicht bedrohlich." Es ist am Ende beides tröstlich: sich von Rilke etwas sagen zu lassen und zu sagen, dass man manches anders sieht.
Auch die drei anderen Übungen beschreiben Trost, der einhergeht mit Selbstwirksamkeit: Es wird vielleicht nicht alles gut, aber man kann es besser machen. Helfen können dabei nicht nur Bücher, sondern Texte aller Art, zum Beispiel die Tonaufnahme einer Rede des Schriftstellers David Foster Wallace vor College-Absolventen oder das, was Adorno in "Kultur und Culture" über das Glück sagt, das amerikanische Kinder beim Verzehr von Eiscreme im Hörnchen empfinden.
Engelmeier zeigt, dass Trost nicht in erster Linie gespendet, sondern angenommen werden muss. Darin liegt für Leser, die sich auch als Autoren verstehen, eine besondere Chance: Im Schreiben konstituieren sie sich, und das, was sie im Text festhalten, gewinnt an Macht. Es gelingt der Autorin in ihrem Essay, das Kleine zu achten, ohne das Große zu unterschätzen, was für manche Leser tröstlich sein dürfte, für alle anderen schlicht erfreulich. FRIEDERIKE HAUPT
Hanna Engelmeier: "Trost". Vier Übungen.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2021. 200 S., geb., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Distinktion um ihrer selbst willen hilft halt auch nicht: Hanna Engelmeier sucht und findet Trost in Texten aller Art
Die meisten Bücher liest man nur einmal. Denn man will ja noch andere lesen. Der Vorteil dieser Strategie besteht darin, dass man mehr Bücher schafft, und der Nachteil, dass man weniger wirklich kennt. Ein Buch zu lesen ist manchmal, wie eine Straße entlangzugehen, häufig fällt einem etwas Entscheidendes erst beim dritten Mal auf, und auch das Gefühl, sich auszukennen, stellt sich nur durch Wiederholung ein. Vor allem aber ergibt sich eine besondere Form des Trosts daraus, einen Text zu haben, den man immer wieder aufsuchen will.
Das ist eine der Grundannahmen, von denen der Essay "Trost. Vier Übungen" der Kulturwissenschaftlerin Hanna Engelmeier ausgeht. Er handelt vom Verhältnis zwischen Texten und ihren Lesern, genauer von der Frage, was Texte für ihre Leser zu leisten imstande sind. Dabei geht es nicht um Funktionen, wie sie etwa Bedienungsanleitungen für die Nutzer von Elektrogeräten erfüllen, sondern um Wirkungen, die sich erst einstellen, wenn der Leser bereit für sie ist. Oder die Leserin, zum Beispiel Engelmeier.
Die vier Kapitel entsprechen, wenn man Texte auch als so etwas wie Straßen versteht, vier Spaziergängen, die Engelmeier anführt. Der erste handelt von "dem Gedanken, dass Trost in den Texten von Fremden liegt, und zwar in den Texten, die sie einem geben, aber mehr noch in denen, die man für sie schreibt". Anschaulich macht Engelmeier das an zwei Beispielen. Das eine ist der Briefwechsel zwischen dem jungen Leutnant Franz Xaver Kappus, der gern Dichter sein wollte, und Rainer Maria Rilke, dessen Antworten an Kappus bekannt geworden sind als "Briefe an einen jungen Dichter". Das zweite Beispiel ist eine auf der Website "The Rumpus" veröffentlichte Folge der Ratgeberkolumne "Dear Sugar", in der die erfolgreiche amerikanische Schriftstellerin Cheryl Strayed einer jungen Autorin Rat gibt, die es nicht schafft, das Buch zu schreiben, das sie gern schreiben würde.
Engelmeier erzählt von diesen Texten, indem sie auch von sich erzählt. Jahre trug sie eine billige Ausgabe von Rilkes Briefen mit sich herum, "um mir im Zweifelsfall Rilkes Worte leihen zu können, als Ersatz für all die, die mir selbst nicht einfielen". Auch eine Ausgabe der gesammelten Kummerkastenkolumnen hatte sie lange auf dem E-Book-Reader dabei, um markierte Stellen jederzeit ansteuern zu können, "manchmal in zu Verlassenheitsgefühlen besonders einladenden Hotelbetten", wo sie selbst genau wie die zitierten Briefeschreiber von Zweifeln geplagt wurde, ob sie so gut schreiben können würde, wie sie es für nötig hielt.
Die Unterschiedlichkeit dieser Lektüren - und das Verbindende - reflektiert Engelmeier auf eine Weise, die sich durch den gesamten Essay zieht, so wie auch durch ihre an anderer Stelle veröffentlichten Texte, etwa in der Zeitschrift Merkur. Man könnte sie als zugewandt beschreiben. Das bedeutet, so gründlich zu denken und zu schreiben, wie es in der Wissenschaft üblich ist, dabei aber auch so lustig und persönlich, wie es sich Wissenschaftler leider oft verkneifen. So thematisiert Engelmeier beispielsweise die Tatsache, dass sie ihre Lieblingsstellen im Kummerkasten-E-Book markiert hat, genau wie viele andere Leser es getan haben, von denen sie das dank digitaler Verknüpfung weiß.
Das Buch als Selbstbedienungsladen, in dem alle nach denselben Schnäppchen greifen - das kommt ihr zunächst schwach vor, denn sie gehört einem Milieu an, das den Massengeschmack routiniert ablehnt. "Bereits als Kind hatte ich gelernt, Trivialliteratur zu verachten." Ein "vermutlich selbst ausgedachtes Zitat" kursierte in der Familie, um die Schrecken des Schunds auf den Punkt zu bringen: ",Sie sind mir ein Halbgott, Graf Bodo', wogte ihr Busen."
Aber Distinktion um ihrer selbst willen hilft halt auch nicht. So beschreibt Engelmeier, wie sich ihre Eindrücke bei der Lektüre der Rilke-Briefe über die Jahre änderten. "Mir erscheint der Anspruch, die eigene schreiberische Motivation solle entweder existenziell oder wertlos sein, in seinem Pathos mittlerweile leicht bedrohlich." Es ist am Ende beides tröstlich: sich von Rilke etwas sagen zu lassen und zu sagen, dass man manches anders sieht.
Auch die drei anderen Übungen beschreiben Trost, der einhergeht mit Selbstwirksamkeit: Es wird vielleicht nicht alles gut, aber man kann es besser machen. Helfen können dabei nicht nur Bücher, sondern Texte aller Art, zum Beispiel die Tonaufnahme einer Rede des Schriftstellers David Foster Wallace vor College-Absolventen oder das, was Adorno in "Kultur und Culture" über das Glück sagt, das amerikanische Kinder beim Verzehr von Eiscreme im Hörnchen empfinden.
Engelmeier zeigt, dass Trost nicht in erster Linie gespendet, sondern angenommen werden muss. Darin liegt für Leser, die sich auch als Autoren verstehen, eine besondere Chance: Im Schreiben konstituieren sie sich, und das, was sie im Text festhalten, gewinnt an Macht. Es gelingt der Autorin in ihrem Essay, das Kleine zu achten, ohne das Große zu unterschätzen, was für manche Leser tröstlich sein dürfte, für alle anderen schlicht erfreulich. FRIEDERIKE HAUPT
Hanna Engelmeier: "Trost". Vier Übungen.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2021. 200 S., geb., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main