Schlesinger treibt ein perfektes Vexierspiel um zwei Identitäten und zwei Lebensentwürfe im geteilten Deutschland. Strehlow, Immobilienmakler aus Düsseldorf, will Mitte der 80er Jahre in Berlin das Geschäft seines Lebens abschließen. Eher zufällig gerät er in ein Ostberliner Cafe, wo er plötzlich seinem Doppelgänger gegenübersitzt. Selbst als Strehlow seine ehemalige Freundin wiedertrifft, glaubt er an Zufälle, aber da ist er schon in eine Falle gelaufen. "Einmal mehr bestätigt der Roman, daß die literarische Verarbeitung gesellschaftlicher Zustände erst eine Weile nach deren Untergang gelingen kann." Der Spiegel.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.07.2000Weißt du noch, die Kreppschuhe?
Schöne Endzeit: Klaus Schlesinger und die DDR der siebziger Jahre
So kann es einem ergehen, packt ihn die Sentimentalität. Plötzlich, von einer Stunde auf die andere, verliert er den Verstand. Sogar die 50000 DM, die Strehlow aus Düsseldorf in der Brusttasche trägt, die Schmiergelder, mit denen er, ganz rheinischer Kapitalist, in West-Berlin das große Geschäft machen wollte, sind da bald schon vergessen - vergessen, nur weil der Held den Ausstieg verpasste, die letzte Station der U-Bahn im Westen. Was danach folgt, ergibt sich zwangsläufig: Alles hat die literarische Vorsehung geregelt im Osten.
Schlimmes ist zu vermuten, als es den Verirrten gleich nach der zufälligen Ankunft am Bahnhof Friedrichstraße, "mitten im Kommunismus", weiter in die Stadt hineinzieht, weg von den dunklen Machenschaften des Westens in den Rauch eines schummerigen Cafés, an den Tisch eines Mannes, der - wären Haare und Bart nur besser gepflegt - sein Doppelgänger sein könnte. Denn die Männer passen nicht nur im Alter und in der Größe zusammen, auch ihre Schicksale sind zum Vergleich geschaffen. Beide haben sie Architektur studiert, und beide sind sie irgendwie gescheitert, der eine, der mit dem Westgeld, indem er zum Makler wurde, der andere, der mit dem DDR-Pass, indem er die Karriere aufgab, um sich als "Komparse", als Heizer und Gemüsehändler treu zu bleiben, nicht schonend die "feingliedrigen, von dünnen Adern durchzogenen Klavierspielerhände". Sicher, scheint es ihm, haben sie alle die Ideale bewahrt, die er fahren ließ, damals, 1962, als er selbst in den Westen floh, weil er die Enge nicht mehr ertrug. Jetzt erst, im reifen Alter, kann er ihren Reiz neu entdecken. Immer wieder, mehrere Tage hintereinander zieht es ihn vom Ku'damm zurück über die Grenze in das kleine Café, zu den burschikosen Kellnerinnen Traudl und Mausi und zu dem Unbekannten.
Nicht bloß die Adresse, die der fremde Freund nennt, ist einmal seine eigene gewesen, auch über die Frau, von der er sich vor Zeiten trennt, kann der eine dem anderen manches erzählen. Auf der denkbar kürzesten Strecke führt der Weg zurück in die alte Wohnung. Im Bett seiner Jugendliebe, beim "flackernden Schein einer fast heruntergebrannten Kerze", endet Strehlows Geschichte notgedrungen. "Glücklich" kann der Heimkehrer nach zweiundzwanzig Jahren feststellen, "dass ihre Körper zueinander passten". Wie seine, so werden "die Vorstellungen" des Lesers "in einem nicht für möglich gehaltenen Maße übertroffen": Zwar kann der Held die Kreppschuhe, die er einst ausziehen musste, weil er sonst, mit den dicken Sohlen, nicht ins Fluchtauto gepasst hätte, zwar kann er sie nicht wieder finden, dafür aber entdeckt er bei der Geliebten das Bild eines jungen Mannes, der ihm verdächtig ähnlich sieht. Gern, glaubt die Mutter, werde ihn der Sohn, ein angehender Offizier, kennen lernen.
Als eine kleine, aber menschlich großzügige Welt entpuppt sich ganz unverhofft die alte DDR, jene Gesellschaft, die der Autor Klaus Schlesinger, zerfallen mit der Kulturpolitik, 1980 selbst verlassen hatte und von der er doch nie wirklich losgekommen ist. Diesen Verlust, das Resultat der Geschichte, kann der Schriftsteller so schnell nicht verschmerzen. Die Sehnsucht wenigstens muss damit versöhnen; freundlich lenkt sie den Blick zurück auf die Ost-Berliner Szene, auf das freiere, auf das billige Leben in den provisorisch möblierten Wohnungen in bröckelndem Altbau, auf die schöne Endzeit, auf das Dasein an der Grenze. Dort, wo man die Nähe des Westens spürte, ohne dass man ihn aushalten musste, im Milieu der sozialistischen Boheme fühlt sich der Erzähler geborgen.
Die siebziger Jahre, als man unter Honecker über Ulbricht schon sagen durfte, was Schlesinger jetzt noch einmal wiederholt, sind seine Zeit gewesen. Ihren Ton trifft er durchaus überzeugend. Gelungen ist ihm ein Buch von gestern, keines über Vergangenheit. Im Regal der älteren Namen wird es seinen Platz finden. Bekannte stehen ringsum: zu hören ist die vertraute Sprache. Auch Christa Wolf hätte diese Fortsetzung ihres "Geteilten Himmels" - philosophisch vertiefter - einfallen können; auch Hermann Kant wäre die Geschichte zuzutrauen, dann freilich gewürzt mit einer Ironie, die bei Schlesinger nur leise Wellen schlägt, kurz vor dem Ende, als sich der Doppelgänger, der Idealist, mit dem gestohlenen Pass des anderen nach dem Westen absetzt, während Strehlow im Osten zurückbleibt, erschrocken und "glücklich" zugleich - glücklich verführt von der Sentimentalität.
THOMAS RIETZSCHEL
Klaus Schlesinger: "Trug". Roman. Aufbau Verlag, Berlin 2000. 190 S., geb., 32,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schöne Endzeit: Klaus Schlesinger und die DDR der siebziger Jahre
So kann es einem ergehen, packt ihn die Sentimentalität. Plötzlich, von einer Stunde auf die andere, verliert er den Verstand. Sogar die 50000 DM, die Strehlow aus Düsseldorf in der Brusttasche trägt, die Schmiergelder, mit denen er, ganz rheinischer Kapitalist, in West-Berlin das große Geschäft machen wollte, sind da bald schon vergessen - vergessen, nur weil der Held den Ausstieg verpasste, die letzte Station der U-Bahn im Westen. Was danach folgt, ergibt sich zwangsläufig: Alles hat die literarische Vorsehung geregelt im Osten.
Schlimmes ist zu vermuten, als es den Verirrten gleich nach der zufälligen Ankunft am Bahnhof Friedrichstraße, "mitten im Kommunismus", weiter in die Stadt hineinzieht, weg von den dunklen Machenschaften des Westens in den Rauch eines schummerigen Cafés, an den Tisch eines Mannes, der - wären Haare und Bart nur besser gepflegt - sein Doppelgänger sein könnte. Denn die Männer passen nicht nur im Alter und in der Größe zusammen, auch ihre Schicksale sind zum Vergleich geschaffen. Beide haben sie Architektur studiert, und beide sind sie irgendwie gescheitert, der eine, der mit dem Westgeld, indem er zum Makler wurde, der andere, der mit dem DDR-Pass, indem er die Karriere aufgab, um sich als "Komparse", als Heizer und Gemüsehändler treu zu bleiben, nicht schonend die "feingliedrigen, von dünnen Adern durchzogenen Klavierspielerhände". Sicher, scheint es ihm, haben sie alle die Ideale bewahrt, die er fahren ließ, damals, 1962, als er selbst in den Westen floh, weil er die Enge nicht mehr ertrug. Jetzt erst, im reifen Alter, kann er ihren Reiz neu entdecken. Immer wieder, mehrere Tage hintereinander zieht es ihn vom Ku'damm zurück über die Grenze in das kleine Café, zu den burschikosen Kellnerinnen Traudl und Mausi und zu dem Unbekannten.
Nicht bloß die Adresse, die der fremde Freund nennt, ist einmal seine eigene gewesen, auch über die Frau, von der er sich vor Zeiten trennt, kann der eine dem anderen manches erzählen. Auf der denkbar kürzesten Strecke führt der Weg zurück in die alte Wohnung. Im Bett seiner Jugendliebe, beim "flackernden Schein einer fast heruntergebrannten Kerze", endet Strehlows Geschichte notgedrungen. "Glücklich" kann der Heimkehrer nach zweiundzwanzig Jahren feststellen, "dass ihre Körper zueinander passten". Wie seine, so werden "die Vorstellungen" des Lesers "in einem nicht für möglich gehaltenen Maße übertroffen": Zwar kann der Held die Kreppschuhe, die er einst ausziehen musste, weil er sonst, mit den dicken Sohlen, nicht ins Fluchtauto gepasst hätte, zwar kann er sie nicht wieder finden, dafür aber entdeckt er bei der Geliebten das Bild eines jungen Mannes, der ihm verdächtig ähnlich sieht. Gern, glaubt die Mutter, werde ihn der Sohn, ein angehender Offizier, kennen lernen.
Als eine kleine, aber menschlich großzügige Welt entpuppt sich ganz unverhofft die alte DDR, jene Gesellschaft, die der Autor Klaus Schlesinger, zerfallen mit der Kulturpolitik, 1980 selbst verlassen hatte und von der er doch nie wirklich losgekommen ist. Diesen Verlust, das Resultat der Geschichte, kann der Schriftsteller so schnell nicht verschmerzen. Die Sehnsucht wenigstens muss damit versöhnen; freundlich lenkt sie den Blick zurück auf die Ost-Berliner Szene, auf das freiere, auf das billige Leben in den provisorisch möblierten Wohnungen in bröckelndem Altbau, auf die schöne Endzeit, auf das Dasein an der Grenze. Dort, wo man die Nähe des Westens spürte, ohne dass man ihn aushalten musste, im Milieu der sozialistischen Boheme fühlt sich der Erzähler geborgen.
Die siebziger Jahre, als man unter Honecker über Ulbricht schon sagen durfte, was Schlesinger jetzt noch einmal wiederholt, sind seine Zeit gewesen. Ihren Ton trifft er durchaus überzeugend. Gelungen ist ihm ein Buch von gestern, keines über Vergangenheit. Im Regal der älteren Namen wird es seinen Platz finden. Bekannte stehen ringsum: zu hören ist die vertraute Sprache. Auch Christa Wolf hätte diese Fortsetzung ihres "Geteilten Himmels" - philosophisch vertiefter - einfallen können; auch Hermann Kant wäre die Geschichte zuzutrauen, dann freilich gewürzt mit einer Ironie, die bei Schlesinger nur leise Wellen schlägt, kurz vor dem Ende, als sich der Doppelgänger, der Idealist, mit dem gestohlenen Pass des anderen nach dem Westen absetzt, während Strehlow im Osten zurückbleibt, erschrocken und "glücklich" zugleich - glücklich verführt von der Sentimentalität.
THOMAS RIETZSCHEL
Klaus Schlesinger: "Trug". Roman. Aufbau Verlag, Berlin 2000. 190 S., geb., 32,- DM.
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