Neunzehn Jahre Haft in chinesischen Straflagern haben Harry Wu nicht gebrochen. Heute lebt er als freier Mann in Amerika. Doch immer wieder reist er unter falschem Namen in seine Heimat, um seinen Landsleuten endlich die Freiheit zu erkämpfen, die er selbst genießt. Und er will den Westen wachrütteln, vor den politischen Realitäten in China nicht länger die Augen zu verschließen. Denn das chinesische Wirtschaftswunder beruht auf Ausbeutung und Sklavenarbeit, wie dieses Buch erschütternd dokumentiert.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.11.2000Das Jahrhundert im Rückspiegel
Ohne Tempolimit: Kathleen Burk kann A.J.P. Taylor nicht bremsen
Das zehn Jahre vor seinem Tod erstellte Werkverzeichnis enthält mehrere tausend Einträge. Ihr Autor erhielt drei Festschriften. 1977 widmete ihm sogar das "Journal of Modern History" eine Sondernummer. Allein der Verkauf seiner 23 Bücher und der Übersetzungsrechte, seine annähernd 1600 Buchrezensionen und Kolumnen sowie seine stete Präsenz im Radio und im Fernsehen machten A. J. P. Taylor (1906 bis 1990) zu einem Millionär. Bis in die Gegenwart ist er der breiten Öffentlichkeit als "The History Man" im Gedächtnis geblieben. Doch kämpfte der zweifellos populärste englische Historiker seit Gibbon und Macaulay zeit seines Lebens um Anerkennung in der Fachwelt, die ihm nie ganz gewährt wurde.
Kathleen Burk hätte ihren Lehrer nicht treffender als einen "Troublemaker" bezeichnen können: Der Sohn eines Baumwollhändlers aus Lancashire und einer in der sozialistischen Politik engagierten Mutter schrieb die Geschichte der britischen Gesellschaftskritik und gehörte selbst nie ganz zum Establishment. Er suchte die Nähe zur politischen und intellektuellen Macht und hielt sie zugleich auf Distanz. Seine beruflichen und lebensweltlichen Stationen Manchester, Oxford und London spiegeln seine Ambitionen wider. Letztlich konnten nur die Möglichkeiten der Metropole seinen Ehrgeiz befriedigen. Der angestrebte königliche Lehrstuhl in Oxford blieb ihm verwehrt, und nach der Veröffentlichung seines stark umstrittenen Buches über die Ursprünge des Zweiten Weltkriegs wurde seine Lehrbefugnis nicht erneuert. In spektakulärer Manier gab Taylor seine Mitgliedschaft in der British Academy 1980 auf, weil er den Ausschluß des der Spionage überführten Anthony Blunt, Kurator Ihrer Majestät Gemäldesammlungen, nicht akzeptieren wollte. Der radikale Individualismus, den Taylor an Bismarck verehrte und in seinen Studien über Cobden und Bright predigte, reflektierte den persönlichen Geltungsdrang des Exzentrikers.
Kein Bild von sich pflegte Taylor so gezielt wie das des ewigen Außenseiters. Wer gegen Hitler kämpfte und für Abrüstung, wer sich früh zu Labour bekannte und spät eine hagiographische Arbeit über den Zeitungsmagnaten Lord Beaverbrook verfaßte, der stilisierte gekonnt seine Unberechenbarkeit. Wenige britische Intellektuelle des zwanzigsten Jahrhunderts könnten von sich behaupten, gleichermaßen magnetisch Bewunderer und Kritiker auf sich gezogen zu haben. Kaum einer davon wurde zu seinen Freunden, viele aber zu seinen Feinden. Berühmt geworden ist die schonungslose Auseinandersetzung mit Hugh Trevor-Roper, bei der es um Hitlers Rolle und die Schuld der Deutschen ging. Es schien, als wollte Taylor die Einzigartigkeit der Verbrechen der Naziherrschaft und deren Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg relativieren. Seine Schwäche in der Argumentation war keine Folge mangelnder Literaturkenntnis, sondern Resultat seines Glaubens, gänzlich auf das Studium der Archivquellen verzichten zu können. Auch seiner Biographin hinterließ er einen fast vollständig vernichteten Nachlaß.
Sperrfeuerzunge
Golo Mann und Gerhard Ritter sparten nicht minder mit Vorwürfen an Taylors zum Teil absurder Deutung der deutschen Geschichte in seinem im letzten Kriegsjahr verfaßten Bestseller "The Course of German History", der seitdem Generationen von englischen Schülern und Studenten mit auf den Weg gegeben wurde. Eine unwiderrufliche deutsche Teilung strebte er ebenso an wie eine anglo-sowjetische Allianz, von der er sich Stabilität in Europa versprach. Als konservativer Gelehrter war Taylor ein sozialistischer Reformer, als Verehrer von Macaulays Individualismus ein Kritiker der kolonialen Expansion und nuklearen Nachrüstung. Aus seiner Abneigung gegen die Vereinigten Staaten machte er nie einen Hehl.
Sein Mentor Lewis Namier, der Historiker gesellschaftlicher Eliten und parlamentarischer Rhetorik, konnte nicht verstehen, wie bereitwillig Taylor sich gelegentlich auf sprachliches Stammtischniveau herabließ. In diesem Zusammenhang wäre es interessant gewesen, von Burk mehr über Taylors persönliche Beziehung zu seinen Lehrern und Schülern zu erfahren, über den beruflichen Alltag in der Universität. Übte er nur am Bildschirm oder auch im Seminarraum prägenden Einfluß aus? Er selbst verglich seinen unverkennbaren Stil mit der Wirkung eines Maschinengewehrs: In kurzen markanten Sätzen, kraftvollem Stakkato, lebhaft und abrupt, konnte er Pathos und Kühle im gleichen Absatz sich abwechseln lassen.
So wie Taylor schrieb, so lebte er. Das Schreiben war für ihn, der dreimal heiratete, sechs Kinder und auch manche Liebesaffären hatte, eine rastlose Passion. Einmal meinte er, daß ihn das Schreiben an sich mehr interessiere und erfülle als der Gegenstand. Der Autor, der die Geschichtswissenschaft mit Skepsis betrachtete, verlangte vom Historiker, keine politische, religiöse oder soziale Verantwortung für seine Arbeit zu empfinden, sondern allein die Freude an der Vergangenheit weiterzugeben. Geschichte als Unterhaltung machte den Professor zum "telly don", zum Fernsehstar am Sonntagnachmittag, der seine Vorlesungen ohne Notizen vortrug. Seine Geschichte war die der kleinen Anekdoten und großen Ereignisse. Das ließ sich leichter vermitteln als fußnotenschwere Theorie. Und Taylor liebte die Provokation, den Widerspruch, die Debatte, ob im Kolleg oder vor laufender Kamera.
Fortschrittmacher
Das Paradoxe fordert die Biographin heraus. Weil das Buch nicht eine Spezialstudie der Historiographiegeschichte ist, legt Burk weniger Gewicht auf Taylors vorwiegend diplomatiehistorisches Werk als auf sein undiplomatisches Wirken. Im Ergebnis ist ihr ein vorzügliches, kenntnisreiches und elegant geschriebenes Porträt des Historikers als ewig junger, zorniger Mann gelungen. Aber man hätte sich auch noch eingehendere Analysen von Taylors Schriften und ihre Einordnung in den zeitgenössischen wissenschaftlichen und politischen Diskurs gewünscht. Zwar stellt Burk die wichtigsten Bücher vor und bezieht die Rezeptionsgeschichte mit ein. Doch was verbindet die Bücher über das Habsburgerreich, europäische Diplomatie zwischen 1848 und 1918, deutsche Kolonialgeschichte, den Ersten und Zweiten Weltkrieg sowie englische Geschichte der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, und wo treffen historisches Denken und politisches Urteilen bei Taylor aufeinander?
Bekanntlich schrieb der Liebhaber schneller Sportwagen, der in Leitartikeln gegen Geschwindigkeitsbegrenzungen polemisierte, seine über sechshundert Essays in einem rasanten Tempo. Und obwohl er seine Themen nicht schweren Herzens wechselte, hält sie bei allem Spiel mit dem Kontrapunkt der geradezu missionsbeseelte Gedanke des frei geborenen Engländers zusammen: England als auserwählte Nation, dem whiggistischen Fortschrittsmythos genauso verpflichtet wie der Verteidigung der Freiheit gegen Europas Diktaturen.
Schon 1967 hatte Isaiah Berlin Taylors Memoiren eines der interessantesten ungeschriebenen Bücher seiner Zeit genannt und ihren Hauptdarsteller aufgefordert, sie zu schreiben, was dieser dann gleich zweifach tat. Wohl stellten sie, so Berlin, eine intellektuelle Odyssee dar. Doch das mache sie, auch als Zeugnis ihrer Zeit, erst richtig spannend. Kathleen Burk hat einen großen Versuch unternommen, Odysseus zu bändigen und seine Irrfahrten zu erklären. Eigentlich aber kann er nur ein Rätsel bleiben.
BENEDIKT STUCHTEY
Kathleen Burk: "Troublemaker". The life and history of A. J. P. Taylor. Yale University Press, New Haven 2000. XIV, 491 S., geb., 19,95 brit. Pfund.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ohne Tempolimit: Kathleen Burk kann A.J.P. Taylor nicht bremsen
Das zehn Jahre vor seinem Tod erstellte Werkverzeichnis enthält mehrere tausend Einträge. Ihr Autor erhielt drei Festschriften. 1977 widmete ihm sogar das "Journal of Modern History" eine Sondernummer. Allein der Verkauf seiner 23 Bücher und der Übersetzungsrechte, seine annähernd 1600 Buchrezensionen und Kolumnen sowie seine stete Präsenz im Radio und im Fernsehen machten A. J. P. Taylor (1906 bis 1990) zu einem Millionär. Bis in die Gegenwart ist er der breiten Öffentlichkeit als "The History Man" im Gedächtnis geblieben. Doch kämpfte der zweifellos populärste englische Historiker seit Gibbon und Macaulay zeit seines Lebens um Anerkennung in der Fachwelt, die ihm nie ganz gewährt wurde.
Kathleen Burk hätte ihren Lehrer nicht treffender als einen "Troublemaker" bezeichnen können: Der Sohn eines Baumwollhändlers aus Lancashire und einer in der sozialistischen Politik engagierten Mutter schrieb die Geschichte der britischen Gesellschaftskritik und gehörte selbst nie ganz zum Establishment. Er suchte die Nähe zur politischen und intellektuellen Macht und hielt sie zugleich auf Distanz. Seine beruflichen und lebensweltlichen Stationen Manchester, Oxford und London spiegeln seine Ambitionen wider. Letztlich konnten nur die Möglichkeiten der Metropole seinen Ehrgeiz befriedigen. Der angestrebte königliche Lehrstuhl in Oxford blieb ihm verwehrt, und nach der Veröffentlichung seines stark umstrittenen Buches über die Ursprünge des Zweiten Weltkriegs wurde seine Lehrbefugnis nicht erneuert. In spektakulärer Manier gab Taylor seine Mitgliedschaft in der British Academy 1980 auf, weil er den Ausschluß des der Spionage überführten Anthony Blunt, Kurator Ihrer Majestät Gemäldesammlungen, nicht akzeptieren wollte. Der radikale Individualismus, den Taylor an Bismarck verehrte und in seinen Studien über Cobden und Bright predigte, reflektierte den persönlichen Geltungsdrang des Exzentrikers.
Kein Bild von sich pflegte Taylor so gezielt wie das des ewigen Außenseiters. Wer gegen Hitler kämpfte und für Abrüstung, wer sich früh zu Labour bekannte und spät eine hagiographische Arbeit über den Zeitungsmagnaten Lord Beaverbrook verfaßte, der stilisierte gekonnt seine Unberechenbarkeit. Wenige britische Intellektuelle des zwanzigsten Jahrhunderts könnten von sich behaupten, gleichermaßen magnetisch Bewunderer und Kritiker auf sich gezogen zu haben. Kaum einer davon wurde zu seinen Freunden, viele aber zu seinen Feinden. Berühmt geworden ist die schonungslose Auseinandersetzung mit Hugh Trevor-Roper, bei der es um Hitlers Rolle und die Schuld der Deutschen ging. Es schien, als wollte Taylor die Einzigartigkeit der Verbrechen der Naziherrschaft und deren Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg relativieren. Seine Schwäche in der Argumentation war keine Folge mangelnder Literaturkenntnis, sondern Resultat seines Glaubens, gänzlich auf das Studium der Archivquellen verzichten zu können. Auch seiner Biographin hinterließ er einen fast vollständig vernichteten Nachlaß.
Sperrfeuerzunge
Golo Mann und Gerhard Ritter sparten nicht minder mit Vorwürfen an Taylors zum Teil absurder Deutung der deutschen Geschichte in seinem im letzten Kriegsjahr verfaßten Bestseller "The Course of German History", der seitdem Generationen von englischen Schülern und Studenten mit auf den Weg gegeben wurde. Eine unwiderrufliche deutsche Teilung strebte er ebenso an wie eine anglo-sowjetische Allianz, von der er sich Stabilität in Europa versprach. Als konservativer Gelehrter war Taylor ein sozialistischer Reformer, als Verehrer von Macaulays Individualismus ein Kritiker der kolonialen Expansion und nuklearen Nachrüstung. Aus seiner Abneigung gegen die Vereinigten Staaten machte er nie einen Hehl.
Sein Mentor Lewis Namier, der Historiker gesellschaftlicher Eliten und parlamentarischer Rhetorik, konnte nicht verstehen, wie bereitwillig Taylor sich gelegentlich auf sprachliches Stammtischniveau herabließ. In diesem Zusammenhang wäre es interessant gewesen, von Burk mehr über Taylors persönliche Beziehung zu seinen Lehrern und Schülern zu erfahren, über den beruflichen Alltag in der Universität. Übte er nur am Bildschirm oder auch im Seminarraum prägenden Einfluß aus? Er selbst verglich seinen unverkennbaren Stil mit der Wirkung eines Maschinengewehrs: In kurzen markanten Sätzen, kraftvollem Stakkato, lebhaft und abrupt, konnte er Pathos und Kühle im gleichen Absatz sich abwechseln lassen.
So wie Taylor schrieb, so lebte er. Das Schreiben war für ihn, der dreimal heiratete, sechs Kinder und auch manche Liebesaffären hatte, eine rastlose Passion. Einmal meinte er, daß ihn das Schreiben an sich mehr interessiere und erfülle als der Gegenstand. Der Autor, der die Geschichtswissenschaft mit Skepsis betrachtete, verlangte vom Historiker, keine politische, religiöse oder soziale Verantwortung für seine Arbeit zu empfinden, sondern allein die Freude an der Vergangenheit weiterzugeben. Geschichte als Unterhaltung machte den Professor zum "telly don", zum Fernsehstar am Sonntagnachmittag, der seine Vorlesungen ohne Notizen vortrug. Seine Geschichte war die der kleinen Anekdoten und großen Ereignisse. Das ließ sich leichter vermitteln als fußnotenschwere Theorie. Und Taylor liebte die Provokation, den Widerspruch, die Debatte, ob im Kolleg oder vor laufender Kamera.
Fortschrittmacher
Das Paradoxe fordert die Biographin heraus. Weil das Buch nicht eine Spezialstudie der Historiographiegeschichte ist, legt Burk weniger Gewicht auf Taylors vorwiegend diplomatiehistorisches Werk als auf sein undiplomatisches Wirken. Im Ergebnis ist ihr ein vorzügliches, kenntnisreiches und elegant geschriebenes Porträt des Historikers als ewig junger, zorniger Mann gelungen. Aber man hätte sich auch noch eingehendere Analysen von Taylors Schriften und ihre Einordnung in den zeitgenössischen wissenschaftlichen und politischen Diskurs gewünscht. Zwar stellt Burk die wichtigsten Bücher vor und bezieht die Rezeptionsgeschichte mit ein. Doch was verbindet die Bücher über das Habsburgerreich, europäische Diplomatie zwischen 1848 und 1918, deutsche Kolonialgeschichte, den Ersten und Zweiten Weltkrieg sowie englische Geschichte der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, und wo treffen historisches Denken und politisches Urteilen bei Taylor aufeinander?
Bekanntlich schrieb der Liebhaber schneller Sportwagen, der in Leitartikeln gegen Geschwindigkeitsbegrenzungen polemisierte, seine über sechshundert Essays in einem rasanten Tempo. Und obwohl er seine Themen nicht schweren Herzens wechselte, hält sie bei allem Spiel mit dem Kontrapunkt der geradezu missionsbeseelte Gedanke des frei geborenen Engländers zusammen: England als auserwählte Nation, dem whiggistischen Fortschrittsmythos genauso verpflichtet wie der Verteidigung der Freiheit gegen Europas Diktaturen.
Schon 1967 hatte Isaiah Berlin Taylors Memoiren eines der interessantesten ungeschriebenen Bücher seiner Zeit genannt und ihren Hauptdarsteller aufgefordert, sie zu schreiben, was dieser dann gleich zweifach tat. Wohl stellten sie, so Berlin, eine intellektuelle Odyssee dar. Doch das mache sie, auch als Zeugnis ihrer Zeit, erst richtig spannend. Kathleen Burk hat einen großen Versuch unternommen, Odysseus zu bändigen und seine Irrfahrten zu erklären. Eigentlich aber kann er nur ein Rätsel bleiben.
BENEDIKT STUCHTEY
Kathleen Burk: "Troublemaker". The life and history of A. J. P. Taylor. Yale University Press, New Haven 2000. XIV, 491 S., geb., 19,95 brit. Pfund.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main