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Pünktlich zu seinem 70. Geburtstag legt der bedeutende DDR-Oppositionelle seinen literarischen Lebenslauf vor. Von der frühen Kindheit bis in hohe politische Ämter erzählt Rathenow von einem Leben zwischen Kunst und Politik. Mal magisch, mal realistisch, stets liebevoll.

Produktbeschreibung
Pünktlich zu seinem 70. Geburtstag legt der bedeutende DDR-Oppositionelle seinen literarischen Lebenslauf vor. Von der frühen Kindheit bis in hohe politische Ämter erzählt Rathenow von einem Leben zwischen Kunst und Politik. Mal magisch, mal realistisch, stets liebevoll.
Autorenporträt
Lutz Rathenow wurde 1952 in Jena geboren. Er schrieb Lyrik und Prosa für Kinder und Erwachsene. Als Journalist und Schriftsteller setzte er sich für die Aufarbeitung der SED-Diktatur ein und war von 2011-2021 Sächsischer Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen. Er lebt in Berlin.
Rezensionen
»Lutz Rathenow zeigt in seinem Leben und Werk, dass beides möglich ist: Gewitztheit und Engagement, Spielerisches ebenso wie Klarheit.« Marko Martin

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Als "Lebensbesichtigung in Geschichten" begreift Kritiker Nils Kahlefendt diesen Band, der allerhand Publikationen des DDR-Dissidenten Lutz Rathenow vereint - der hatte gegen Ende der DDR das System mit haufenweise Beschwerdebriefen schikaniert, anstatt sich, wie üblich, selbst schikanieren zu lassen, erfahren wir etwa. Ein Nachwort des Herausgebers Marko Martin ordnet die Texte zusätzlich ein, es gibt von einer Aufsehen erregenden Haft über die Exmatrikulation bis zu Kolumnisten - und Redakteurstätigkeiten einiges zu erfahren über den Autor, der im letzten Jahr siebzig geworden ist, verrät Kahlefendt, der sich gerne in den vielen, durchaus homogenen Texten verliert.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.12.2023

Geht doch nach Rügen!

Lutz Rathenow schlug die DDR mit deren eigenen Mitteln: Nun erzählt er sein Leben als bunte Sammlung von Episoden und Textgattungen.

An der östlichen Saaleseite der Camsdorfer Brücke in Lutz Rathenows Geburtsstadt Jena kann man eine Ermutigung der Dichterin Ricarda Huch lesen, die sie den Jenensern zur Wiedereröffnung der 1945 von den Nazis gesprengten und im Sommer 1946 wiedererbauten Brücke gewidmet hat. Fehle sie einmal, so Huch, dann "FASSE MUT UND SCHWIMME / ODER SPRINGE". Gut möglich, dass das auch eine Lebensmaxime für den im letzten Jahr siebzig gewordenen Rathenow ist: bereit sein fürs Unerwartete, Riskante, um aus dem "Gefängnis des Gewohnten" zu entkommen.

War es im Osten üblich, dass unbequeme Schriftsteller vom System schikaniert wurden (die Möglichkeiten waren unbegrenzt), drehte Rathenow den Spieß um und nervte in der Spätphase der DDR die jeweils zuständigen Organe mit Beschwerdebriefen und Eingaben - einige sogar per Fernschreiben, denn zufällig hatte der emsige Flaneur herausgefunden, dass in der Hauptpost am Berliner Alexanderplatz eine Telex-Nummer existierte, die direkt ins ZK der SED führte. Im Politbüro hatten sie da schon kapituliert: den Kerl ausbürgern, wie Biermann? Wegen "Staatsverleumdung" anklagen? "Ich bin dafür, ihn nicht weiter zu beachten und auf keinen seiner Anträge einzugehen", schrieb ein entnervter Kurt Hager an Erich Honecker.

Unter dem Titel "Trotzig lächeln und das Weltall streicheln" hat Rathenow, der Thüringer Wahlberliner und temporäre Dienst-Sachse, keine klassische Autobiographie vorgelegt, sondern eine Lebensbesichtigung in Geschichten. Arrangiert in fünf Kapitel - "Lauter Anfänge" ist das erste betitelt, "Anschwellende Gegenwart" das letzte -, spannt sich die lockere Chronologie von ersten literarischen Gehversuchen bis ins Jetzt. Theater- und Hörspieltexte bleiben, bis auf eine Ausnahme, außen vor, ebenso das breite lyrische Schaffen. Das Buch will Rathenow als "deutsch-deutschen Autor im Spannungsfeld zwischen (autobiografisch grundierter) Fiktion und essayistisch-publizistischer Reflexion" vorstellen, schreibt der Herausgeber Marko Martin in einer editorischen Notiz. Sein kluges Nachwort huldigt dem omnipräsenten "Troublemaker" liebevoll-ironisch, ohne ihm nach dem Mund zu reden.

Gut möglich, dass Rathenow beim Auslegen seines literarischen Lebens-Puzzles häufig selbst überrascht war. Da gab es durchaus eine kurze, aber schwungvolle Karriere als Nachwuchs-Dichter und Dramatiker in der DDR, samt Einladung zum Poetenseminar der FDJ in Schwerin, Arbeiten für den Funk und ersten Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien. In "Trotzig lächeln" findet sich dagegen eine unveröffentlichte Skizze ("Im Glaswerk"), die 1971/72 während eines Jobs bei Carl Zeiss entstand und Rathenows Neugier auf unverstellten Alltag dokumentiert: Frauen in der Produktion reden sich ihren Ehe-Frust von der Leber. Wer als Schüler versucht, einen Jenaer Zweig der Black Panther Party zu gründen, später über den Freund Jürgen Fuchs Kontakte zum Kreis um Wolf Biermann aufnimmt und 1977, drei Monate vorm Examen, exmatrikuliert wird, ist für den Bitterfelder Weg verloren. Stattdessen sorgt der 1980 bei Ullstein im Westen erscheinende Erzählband "Mit dem Schlimmsten wurde schon gerechnet" für Furore. Die daraus resultierenden zehn Tage Haft, von denen ein hier erstmals veröffentlichtes, unmittelbar nach der Entlassung niedergeschriebenes Protokoll ("Die ersten Tage des Dezember") berichtet, mehr noch die Bemühungen von Autoritäten wie Franz Fühmann, Christa Wolf und Günter Grass, machen Rathenow bekannt wie den sprichwörtlichen bunten Hund. Und damit ein Stück weit unangreifbar.

"Geradezu lustvoll", so Marko Martin, erkundet der im Osten zuletzt eher auf Lesungen in Kirchenräumen zurückgeworfene Autor deshalb die publizistischen Möglichkeiten des Westens. Am 6. Oktober 1989 bringt er das Kunststück fertig, mit Statements zur aktuellen Lage in der "taz" ("Die Insel Rügen wird für rücktrittswillige DDR-Politiker zur Verfügung gestellt") und der F.A.Z. ("Lauter Katastrophen fügen sich zur sinnlosen Ordnung, die zu funktionieren scheint") gedruckt zu werden. Überhaupt ist der Anhang mit "Nachweisen und Anmerkungen" mindestens ebenso spannend wie viele der Primärtexte - das gilt auch für die publizistischen Einlassungen nach dem Mauerfall. Hätten Sie gewusst, dass Rathenow zeitweilig Kolumnist beim Zeitgeist-Magazin "Wiener" war und - "als einziges Nicht-FDP-Mitglied" - freier Redakteur bei "Liberal", den Vierteljahresheften für Politik und Kultur? Daneben konnte er Poetry Slams eröffnen oder in Kirchen predigen. Manche waren von Rathenows publizistischem Powerplay genervt; "Stalinorgel" nannte ihn der Satiriker Wiglaf Droste und spottete: "Wer ihn kennt, nimmt Dissident."

Rathenow focht das nicht an. Er machte im neuen, größer gewordenen Deutschland beinhart weiter, im Tagesgeschäft häufig als Erklärer ostwestdeutscher Verwerfungen. Manche Gebrauchstexte scheinen direkt aus der Stanze zu kommen; während man sich noch ärgern und auf fast forward schalten will, trifft eine Formulierung gnadenlos ins Schwarze - so wie die vom "Kapitalismus mit Tübinger Antlitz". In Uruguay plagt ihn nachträglich das schlechte Gewissen, in einer vergleichsweise harmlosen Diktatur "so dissidentenprivilegiert" gelebt zu haben.

Die den Band abschließende Erzählung "Die Rätsel in Dresden" entstand im Sommer 2021, da war Rathenows zweite Amtszeit als sächsischer Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen gerade vorbei: eine schwarze Groteske über einen Landesbeauftragten, der an einem Krimi über die Ermordung eines Landesbeauftragten grübelt; ein slapstickhaftes Traum-Ballett, bei dem sich Killer gegenseitig meucheln, ein Hauch Pegida in der Luft liegt und Elbflorenz nicht wirklich gut wegkommt. Am Ende wird Bertram, der Landesbeauftragte, am Döner-Stand einem Gespräch lauschen, dessen "Gesamtsinn" für ihn unverständlich bleibt. Die Details werden ihm jedoch eine Straßenbahnfahrt lang nachgehen. Auch so einer, der neugierig ist, flexibel. Und zur Not springen kann. NILS KAHLEFENDT

Lutz Rathenow: "Trotzig lächeln und das Weltall streicheln". Mein Leben in Geschichten.

Hrsg. und Nachwort von Marko Martin. Kanon Verlag, Berlin 2022. 272 S., geb., 24,- Euro.

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