Gerüchte über Tschaikowskys angeblichen Selbstmord wegen eines drohenden Skandals begannen in Russland schon bald nach dem Tod des Komponisten zu zirkulieren. Im Westen wurden sie erst seit den 70er Jahren verbreitet. Hier fand vor allem eine dieser - zum Faktum erklärten - Legenden, die eines geheimen Ehrengerichts, Aufmerksamkeit in wissenschaftlichen Publikationen, in der Literatur, auf der Opernbühne. Dies geschah umso bereitwilliger, als sich all diese Erfindungen leicht mit einem "wahren Gerücht" verbinden ließen, dem von Tschaikowskys homosexueller Natur. Es ist an der Zeit, sich von den Legenden um den Tod des Komponisten endgültig zu trennen. Nach eingehender Analyse und Diskussion zahlreicher zeitgenössischer Quellen gelangt Poznansky zu dem einzig möglichen Resultat: Tschaikowsky starb an Urämie als Folge der asiatischen Cholera.Gerüchte über Tschaikowskys angeblichen Selbstmord wegen eines drohenden Skandals begannen in Rußland schon bald nach dem Tod des Komponisten zu zirkulieren. Im Westen wurden sie erst seit den 1970er Jahren verbreitet: Hier fand vor allem eine dieser - zum Faktum erklärten - Legenden, die eines geheimen Ehrengerichts, Aufmerksamkeit in wissenschaftlichen Publikationen, in der Literatur, auf der Opernbühne. Dies geschah umso bereitwilliger, als sich all diese Erfindungen leicht mit einem "wahren Gerücht" verbinden ließen, dem von Tschaikowskys homosexueller Natur. Es ist an der Zeit, sich von den Legenden um den Tod des Komponisten endgültig zu trennen. Nach eingehender Analyse und Diskussion zahlreicher zeitgenössischer Quellen gelangt Poznansky zu dem einzig möglichen Resultat: Tschaikowsky starb an Urämie als Folge der asiatischen Cholera.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.08.1998Der Tod in den Zeiten der Cholera
Alexander Poznansky widerlegt Gerüchte um Tschaikowsky
Bereits 1988 wandte sich der russisch-amerikanische Tschaikowsky-Biograph Alexander Poznansky in einem amerikanischen Journal gegen die Legendenbildung um den Tod des Komponisten. Aus seinem Aufsatz wurde ein Buch, das 1993 in Moskau erschien und dessen deutsche Übersetzung der Schott-Verlag in diesem Jahr gleich zweimal publiziert hat: als Beitrag im dritten Band der Cajkovskij-Studien der Tschaikowsky-Gesellschaft Klin/Tübingen e. V. und als handliches, bebildertes Taschenbuch. "Es ist an der Zeit", schreibt Thomas Kohlhase im Vorwort, "die Legenden um Cajkovskijs angeblichen Selbstmord jetzt auch in einer deutschsprachigen Publikation mit Tatsachen und Materialien zu konfrontieren und diese unter biographischen und psychologischen, kultur- und sozialhistorischen sowie juristischen und medizinischen Aspekten zu beleuchten."
Der kirchenbehördlichen Todesbescheinigung zufolge starb Peter Tschaikowsky am 6. November 1893 in St. Petersburg an der Cholera. Hartnäckig aber halten sich bis heute Gerüchte, sein plötzliches Ende haben andere Ursachen gehabt. War es nicht seltsam, daß der privilegierte Künstler an einer sogenannten "Armenkrankheit" zugrunde gegangen sein sollte? Wirkte nicht der tragische Charakter der neun Tage vor seinem Tod uraufgeführten "Symphonie Pathétique" wie ein bewußter Abschied vom Leben?
Als die russische Emigrantin Alexandra Orlova 1980 behauptete, der Komponist sei von ehemaligen Schulkameraden zum Selbstmord durch Gift gezwungen worden, weil seine Liebe zu jungen Männern einen Skandal heraufzubeschwören drohte, wurde diese Spekulation rasch populär und fand sogar Eingang in ein renommiertes Musiklexikon. Tschaikowskys Homosexualität war jahrelang so konsequent vertuscht worden, daß sie nun als Erklärung für alle Fragwürdigkeiten seiner Biographie herhalten mußte.
Und Fragen gab es viele. Denn bereits Modest, der jüngste Bruder des Komponisten und selbst homosexuell, hatte in allen ihm zugänglichen Dokumenten mit dunkler Tinte oder Schere unkenntlich gemacht, was Tschaikowskys Andenken hätte trüben können. Das betraf nicht nur freimütige Berichte über flüchtige Affären mit käuflichen Liebhabern und Tschaikowskys schwärmerische, meist platonische Zuwendung zu Freunden und Kollegen, sondern auch vulgärsprachliche Ausdrücke und scheinbar taktlose Bemerkungen. Einen solchen Prozeß des selektiven Erinnerns setzte die sowjetische Kulturbürokratie mit unerbittlicher Gründlichkeit fort, und selbst nach der Perestroika walten Reste einer freiwilligen Selbstzensur, wann immer dem Wunschbild vom großen Idol Tschaikowsky Gefahr droht.
Da Alexandra Orlova in den späten dreißiger Jahren im Tschaikowsky-Haus-Museum in Klin (bei Moskau) gearbeitet hatte, schien es vorstellbar, daß sie Zugang zu bislang unbekannten Dokumenten besaß. Daher hielten es nur wenige Forscher für nötig, Orlovas Darstellung zu in Frage zu stellen. Anders Alexander Poznansky: Er stellt jede einzelne ihrer Behauptungen auf den Prüfstand wissenschaftlicher Haltbarkeit. Dabei ergibt sich, daß Orlovas Ausführungen nicht nur nicht beweisbar, sondern in wesentlichen Details schlichtweg falsch sind. Zudem sprechen alle Tatsachen, die Poznansky über Homosexualität in Rußland, über Taschaikowskys Liebesleben und vor allem über sein Ende sorgsam zusammenträgt, eindeutig gegen Orlovas Hypothese einer Selbstvergiftung und für die offizielle Version einer Cholera-Erkrankung mit tödlichen Folgen. Akribisch forscht Poznansky der Geschichte der Petersburger Cholera-Epidemien nach, überprüft einige Ansteckungsmöglichkeiten, schildert detailliert den Krankheits- und Behandlungsverlauf und gibt offizielle und private Berichte von Tschaikowskys letzten Stunden und der Beerdigung wieder.
Die Materialfülle macht Poznanskys Buch zu einem fesselnden Sittenbild, das manchmal geradezu Züge eines Kriminalromans trägt. Auch über die - streckenweise recht aufdringliche - Auseinandersetzung mit Orlova hinaus läßt sich die Darstellung schlüssig nachvollziehen. Vor allem zeigt Poznansky, daß homosexuelle Handlungen im Rußland des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts zwar theoretisch mit Verbannung, Rechtsverlust und mit zehn bis zwölf Jahren Zwangsarbeit bestraft werden konnten; de facto aber wurde die gleichgeschlechtliche Liebe in gehobenen Kreisen bis zum öffentlichen Skandal ausgelebt, ohne daß auch nur ein Fall von strafrechtlicher Verfolgung bekannt wäre.
Mit Hilfe bislang unterdrückter Materialien erläutert Poznansky seine These, daß Tschaikowsky - zumindest gegen Ende seines Lebens - keineswewgs unter seiner Veranlagung litt. Damit entkräftet er Orlovas Hauptargument für die Selbstmordtheorie und macht deutlich, daß solche Spekulationen und Legendenbildungen überhaupt erst möglich geworden sind durch die Tabuisierung von Tschaikowskys Homosexualität. Eine Mythenbildung kann dem Verständis des Komponisten jedoch nur schaden. Es ist tatsächlich an der Zeit, den historischen Tschaikowsky aus seiner ideologischen Verbrämung zu befreien - so wie es die Tschaikowsky-Gesellschaft mit ihrer ersten authentischen Werkedition des Komponisten vor hat; in sowjetischen Notenausgaben wurden ideologisch unliebsame Passagen kommentarlos ausgelassen oder gar umkomponiert. In der Absicht der Entmythologisierung trifft sich Poznanskys Buch mit der Hauptlinie der gegenwärtigen Tschaikowsky-Forschung. KADJA GRÖNKE
Alexander Poznansky: "Tschaikowskys Tod." Geschichte und Revision einer Legende. Aus dem Russischen von Irmgard Wille. Schott Verlag, Mainz 1998. 218 S., Abb., br., 19,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Alexander Poznansky widerlegt Gerüchte um Tschaikowsky
Bereits 1988 wandte sich der russisch-amerikanische Tschaikowsky-Biograph Alexander Poznansky in einem amerikanischen Journal gegen die Legendenbildung um den Tod des Komponisten. Aus seinem Aufsatz wurde ein Buch, das 1993 in Moskau erschien und dessen deutsche Übersetzung der Schott-Verlag in diesem Jahr gleich zweimal publiziert hat: als Beitrag im dritten Band der Cajkovskij-Studien der Tschaikowsky-Gesellschaft Klin/Tübingen e. V. und als handliches, bebildertes Taschenbuch. "Es ist an der Zeit", schreibt Thomas Kohlhase im Vorwort, "die Legenden um Cajkovskijs angeblichen Selbstmord jetzt auch in einer deutschsprachigen Publikation mit Tatsachen und Materialien zu konfrontieren und diese unter biographischen und psychologischen, kultur- und sozialhistorischen sowie juristischen und medizinischen Aspekten zu beleuchten."
Der kirchenbehördlichen Todesbescheinigung zufolge starb Peter Tschaikowsky am 6. November 1893 in St. Petersburg an der Cholera. Hartnäckig aber halten sich bis heute Gerüchte, sein plötzliches Ende haben andere Ursachen gehabt. War es nicht seltsam, daß der privilegierte Künstler an einer sogenannten "Armenkrankheit" zugrunde gegangen sein sollte? Wirkte nicht der tragische Charakter der neun Tage vor seinem Tod uraufgeführten "Symphonie Pathétique" wie ein bewußter Abschied vom Leben?
Als die russische Emigrantin Alexandra Orlova 1980 behauptete, der Komponist sei von ehemaligen Schulkameraden zum Selbstmord durch Gift gezwungen worden, weil seine Liebe zu jungen Männern einen Skandal heraufzubeschwören drohte, wurde diese Spekulation rasch populär und fand sogar Eingang in ein renommiertes Musiklexikon. Tschaikowskys Homosexualität war jahrelang so konsequent vertuscht worden, daß sie nun als Erklärung für alle Fragwürdigkeiten seiner Biographie herhalten mußte.
Und Fragen gab es viele. Denn bereits Modest, der jüngste Bruder des Komponisten und selbst homosexuell, hatte in allen ihm zugänglichen Dokumenten mit dunkler Tinte oder Schere unkenntlich gemacht, was Tschaikowskys Andenken hätte trüben können. Das betraf nicht nur freimütige Berichte über flüchtige Affären mit käuflichen Liebhabern und Tschaikowskys schwärmerische, meist platonische Zuwendung zu Freunden und Kollegen, sondern auch vulgärsprachliche Ausdrücke und scheinbar taktlose Bemerkungen. Einen solchen Prozeß des selektiven Erinnerns setzte die sowjetische Kulturbürokratie mit unerbittlicher Gründlichkeit fort, und selbst nach der Perestroika walten Reste einer freiwilligen Selbstzensur, wann immer dem Wunschbild vom großen Idol Tschaikowsky Gefahr droht.
Da Alexandra Orlova in den späten dreißiger Jahren im Tschaikowsky-Haus-Museum in Klin (bei Moskau) gearbeitet hatte, schien es vorstellbar, daß sie Zugang zu bislang unbekannten Dokumenten besaß. Daher hielten es nur wenige Forscher für nötig, Orlovas Darstellung zu in Frage zu stellen. Anders Alexander Poznansky: Er stellt jede einzelne ihrer Behauptungen auf den Prüfstand wissenschaftlicher Haltbarkeit. Dabei ergibt sich, daß Orlovas Ausführungen nicht nur nicht beweisbar, sondern in wesentlichen Details schlichtweg falsch sind. Zudem sprechen alle Tatsachen, die Poznansky über Homosexualität in Rußland, über Taschaikowskys Liebesleben und vor allem über sein Ende sorgsam zusammenträgt, eindeutig gegen Orlovas Hypothese einer Selbstvergiftung und für die offizielle Version einer Cholera-Erkrankung mit tödlichen Folgen. Akribisch forscht Poznansky der Geschichte der Petersburger Cholera-Epidemien nach, überprüft einige Ansteckungsmöglichkeiten, schildert detailliert den Krankheits- und Behandlungsverlauf und gibt offizielle und private Berichte von Tschaikowskys letzten Stunden und der Beerdigung wieder.
Die Materialfülle macht Poznanskys Buch zu einem fesselnden Sittenbild, das manchmal geradezu Züge eines Kriminalromans trägt. Auch über die - streckenweise recht aufdringliche - Auseinandersetzung mit Orlova hinaus läßt sich die Darstellung schlüssig nachvollziehen. Vor allem zeigt Poznansky, daß homosexuelle Handlungen im Rußland des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts zwar theoretisch mit Verbannung, Rechtsverlust und mit zehn bis zwölf Jahren Zwangsarbeit bestraft werden konnten; de facto aber wurde die gleichgeschlechtliche Liebe in gehobenen Kreisen bis zum öffentlichen Skandal ausgelebt, ohne daß auch nur ein Fall von strafrechtlicher Verfolgung bekannt wäre.
Mit Hilfe bislang unterdrückter Materialien erläutert Poznansky seine These, daß Tschaikowsky - zumindest gegen Ende seines Lebens - keineswewgs unter seiner Veranlagung litt. Damit entkräftet er Orlovas Hauptargument für die Selbstmordtheorie und macht deutlich, daß solche Spekulationen und Legendenbildungen überhaupt erst möglich geworden sind durch die Tabuisierung von Tschaikowskys Homosexualität. Eine Mythenbildung kann dem Verständis des Komponisten jedoch nur schaden. Es ist tatsächlich an der Zeit, den historischen Tschaikowsky aus seiner ideologischen Verbrämung zu befreien - so wie es die Tschaikowsky-Gesellschaft mit ihrer ersten authentischen Werkedition des Komponisten vor hat; in sowjetischen Notenausgaben wurden ideologisch unliebsame Passagen kommentarlos ausgelassen oder gar umkomponiert. In der Absicht der Entmythologisierung trifft sich Poznanskys Buch mit der Hauptlinie der gegenwärtigen Tschaikowsky-Forschung. KADJA GRÖNKE
Alexander Poznansky: "Tschaikowskys Tod." Geschichte und Revision einer Legende. Aus dem Russischen von Irmgard Wille. Schott Verlag, Mainz 1998. 218 S., Abb., br., 19,90 DM.
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