Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.05.2011Verbrechen als Metapher
Flächenbrand: Peter Temple ist der beste Krimiautor Australiens. Mit dem neuen Roman "Wahrheit" treibt er das Genre auf die Spitze - und darüber hinaus.
Von Hannes Hintermeier
Er verlässt gerade einen Tatort, eine junge Frau, erstochen, ihr kleines Kind totgetreten, da kommt schon der nächste Anruf. Eine Tote im Prosilio-Tower. Der bestgesicherte Wohnturm der Stadt, brandneuer Luxus für reiche Leute. Inspector Stephen Villani könnte den Fall an seinen Stellvertreter abgeben. Stattdessen sagt er: "Nein, dieses Kreuz nehme ich auf mich." Mit diesem Herz und Hirn negierenden Pflichtbewusstsein hat er es bis zum Leiter des Morddezernats von Melbourne gebracht. Den Preis zahlt er als gescheiterter Sohn, mieser Vater, treuloser Ehemann. Ein herrischer Typ, der es zu genießen scheint, dass man ihm mit einer gewissen Furcht begegnet. Der Fall der nackten Toten, die feucht in einer leeren, gläsernen Badewanne liegt, wird sich fast bis kurz zu einer Staatskrise weiten.
Wenn es denn einen Staat gäbe, der dieses Prädikat verdient hätte. Aber danach sieht es nicht aus in dem Australien, das Peter Temple seinem Roman "Wahrheit" als Grundrauschen unterlegt. Diese Gegenwart ist hauptsächlich eines: durch und durch korrumpiert. Und stark geschichtet. Sie fällt auseinander, in die skrupellosen Neureichen wie Max Hendry, der ein Schnellbahnsystem über die Stadt bauen will, oder den Infrastrukturminister Koenig, der sich Prostituierte kommen lässt und schlimme Dinge mit ihnen anstellt. Die Medien sind eine Hetzmaschine, die Investoren eine Bande von Raptoren, die in diesem glühend heißen Hochsommer leichte Demokratenbeute machen.
Die mit neuesten elektronischen Apparaten ausgestattete Polizei fliegt mit dem Hubschrauber auf Verbrecherjagd, ortet per Satellit - und hängt doch am Gängelband der Politik. Jeder Fahndungserfolg ist eine Schneise, die der Dschungel der Gesetzwidrigkeit geräuschlos überwuchert. Auch Villani ist kein vorbildlicher Beamter. Einst half er einem Kollegen, die Erschießung eines unbewaffneten Verdächtigen wie Notwehr aussehen zu lassen. Das könnte ihn die Zukunft kosten, je nach Ausgang der nächsten Wahl. Gewinnen die Richtigen, winkt ihm eine Beförderung - gesetzt, er ermittelt nicht in alle Richtungen gleich sorgfältig, versteht sich.
Die Wurzeln seiner privaten Malaise liegen in seiner großenteils mutterlosen Kindheit. Sein Vater Bob ist ein Vietnam-Veteran, der mit Kindern nichts anfangen konnte, was seine Söhne zu spüren bekamen. Er hat im Hinterland von Melbourne eine Farm, die langsam, aber sicher von der Feuerwalze der vorrückenden Waldbrände eingekreist wird. Der Senior hat einiges zu verteidigen. Einen ganzen Wald hat er vor dreißig Jahren gepflanzt, Eukalyptusbäume, Weidenmyrten, Mahagoni. Und dreitausend Eichen - "aus Eicheln gezogen, die in zwei aufeinanderfolgenden Jahren im Herbst in jeder Herrenallee für die Gefallenen der Weltkriege gesammelt wurden, durch die Bob Villani fuhr, in jedem botanischen Garten, an dem er vorbeikam".
Villani, ein sprechender Name. Im Englischen an "villain" (Schurke) erinnernd, im Italienischen "villano", den Rüpel, bezeichnend. Temple-Leser kennen ihn aus dem meisterlichen Roman "Kalter August" (F.A.Z. vom 10. Februar 2007). Dort war er wie andere Charaktere aus "Wahrheit" auch eine Nebenfigur, der Vorgesetzte des gestrandeten Detective Joe Cashin. Ihr inzwischen verstorbener Chef Singleton sitzt beiden wie ein Papagei auf der Schulter und bläst ihnen noch aus dem Jenseits seine Polizeiweisheiten ins Ohr. "Scheiß auf die Aufklärungsrate. Wichtig ist, dass man anständige Arbeit leistet."
Das komplizierte Erzählgeflecht ist der vorläufige Höhepunkt in Peter Temples Werk. Er greift die Motivfäden auf, die in "Kalter August" und früheren Romanen der "Jack Irish"-Serie ausgelegt wurden: Kapital, das sich Land, Einfluss und Leben kauft; Drogenhandel und Prostitution, die Sucht nach Sportwetten - der Titel des Romans (im Original "Truth") bezieht sich auf den Namen des besten Rennpferdes, das Bob Villani je hatte. Wie gleichgültig Temple die Genrefrage ist oder jedenfalls sein kann, zeigt auch, dass er 2010 als erster Krimiautor mit dem Miles Franklin Award ausgezeichnet wurde, dem wichtigsten Literaturpreis des Landes. Die Krimipreise hat er sowieso alle bereits mehrfach abgeräumt.
Das Bild, das Temple von dieser Gesellschaft zeichnet, basiert auf seiner Überzeugung, dass es sehr wohl mit der Geschichte des Landes als ehemaliger Sträflingskolonie zusammenhängt, wie rückhaltlos man sich dort für die begeistert, die jenseits des Gesetzes stehen. Der 1946 in Südafrika geborene ehemalige Journalist hat darauf hingewiesen, er benutze das Verbrechen nur, um über andere Dinge zu schreiben. Womöglich hat ihn das diesmal die Balance gekostet. Nie zuvor hat er einen solchen Berg von Übeltätern, bestialischen Morden, Verderbtheit aufgefahren. Gerahmt von der am Horizont aufziehenden Feuerwalze, werden nicht nur diverse Schwerverbrecher zum Tod befördert, auch Villanis fünfzehnjährige Tochter stirbt an einer Überdosis, seine Ersatzmutter geht vor die Hunde, die Ehe zerbricht endgültig.
Wer mit der Gattung "Krimi" ein seitenverschlingendes Lesetempo verbindet, ist hier falsch. Wer spricht? Das ist häufig die Frage. Temple wechselt zwischen Dialog und innerem Monolog. Beschleunigt, streut Erinnerungsfetzen ein, zerschneidet mit dem Handyklingeln Handlungsstränge. Rede-Gegenrede beherrscht er meisterlich, seine Polizisten sprechen nicht in ganzen Sätzen, sondern bellen und raunzen rüde, schmutzig, voller Ressentiment und feiner Bösartigkeit - besonders in den von Hassliebe geprägten Hakeleien mit den Pathologen. Diesen Sound zu übersetzen war keine leichte Aufgabe.
Technisch ist der Reduktionist schon in der Nähe von William Gaddis, in der rissigen Lakonie erinnert er an den besten Stellen an J. M. Coetzees "Schande". Die Beschränkung dieser Schreibweise schlägt immer dann durch, wenn Temple zu stark aufträgt: In "Kalter August" blieb neben dem Bösen noch Raum zum Atmen, das ländliche Setting war überschaubar. Jetzt leiden alle Figuren auf dem wüsten Schlachtfeld des Großstadtkriminalromans an akutem Sauerstoffmangel. Das Finale im Feuerschlund ist dennoch großes Kino, wie es auch Dante gefallen hätte. Villani übersteht die Feuerwalze ausgeglüht an Körper und Seele.
Er ist nun endgültig der zeitgemäße homo australiensis, der Junge vom Land, der es den Stadtjungen gezeigt hat, der es ihnen auch künftig zeigen wird. Aber zunächst muss er wieder ein Mensch werden, Wasser bekommen wie die Eichen. "Ich bin jetzt schwammartig. Nichts als Wasser und Löcher", sagte er zu Cashin. Die Löscharbeiten nach dem großen Feuer haben ihn nach oben gespült. Jetzt ist er Kripochef.
Peter Temple: "Wahrheit". Roman.
Aus dem Englischen von Hans M. Herzog. C. Bertelsmann Verlag, München 2011. 477 S., geb., 21,99.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Flächenbrand: Peter Temple ist der beste Krimiautor Australiens. Mit dem neuen Roman "Wahrheit" treibt er das Genre auf die Spitze - und darüber hinaus.
Von Hannes Hintermeier
Er verlässt gerade einen Tatort, eine junge Frau, erstochen, ihr kleines Kind totgetreten, da kommt schon der nächste Anruf. Eine Tote im Prosilio-Tower. Der bestgesicherte Wohnturm der Stadt, brandneuer Luxus für reiche Leute. Inspector Stephen Villani könnte den Fall an seinen Stellvertreter abgeben. Stattdessen sagt er: "Nein, dieses Kreuz nehme ich auf mich." Mit diesem Herz und Hirn negierenden Pflichtbewusstsein hat er es bis zum Leiter des Morddezernats von Melbourne gebracht. Den Preis zahlt er als gescheiterter Sohn, mieser Vater, treuloser Ehemann. Ein herrischer Typ, der es zu genießen scheint, dass man ihm mit einer gewissen Furcht begegnet. Der Fall der nackten Toten, die feucht in einer leeren, gläsernen Badewanne liegt, wird sich fast bis kurz zu einer Staatskrise weiten.
Wenn es denn einen Staat gäbe, der dieses Prädikat verdient hätte. Aber danach sieht es nicht aus in dem Australien, das Peter Temple seinem Roman "Wahrheit" als Grundrauschen unterlegt. Diese Gegenwart ist hauptsächlich eines: durch und durch korrumpiert. Und stark geschichtet. Sie fällt auseinander, in die skrupellosen Neureichen wie Max Hendry, der ein Schnellbahnsystem über die Stadt bauen will, oder den Infrastrukturminister Koenig, der sich Prostituierte kommen lässt und schlimme Dinge mit ihnen anstellt. Die Medien sind eine Hetzmaschine, die Investoren eine Bande von Raptoren, die in diesem glühend heißen Hochsommer leichte Demokratenbeute machen.
Die mit neuesten elektronischen Apparaten ausgestattete Polizei fliegt mit dem Hubschrauber auf Verbrecherjagd, ortet per Satellit - und hängt doch am Gängelband der Politik. Jeder Fahndungserfolg ist eine Schneise, die der Dschungel der Gesetzwidrigkeit geräuschlos überwuchert. Auch Villani ist kein vorbildlicher Beamter. Einst half er einem Kollegen, die Erschießung eines unbewaffneten Verdächtigen wie Notwehr aussehen zu lassen. Das könnte ihn die Zukunft kosten, je nach Ausgang der nächsten Wahl. Gewinnen die Richtigen, winkt ihm eine Beförderung - gesetzt, er ermittelt nicht in alle Richtungen gleich sorgfältig, versteht sich.
Die Wurzeln seiner privaten Malaise liegen in seiner großenteils mutterlosen Kindheit. Sein Vater Bob ist ein Vietnam-Veteran, der mit Kindern nichts anfangen konnte, was seine Söhne zu spüren bekamen. Er hat im Hinterland von Melbourne eine Farm, die langsam, aber sicher von der Feuerwalze der vorrückenden Waldbrände eingekreist wird. Der Senior hat einiges zu verteidigen. Einen ganzen Wald hat er vor dreißig Jahren gepflanzt, Eukalyptusbäume, Weidenmyrten, Mahagoni. Und dreitausend Eichen - "aus Eicheln gezogen, die in zwei aufeinanderfolgenden Jahren im Herbst in jeder Herrenallee für die Gefallenen der Weltkriege gesammelt wurden, durch die Bob Villani fuhr, in jedem botanischen Garten, an dem er vorbeikam".
Villani, ein sprechender Name. Im Englischen an "villain" (Schurke) erinnernd, im Italienischen "villano", den Rüpel, bezeichnend. Temple-Leser kennen ihn aus dem meisterlichen Roman "Kalter August" (F.A.Z. vom 10. Februar 2007). Dort war er wie andere Charaktere aus "Wahrheit" auch eine Nebenfigur, der Vorgesetzte des gestrandeten Detective Joe Cashin. Ihr inzwischen verstorbener Chef Singleton sitzt beiden wie ein Papagei auf der Schulter und bläst ihnen noch aus dem Jenseits seine Polizeiweisheiten ins Ohr. "Scheiß auf die Aufklärungsrate. Wichtig ist, dass man anständige Arbeit leistet."
Das komplizierte Erzählgeflecht ist der vorläufige Höhepunkt in Peter Temples Werk. Er greift die Motivfäden auf, die in "Kalter August" und früheren Romanen der "Jack Irish"-Serie ausgelegt wurden: Kapital, das sich Land, Einfluss und Leben kauft; Drogenhandel und Prostitution, die Sucht nach Sportwetten - der Titel des Romans (im Original "Truth") bezieht sich auf den Namen des besten Rennpferdes, das Bob Villani je hatte. Wie gleichgültig Temple die Genrefrage ist oder jedenfalls sein kann, zeigt auch, dass er 2010 als erster Krimiautor mit dem Miles Franklin Award ausgezeichnet wurde, dem wichtigsten Literaturpreis des Landes. Die Krimipreise hat er sowieso alle bereits mehrfach abgeräumt.
Das Bild, das Temple von dieser Gesellschaft zeichnet, basiert auf seiner Überzeugung, dass es sehr wohl mit der Geschichte des Landes als ehemaliger Sträflingskolonie zusammenhängt, wie rückhaltlos man sich dort für die begeistert, die jenseits des Gesetzes stehen. Der 1946 in Südafrika geborene ehemalige Journalist hat darauf hingewiesen, er benutze das Verbrechen nur, um über andere Dinge zu schreiben. Womöglich hat ihn das diesmal die Balance gekostet. Nie zuvor hat er einen solchen Berg von Übeltätern, bestialischen Morden, Verderbtheit aufgefahren. Gerahmt von der am Horizont aufziehenden Feuerwalze, werden nicht nur diverse Schwerverbrecher zum Tod befördert, auch Villanis fünfzehnjährige Tochter stirbt an einer Überdosis, seine Ersatzmutter geht vor die Hunde, die Ehe zerbricht endgültig.
Wer mit der Gattung "Krimi" ein seitenverschlingendes Lesetempo verbindet, ist hier falsch. Wer spricht? Das ist häufig die Frage. Temple wechselt zwischen Dialog und innerem Monolog. Beschleunigt, streut Erinnerungsfetzen ein, zerschneidet mit dem Handyklingeln Handlungsstränge. Rede-Gegenrede beherrscht er meisterlich, seine Polizisten sprechen nicht in ganzen Sätzen, sondern bellen und raunzen rüde, schmutzig, voller Ressentiment und feiner Bösartigkeit - besonders in den von Hassliebe geprägten Hakeleien mit den Pathologen. Diesen Sound zu übersetzen war keine leichte Aufgabe.
Technisch ist der Reduktionist schon in der Nähe von William Gaddis, in der rissigen Lakonie erinnert er an den besten Stellen an J. M. Coetzees "Schande". Die Beschränkung dieser Schreibweise schlägt immer dann durch, wenn Temple zu stark aufträgt: In "Kalter August" blieb neben dem Bösen noch Raum zum Atmen, das ländliche Setting war überschaubar. Jetzt leiden alle Figuren auf dem wüsten Schlachtfeld des Großstadtkriminalromans an akutem Sauerstoffmangel. Das Finale im Feuerschlund ist dennoch großes Kino, wie es auch Dante gefallen hätte. Villani übersteht die Feuerwalze ausgeglüht an Körper und Seele.
Er ist nun endgültig der zeitgemäße homo australiensis, der Junge vom Land, der es den Stadtjungen gezeigt hat, der es ihnen auch künftig zeigen wird. Aber zunächst muss er wieder ein Mensch werden, Wasser bekommen wie die Eichen. "Ich bin jetzt schwammartig. Nichts als Wasser und Löcher", sagte er zu Cashin. Die Löscharbeiten nach dem großen Feuer haben ihn nach oben gespült. Jetzt ist er Kripochef.
Peter Temple: "Wahrheit". Roman.
Aus dem Englischen von Hans M. Herzog. C. Bertelsmann Verlag, München 2011. 477 S., geb., 21,99.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main