Das Corona-Virus hat uns an eine Zeitenwende gebracht. Beides ist jetzt möglich, das Strahlende und das Schreckliche.
Ist der aktuelle Shutdown unserer Gesellschaft auch ein Shutdown unserer Grundrechte? Ferdinand von Schirach und Alexander Kluge gehen der Frage nach, was die Corona-Pandemie für unsere Gesellschaftsordnung und unsere bürgerliche Freiheit bedeutet.
"Niemand hätte sich vor zwei Monaten vorstellen können, dass wir diesen Ausnahmezustand erleben. Es wird heute von manchen behauptet, das sei die Zeit der Exekutive. Aber das ist falsch. Wir leben in Demokratien, wir haben eine Gewaltenteilung. Noch immer muss das Parlament entscheiden, und daran darf sich auch nichts ändern. Noch scheint unsere Demokratie nicht gefährdet. Aber die Dinge können kippen. Autoritäre Strukturen können sich verfestigen, die Menschen gewöhnen sich daran. Erosionen sind langsame Abtragungen, keine plötzlichen Ereignisse."
Ist der aktuelle Shutdown unserer Gesellschaft auch ein Shutdown unserer Grundrechte? Ferdinand von Schirach und Alexander Kluge gehen der Frage nach, was die Corona-Pandemie für unsere Gesellschaftsordnung und unsere bürgerliche Freiheit bedeutet.
"Niemand hätte sich vor zwei Monaten vorstellen können, dass wir diesen Ausnahmezustand erleben. Es wird heute von manchen behauptet, das sei die Zeit der Exekutive. Aber das ist falsch. Wir leben in Demokratien, wir haben eine Gewaltenteilung. Noch immer muss das Parlament entscheiden, und daran darf sich auch nichts ändern. Noch scheint unsere Demokratie nicht gefährdet. Aber die Dinge können kippen. Autoritäre Strukturen können sich verfestigen, die Menschen gewöhnen sich daran. Erosionen sind langsame Abtragungen, keine plötzlichen Ereignisse."
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.04.2020Instanz gesucht
Die Corona-Buchwelle nimmt Fahrt auf
Im späten achtzehnten Jahrhundert hat sich die Idee herausgebildet, die Vergangenheit gewinne mit der Zeit an Kontur. Je mehr Jahre verstreichen, desto klarer erstrahlten frühere Epochen, was uns wiederum in die Lage versetze, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden und Entwicklungslinien aufzuspüren. "Um Wirklichkeit zu erfassen", sagt Erwin Panofsky, "müssen wir uns von der Gegenwart lösen." Eric Hobsbawm betrachtet historische Distanz sogar als "geheime Waffe" des Geschichtsschreibers.
Auch Sachbuchautoren sind gut beraten, ihre Gegenstände mit Abstand zu umkreisen. Wer allerdings aktuelle Verlagsprogramme studiert, wird sich über die zahlreichen Titel zum Coronavirus wundern, welche entweder schon vorliegen oder in den kommenden Wochen erscheinen. Man ist geneigt, von einem neuen Genre zu sprechen, dessen Urheber auf die Notwendigkeit sozialer Distanz mit der Aufgabe historischer Distanz reagieren. Während Virologen hervorheben, wir stünden womöglich noch am Beginn der Pandemie, behandeln viele Zeitdiagnostiker Covid-19 und die Folgen wie ein Ereignis, das sich bereits gut überschauen lässt.
Alexander Kluge und Ferdinand von Schirach wollen in "Trotzdem" (Luchterhand) klären, wie es in der Corona-Krise um unsere bürgerliche Freiheit bestellt ist, dozieren aber lieber über Carl Schmitt und Voltaire. Bezeichnenderweise verliert Schirach das Virus aus dem Blick, sobald er versucht, es zu charakterisieren: Sars-CoV-2 sei klassenlos und unterscheide "nicht zwischen den Hautfarben, Geschlechtern, zwischen Alter oder Herkunft". Damit ist keine Besonderheit aufgedeckt, sondern ein Gemeinplatz formuliert, denn auch Influenzaviren oder Streptokokken sind nicht wählerisch, frauenfeindlich oder franzosenfreundlich. Kluge: "So viel Freiheit wie möglich muss erhalten bleiben. Gleichzeitig muss der Staat das Leben schützen." Schirach: "Es ist für Politiker eine furchtbare Zeit, ich bewundere, wie sie diesem Druck standhalten." Wer wollte da widersprechen? Oder weiterlesen?
Während der Piper Verlag einerseits kundtut, er verschiebe einen großen Teil seiner April-Titel, ist ihm andererseits Stefan Schweigers Brevier "Coronavirus" bedeutend genug für eine Hauruckpublikation. Das E-Book ist schon erhältlich, die Taschenbuchausgabe folgt Mitte Mai. Der Autor verspricht Antworten auf dreiunddreißig Fragen, etwa: "Erkältung, Grippe - oder doch Corona?" Da er das Buch im März geschrieben hat, konnte er nicht berücksichtigen, dass sich die von Sars-CoV-2 ausgelösten Symptome keineswegs auf Atemwege und Verdauungstrakt beschränken. Wie Forscher inzwischen herausgefunden haben, werden bei einer Infektion manchmal auch Gefäße, Nieren, Augen, Herz und das Nervensystem angegriffen.
Das Virus ist neu, die Faktenlage verschiebt sich täglich, eine stabile Einordnung der Umstände mutet einstweilen unmöglich an. Daher begeben sich etliche Autoren auf die Suche nach Analogien im Erfahrungsraum unseres kulturellen Gedächtnisses. Kluge wärmt das Hobbes-Diktum auf, der Mensch sei dem Menschen ein Wolf; Nikolaus Blome gibt in dem Sammelband "Corona und wir" (Penguin) zu bedenken, viele Bürger suchten jetzt "nach einer Instanz, der sie Macht und Kontrolle zutrauen"; Paolo Giordano erinnert in seinem Essay "In Zeiten der Ansteckung" (Rowohlt) daran, dass die Panik eine Erfindung Pans sei, und mahnt: "Bisweilen stieß der Gott so laute Schreie aus, dass er vor seiner eigenen Stimme erschrak und entsetzt vor sich selbst davonlief." Erkenntnisgewinn? Keiner, denn derartige Gedankenausflüge ließen sich mit gleichem Ertrag bei politischen Unruhen, Kriegen oder Naturkatastrophen unternehmen.
Gefragt sind dagegen neueste medizinische Forschungsergebnisse und Spezialisten, die kein Problem damit haben, Irrtümer einzuräumen. Deswegen ist das vom NDR produzierte "Coronavirus-Update" mit Christian Drosten so gelungen. Der Virologe verzichtet darauf, rhetorisch aufzurüsten, redet ausschließlich zur Sache und reflektiert fortwährend die Bedingungen unseres Wissens über Sars-CoV-2. Wie wohltuend das ist, wird deutlich, sobald zum Beispiel Ina Knobloch mitteilt, was man von ihrem Buch "Shutdown" (Droemer) zu erwarten habe: "Enthüllungen und Zusammenhänge, die so manchen Thriller blass werden lassen." Nun schlägt die Stunde der Corona-Schmöker, und auch hier ist zu befürchten, dass wir noch ganz am Anfang stehen.
KAI SPANKE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Corona-Buchwelle nimmt Fahrt auf
Im späten achtzehnten Jahrhundert hat sich die Idee herausgebildet, die Vergangenheit gewinne mit der Zeit an Kontur. Je mehr Jahre verstreichen, desto klarer erstrahlten frühere Epochen, was uns wiederum in die Lage versetze, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden und Entwicklungslinien aufzuspüren. "Um Wirklichkeit zu erfassen", sagt Erwin Panofsky, "müssen wir uns von der Gegenwart lösen." Eric Hobsbawm betrachtet historische Distanz sogar als "geheime Waffe" des Geschichtsschreibers.
Auch Sachbuchautoren sind gut beraten, ihre Gegenstände mit Abstand zu umkreisen. Wer allerdings aktuelle Verlagsprogramme studiert, wird sich über die zahlreichen Titel zum Coronavirus wundern, welche entweder schon vorliegen oder in den kommenden Wochen erscheinen. Man ist geneigt, von einem neuen Genre zu sprechen, dessen Urheber auf die Notwendigkeit sozialer Distanz mit der Aufgabe historischer Distanz reagieren. Während Virologen hervorheben, wir stünden womöglich noch am Beginn der Pandemie, behandeln viele Zeitdiagnostiker Covid-19 und die Folgen wie ein Ereignis, das sich bereits gut überschauen lässt.
Alexander Kluge und Ferdinand von Schirach wollen in "Trotzdem" (Luchterhand) klären, wie es in der Corona-Krise um unsere bürgerliche Freiheit bestellt ist, dozieren aber lieber über Carl Schmitt und Voltaire. Bezeichnenderweise verliert Schirach das Virus aus dem Blick, sobald er versucht, es zu charakterisieren: Sars-CoV-2 sei klassenlos und unterscheide "nicht zwischen den Hautfarben, Geschlechtern, zwischen Alter oder Herkunft". Damit ist keine Besonderheit aufgedeckt, sondern ein Gemeinplatz formuliert, denn auch Influenzaviren oder Streptokokken sind nicht wählerisch, frauenfeindlich oder franzosenfreundlich. Kluge: "So viel Freiheit wie möglich muss erhalten bleiben. Gleichzeitig muss der Staat das Leben schützen." Schirach: "Es ist für Politiker eine furchtbare Zeit, ich bewundere, wie sie diesem Druck standhalten." Wer wollte da widersprechen? Oder weiterlesen?
Während der Piper Verlag einerseits kundtut, er verschiebe einen großen Teil seiner April-Titel, ist ihm andererseits Stefan Schweigers Brevier "Coronavirus" bedeutend genug für eine Hauruckpublikation. Das E-Book ist schon erhältlich, die Taschenbuchausgabe folgt Mitte Mai. Der Autor verspricht Antworten auf dreiunddreißig Fragen, etwa: "Erkältung, Grippe - oder doch Corona?" Da er das Buch im März geschrieben hat, konnte er nicht berücksichtigen, dass sich die von Sars-CoV-2 ausgelösten Symptome keineswegs auf Atemwege und Verdauungstrakt beschränken. Wie Forscher inzwischen herausgefunden haben, werden bei einer Infektion manchmal auch Gefäße, Nieren, Augen, Herz und das Nervensystem angegriffen.
Das Virus ist neu, die Faktenlage verschiebt sich täglich, eine stabile Einordnung der Umstände mutet einstweilen unmöglich an. Daher begeben sich etliche Autoren auf die Suche nach Analogien im Erfahrungsraum unseres kulturellen Gedächtnisses. Kluge wärmt das Hobbes-Diktum auf, der Mensch sei dem Menschen ein Wolf; Nikolaus Blome gibt in dem Sammelband "Corona und wir" (Penguin) zu bedenken, viele Bürger suchten jetzt "nach einer Instanz, der sie Macht und Kontrolle zutrauen"; Paolo Giordano erinnert in seinem Essay "In Zeiten der Ansteckung" (Rowohlt) daran, dass die Panik eine Erfindung Pans sei, und mahnt: "Bisweilen stieß der Gott so laute Schreie aus, dass er vor seiner eigenen Stimme erschrak und entsetzt vor sich selbst davonlief." Erkenntnisgewinn? Keiner, denn derartige Gedankenausflüge ließen sich mit gleichem Ertrag bei politischen Unruhen, Kriegen oder Naturkatastrophen unternehmen.
Gefragt sind dagegen neueste medizinische Forschungsergebnisse und Spezialisten, die kein Problem damit haben, Irrtümer einzuräumen. Deswegen ist das vom NDR produzierte "Coronavirus-Update" mit Christian Drosten so gelungen. Der Virologe verzichtet darauf, rhetorisch aufzurüsten, redet ausschließlich zur Sache und reflektiert fortwährend die Bedingungen unseres Wissens über Sars-CoV-2. Wie wohltuend das ist, wird deutlich, sobald zum Beispiel Ina Knobloch mitteilt, was man von ihrem Buch "Shutdown" (Droemer) zu erwarten habe: "Enthüllungen und Zusammenhänge, die so manchen Thriller blass werden lassen." Nun schlägt die Stunde der Corona-Schmöker, und auch hier ist zu befürchten, dass wir noch ganz am Anfang stehen.
KAI SPANKE
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.06.2020Durchwursteln
Eine erfolgreiche Plauderei aus
den ersten Tagen des Shutdowns
Nachdem zwecks Pandemieeindämmung auch in Berlin die Restaurants geschlossen hatten, versuchte der Schriftsteller Ferdinand von Schirach zum ersten Mal in seiner Wohnung Eier zu kochen. Er aß sonst nie zu Hause, ging zum Frühstück immer ins Café. Sein Kochversuch endete in furchtbarem Gestank „nach verbranntem Plastik“. Der herbeigerufene Mann vom Reparaturservice fand die Ursache schnell, es seien „noch die Transportsicherungen unter den Herdplatten gewesen“.
Ohne ein Wort über den Gesichtsausdruck des Fachmanns zu verlieren, hat Ferdinand von Schirach diese Episode am 30. März dem Filmemacher Alexander Kluge erzählt. An diesem Tag plauderten die beiden Juristen und Schriftsteller via Instant-Messaging-Dienst über die Lage, das Virus, den „Shutdown der Grundrechte“, über den Gang nach Canossa, das Erdbeben, das 1755 Lissabon in Schutt legte, über Thomas Hobbes und David Hume, Carl Schmitt, Aufklärung, Autorität und manches mehr. Ihr Gespräch ist unter dem Titel „Trotzdem“ erschienen. Das schmale Buch steht nun schon einige Zeit an der Spitze der Spiegel-Beststellerliste.
Einprägsam schildert Alexander Kluge die Schwierigkeit, politisch entscheiden zu müssen, wenn es wissenschaftliche Eindeutigkeit nicht gibt. Und Ferdinand von Schirach äußert seine Bewunderung für die Kanzlerin, glaubt zu spüren, wie sie um „das richtige Maß“ ringe. Gegen Ende der Plauderei aber wird der Wunsch zu Vereindeutigung übermächtig. Das Virus habe, heißt es, eine „Zeitenwende“ gebracht, das „Strahlende und das Schreckliche“ seien jetzt möglich. Ferdinand von Schirach findet einiges gefährlich, etwa dass 95 Prozent der Bevölkerung dem ungeschriebenen Notstand zustimmten. Autoritäre Strukturen könnten sich rasch verfestigen.
Er warnt jedoch nicht vor autoritären Kräften, die nach der Macht greifen, sondern sorgt sich darum, dass den meisten Menschen die Sicherheit näher stehe als die Freiheit. Das zu illustrieren fordert er auf, sich zwei Flugzeuge vor dem Abflug nach New York vorzustellen: in eines könne man sofort und unkontrolliert einsteigen, in das andere erst nach zwei Stunden dauernden Kontrollprozeduren. Die meisten, glaubt er, würden diese hinnehmen.
Und dann behauptet er, „wir“ hätten „vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte der modernen Staaten“ gesehen, „dass die Politik alles ermöglichen kann“. Nun gebe es, etwa in Sachen Klimaschutz, keine Ausrede mehr. „Wir können offenbar alles, wenn Gefahr droht, das haben wir jetzt gelernt.“ Man könnte doch, hofft er, Europa endlich eine Verfassung geben, eine, die nicht aus Kompromissen besteht. Man könnte doch „neu über unsere Gesellschaft entscheiden“: die Daten sollen allein den Bürgern gehören, diese einen Anspruch auf intakte Umwelt haben, wirtschaftliche Interessen sollen „hinter den universalen Menschenrechten zurücktreten“, immer und überall. Diese Fantasie von Durchgreifen und Neubeginn steht in Kontrast zum Lob des Ausprobierens und Durchwurstelns am Anfang und ist gewiss beunruhigender als die eingeübte Risikovermeidung all derer, die nicht unkontrolliert nach New York fliegen wollen.
JENS BISKY
Ferdinand von Schirach/Alexander Kluge: Trotzdem. Luchterhand Literaturverlag, München 2020. 80 Seiten, 8 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Eine erfolgreiche Plauderei aus
den ersten Tagen des Shutdowns
Nachdem zwecks Pandemieeindämmung auch in Berlin die Restaurants geschlossen hatten, versuchte der Schriftsteller Ferdinand von Schirach zum ersten Mal in seiner Wohnung Eier zu kochen. Er aß sonst nie zu Hause, ging zum Frühstück immer ins Café. Sein Kochversuch endete in furchtbarem Gestank „nach verbranntem Plastik“. Der herbeigerufene Mann vom Reparaturservice fand die Ursache schnell, es seien „noch die Transportsicherungen unter den Herdplatten gewesen“.
Ohne ein Wort über den Gesichtsausdruck des Fachmanns zu verlieren, hat Ferdinand von Schirach diese Episode am 30. März dem Filmemacher Alexander Kluge erzählt. An diesem Tag plauderten die beiden Juristen und Schriftsteller via Instant-Messaging-Dienst über die Lage, das Virus, den „Shutdown der Grundrechte“, über den Gang nach Canossa, das Erdbeben, das 1755 Lissabon in Schutt legte, über Thomas Hobbes und David Hume, Carl Schmitt, Aufklärung, Autorität und manches mehr. Ihr Gespräch ist unter dem Titel „Trotzdem“ erschienen. Das schmale Buch steht nun schon einige Zeit an der Spitze der Spiegel-Beststellerliste.
Einprägsam schildert Alexander Kluge die Schwierigkeit, politisch entscheiden zu müssen, wenn es wissenschaftliche Eindeutigkeit nicht gibt. Und Ferdinand von Schirach äußert seine Bewunderung für die Kanzlerin, glaubt zu spüren, wie sie um „das richtige Maß“ ringe. Gegen Ende der Plauderei aber wird der Wunsch zu Vereindeutigung übermächtig. Das Virus habe, heißt es, eine „Zeitenwende“ gebracht, das „Strahlende und das Schreckliche“ seien jetzt möglich. Ferdinand von Schirach findet einiges gefährlich, etwa dass 95 Prozent der Bevölkerung dem ungeschriebenen Notstand zustimmten. Autoritäre Strukturen könnten sich rasch verfestigen.
Er warnt jedoch nicht vor autoritären Kräften, die nach der Macht greifen, sondern sorgt sich darum, dass den meisten Menschen die Sicherheit näher stehe als die Freiheit. Das zu illustrieren fordert er auf, sich zwei Flugzeuge vor dem Abflug nach New York vorzustellen: in eines könne man sofort und unkontrolliert einsteigen, in das andere erst nach zwei Stunden dauernden Kontrollprozeduren. Die meisten, glaubt er, würden diese hinnehmen.
Und dann behauptet er, „wir“ hätten „vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte der modernen Staaten“ gesehen, „dass die Politik alles ermöglichen kann“. Nun gebe es, etwa in Sachen Klimaschutz, keine Ausrede mehr. „Wir können offenbar alles, wenn Gefahr droht, das haben wir jetzt gelernt.“ Man könnte doch, hofft er, Europa endlich eine Verfassung geben, eine, die nicht aus Kompromissen besteht. Man könnte doch „neu über unsere Gesellschaft entscheiden“: die Daten sollen allein den Bürgern gehören, diese einen Anspruch auf intakte Umwelt haben, wirtschaftliche Interessen sollen „hinter den universalen Menschenrechten zurücktreten“, immer und überall. Diese Fantasie von Durchgreifen und Neubeginn steht in Kontrast zum Lob des Ausprobierens und Durchwurstelns am Anfang und ist gewiss beunruhigender als die eingeübte Risikovermeidung all derer, die nicht unkontrolliert nach New York fliegen wollen.
JENS BISKY
Ferdinand von Schirach/Alexander Kluge: Trotzdem. Luchterhand Literaturverlag, München 2020. 80 Seiten, 8 Euro.
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»'Trotzdem' ist eine anregende Handreichung zu den eigenen Bemühungen, das Verhalten während einer Epidemie zu verstehen und ihm zugleich rational und emotional gerecht zu werden.« Harry Nutt / Berliner Zeitung