Der übermäßige Genuss von Wein, Bier oder Met war auch im Mittelalter nicht selten Auslöser von Gewalttaten. Trunkene waren als Opfer und Täter in typische Gewaltsituationen verwickelt. Das Spektrum von Übergriffen im Alkoholrausch reichte von relativ harmlosen Beleidigungen bis hin zum Mord. Die enthemmende und aggressionsfördernde Wirkung von Alkohol stellt eine kriminalgeschichtliche Konstante dar. Dabei lassen sich prägnante historische Unterschiede in den Trinkgewohnheiten, der gesellschaftlichen Akzeptanz von Trunkenheit und der Bewertung von Rauschtaten beobachten. Das Buch von Reinhold Kaiser zeigt, wie im frühen Mittelalter die christlich-antike Weinkultur des Mittelmeerraumes mit den "weinlosen" Trinksitten der Barbaren zusammenstößt. Erst allmählich kommt es zu einer kulturellen Anpassung der barbarisch-heidnischen Gebräuche, insbesondere was das Trinken sozialer Gruppen angeht. Mit Hilfe ritueller Formen des Alkoholgenusses - Minne- und Caritastrinken, convivium (Gas tmahl) und potatio (Trinkgelage) - versuchen Kirche, weltliche Obrigkeit und Genossenschaften der Gilden, die gewaltsamen Folgen individuellen und kollektiven Rausches einzudämmen. Wie die Geschichte der Gewalttaten lehrt, ist dies aber nur bedingt geglückt.
Ob Männer, ob Frauen: Reinhold Kaiser ist beim Trinken nüchtern
Als der berühmte Pariser Philosoph Peter Abaelard die Liebschaft mit seiner Schülerin Heloïse durch seine Entmannung gesühnt hatte (1119), empfahl er der Mutter seines Sohnes ein asketisches Leben im Kloster. Auch hier drohten Heloïse jedoch Gefahren, besonders durch den Wein; Abaelard warnte die Geliebte: "Von allem, was der Mensch zu sich nimmt, ist nichts so gefährlich, nichts so schändlich, nichts ein ebenso starker Feind unseres Standes und unserer frommen Versenkung wie der Wein . . . Der Wein ist der Feind, den wir im Innern tragen; wohin wir uns auch wenden, wir nehmen unsern Feind mit." Allerdings wirke der gegorene Rebensaft auf die Geschlechter verschieden; Männer mache er wild, also gewalttätig, er bringe sie um den Verstand und könne sogar im Abfall von Gott enden. Frauen, die doch von Natur schwächer veranlagt seien, würden hingegen mit dem Wein leichter fertig.
Zur Erklärung griff Abaelard auf die antike Naturwissenschaft zurück und zitierte aus den "Saturnalien" des Macrobius (um 400): "Nach Aristoteles' Angabe werden Weiber selten berauscht, alte Männer dagegen oft. Der Feuchtigkeitsgehalt des weiblichen Leibes ist besonders hoch, wie das schon die glatte, glänzende Haut beweist; daß der weibliche Körper sich von überschüssiger Feuchtigkeit befreien muß, sieht man vor allem an seinen regelmäßigen Selbstreinigungen. Wenn eine Frau Wein trinkt, dann versinkt er geradezu in diesem Flüssigkeitsüberschuß und büßt seine eigentliche Kraft und Stärke ein, wird auch nicht so leicht zu Kopf steigen, da seine Angriffslust erloschen ist . . . Der weibliche Körper muß sich oft reinigen; er ist mit Hautöffnungen besetzt, in ihnen öffnen sich Gänge und Bahnen für das Feuchte, das zusammenfließt und nach außen drängt. Durch diese Öffnungen entweicht auch schnell der Dunst des Weines."
Die moderne Forschung kann nachweisen, daß Abaelards These über die Alkoholverträglichkeit von Frauen falsch ist. Im Gegenteil wird Alkohol von männlichen Körpern schneller abgebaut als von weiblichen (100:85 Milligramm Alkohol pro Kilogramm Gewicht). Die Blutalkoholkonzentration ist bei gleichem Körpergewicht und gleicher Alkoholmenge bei Frauen also größer als bei Männern. Abaelard, der durch seine neue Art des wissenschaftlichen Fragens an sich einen klareren Blick für die Realitäten hatte als viele seiner gelehrten Zeitgenossen, war bei seiner Diagnose offenbar befangen in antiken Vorurteilen; oder hatte er einfach zu selten Gelegenheit, Frauen im Rausch zu erleben, da diesen schon von den Römern der Weingenuß verboten worden war?
Wenn die Alkoholismusforschung der Gegenwart zur Korrektur mittelalterlicher - und antiker - Fehlurteile über die Wirkung von Rauschgetränken führt, dann mag es erlaubt sein, auch andere Instrumente und Ergebnisse dieser Wissenschaft zur Kritik des älteren Alkoholismus nutzbar zu machen. Der Zürcher Mediävist Reinhold Kaiser hat sich dieser Aufgabe für das frühe und hohe Mittelalter angenommen und dabei, auch unter dem Eindruck alltäglicher Erfahrungen, den Zusammenhang von "Trunkenheit und Gewalt" analysiert. Kaiser beschränkt sich ausschließlich auf das lateinische Europa, wo von Süd nach Nord, von West nach Ost schrittweise der Wein als Rauschgetränk vorgedrungen ist und mit seinem stärkeren Alkoholgehalt (sechs bis vierzehn Prozent, Südweine fünfzehn bis zweiundzwanzig Prozent) vielerorts das Bier (zwei bis acht Prozent) verdrängte. Alkoholgetränke, die durch Destillation gewonnen werden (Branntwein, Schnaps, Likör) und einen weitaus höheren Alkoholanteil haben (dreißig bis sechzig Prozent), kannte man hingegen im Abendland erst seit dem späten Mittelalter.
Reinhold Kaiser, das ist unverkennbar, treibt Schauder und Sorge um vor den Folgen des Alkohols für das friedliche Zusammenleben der Menschen; einmal muß er den Leser geradezu daran erinnern, wie die kollektive Rauschatmosphäre im Pariser Mai 1968 zu quasirevolutionären "Ereignissen" geführt habe. Als historischer Anthropologe interessiert er sich nicht, wie die ältere sozialhistorische Forschung, für die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Ursachen des Alkoholkonsums und der Gewaltexzesse, sondern er will dem Alkohol eine mitbestimmende Funktion im Ereignisablauf der Geschichte sichern. Tatsächlich kann er plausibel machen, daß etwa der latente Konflikt zwischen den Harzburger Dienstleuten König Heinrichs IV. und den Bürgern von Goslar nicht aufgebrochen wäre, wenn sich die Harzburger bei einem Besuch der Stadt nicht betrunken hätten; "die Trunkenheit ist ja stets die Mutter des Streites", fügte schon der mittelalterliche Chronist seinem Bericht hinzu.
Anderswo überdehnt Kaiser aber seine Argumentation und verkehrt die Überlieferung zu einem angeblichen Beleg für moderne Theorien des männlichen Verhaltens unter Alkoholeinfluß. Der erste schwere Kampf zwischen der Bürgerschaft von Köln und ihrem Erzbischof als Stadtherrn war 1074 zwar ohne Zweifel durch den Alkoholgenuß aufbegehrender Kaufmannssöhne angeheizt worden, doch geht es zu weit, drei Totschläge als Taten unter Weinrausch zu deklarieren. Unser mittelalterlicher Berichterstatter sagt nämlich ausdrücklich, daß die Trunkenheit mit der Zeit abzuebben pflege, die Wut und der Haß deshalb aber nicht vergehen.
Ohne Zweifel hat Kaiser aber recht mit dem Vorwurf, daß die jüngere Forschung das Gewaltpotential des Alkoholkonsums unterschätzt hat. Das gilt für das Verhalten einzelner Zecher in der Taverne, vor allem aber für das weitverbreitete kollektive Trinken. Zuletzt hat man immer wieder den "frieden-, bündnis- und gemeinschaftsstiftenden Charakter" des Mahles von Menschen in sozialen Gruppen betont, die einander zu Hilfe und Beistand verpflichteten; mit gutem Grund schränkt Kaiser diese Auffassung als sozialromantische Wahrnehmung ein. Dem gemeinsamen Essen und Trinken war nämlich der Streit inhärent, sei es, daß es um die Rang- und Sitzordnung ging, um die Rivalität beim Gaben- und Geschenkaustausch, um Prahlerei, verletzte Ehre, Beleidigung oder auch um Hetzreden anwesender Frauen; außerdem konnte der partikulare Friede im Innern oft nur dadurch erhalten bleiben, daß man die Aggression nach außen wandte. Das gemeinsame Essen und Trinken konnte Frieden genauso stiften wie Streit, es war eine ambivalente Einrichtung.
Trotz dieser beachtlichen Einsichten führt Kaisers Verzicht auf eine sozialhistorische Erweiterung seines anthropologischen Ansatzes auch zu Fehlschlüssen. Ein Beispiel sind die Gilden der Karolingerzeit; in diesen Genossenschaften haben sich Laien und Kleriker, Frauen und Männer zu verschiedenen Zwecken zusammengeschlossen. Eines der konstitutiven Merkmale war das gemeinsame Mahl. Da sich die Gildebrüder (und -schwestern) abseits der politischen und kirchlichen Verbände organisierten und ihre Treffen im verborgenen, außerhalb der Kirchen und vorzugsweise im abgelegenen Bergland abhielten, waren sie Herrschern und Prälaten suspekt. Die Kirche bekämpfte namentlich die Mähler mit dem Vorwurf, es handele sich um Völlerei und Trinkgelage, die zu Unzucht, Gewalt und Gotteslästerung führen. Nach herrschender Auffassung waren diese Unterstellungen zwar nicht unberechtigt, doch träfen sie nicht den Kern; mit der Anschuldigung der Maßlosigkeit hätten sich die Kirchenführer vielmehr gegen den konstitutiven Akt des Mahles selbst gewendet, es sei also um den Kampf gegen Genossenschaften gegangen, die der kirchlichen Autorität nicht zugänglich gewesen wären.
Am Beispiel des Erzbischofs Hinkmar von Reims, der das Gildewesen 852 scharf kritisierte, will Kaiser nun zeigen, daß der Bischof gar nicht gegen die Gilde mit Essen und Trinken selbst vorgegangen sei, sondern in der pastoralen Tradition der Kirche nur die Exzesse verbieten wollte. Die Lehrmeinung, nach der in Hinkmars Vorwurf eine Diffamierung des Gildelebens zu sehen sei, hält Kaiser für eine Verharmlosung der klar bezeugten Praxis. Dabei verkennt er freilich, daß der bischöfliche Regelungsanspruch die selbstgesetzte Lebensordnung der Gilde zerstören mußte; in späteren, vor allem angelsächsischen Zeugnissen haben die Gilden denn auch dem übermäßigen Essen und Trinken durch eigene Statuten vorgebeugt. Hinkmar wollte auch festsetzen, welche Aufgaben und Lebensform sich die laikal-klerikal, männlich-weiblich gemischten Gruppen geben sollten. Er wollte die Gilde durch eine herrschaftlich geordnete Genossenschaft ersetzen. So war sein Vorwurf der Konsumexzesse, auch wenn er hier und da und immer wieder seine Berechtigung gehabt haben mag, eben doch ein Instrument zur Durchsetzung bischöflicher Autorität. Ob Alkohol zur Gewalttätigkeit führt, hing nicht nur von der Kraft zur Mäßigung, sondern auch von den Lebensumständen ab, die mit moralischen oder religiösen Normen allein nicht angemessen beurteilt werden können.
MICHAEL BORGOLTE
Reinhold Kaiser: "Trunkenheit und Gewalt im Mittelalter". Unter Mitwirkung von Marie-Thérèse Kaiser-Guyot. Böhlau Verlag, Köln, Weimar, Wien 2002. 389 S., 18 Abb., geb., 34,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Alkohol, so die These des Autors, macht gewalttätig und ist darum für etliche Ausbrüche von Gewalt in der Geschichte verantwortlich, erklärt Michael Borgolte. Dabei betrachte er unter dem anthropologischen Blickwinkel die Einführung und Ausbreitung des Weines im lateinischen Europa des Mittelalters. Für Kaiser hat der Alkohol eine "mitbestimmende Funktion im Ereignisablauf der Geschichte", meint Borgolte. Von "Schauder und Sorge" vor den Folgen des Alkoholgenusses getrieben, will er zeigen, dass es ohne Alkohol zu bestimmten Kampfgeschehnissen gar nicht erst gekommen wäre. Auch wenn der Rezensent Kaiser darin zustimmt, dass der Einfluss von Alkohol oft verharmlost wird, hält er manche seiner Schlüsse für etwas überzogen. So bezweifelt Borgolte, ob wirklich allein der Alkohol für Mord und Totschlag verantwortlich zu machen ist, wie Kaiser teilweise behauptet. Trotz "beachtlicher Einsichten" resultieren aus seinem Verzicht auf die sozialhistorische Sichtweise mitunter auch Fehlschlüsse, urteilt der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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