Prag Anfang der 50er Jahre, es herrscht der Kalte Krieg. Josef und Ctirad Masin kämpfen gegen das kommunistische Regime in der Tschechoslowakei, sie verüben Sabotageakte, Sprengstoffanschläge, überfallen eine Polizeistation und einen Geldtransporter, Menschen sterben. Doch der erwartete Dritte Weltkrieg bleibt aus, die Verfolgung nimmt zu und so beschließen die Brüder und ihre Helfer nach West-Berlin zu fliehen und sich dort der US-Army anzuschließen. Das löst die größte Fahndungsaktion in der Geschichte der DDR-Volkspolizei, genannt Tschechenkrieg, aus. Auf ihrer Flucht hinterlassen die Brüder eine blutige Spur ...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.06.2019Zwei Brüder sehen rot
Ein kraftvolles Stück Erinnerungsliteratur: Die Graphic Novel "Tschechenkrieg" von Jan Novák und Jaromír 99 erzählt vom Widerstand gegen die kommunistische Diktatur.
Vermächtnisse verpflichten - und wenn sie von einem als Nationalheld verehrten Vater stammen, tun sie es umso mehr. Josef Masin war während der deutschen Okkupation Oberstleutnant in der tschechoslowakischen Armee. Als sich das Land offiziell Hitler ergab, ging er in den Widerstand. Unter dem Spitznamen "Zuckerbäcker" verübte er Sabotageakte, wurde von den Nationalsozialisten gefasst und im Zuge der Vergeltungsaktionen nach dem Heydrich-Attentat 1942 in der Haft ermordet. Das recht abstrakte Vermächtnis, in einem versteckten Brief an seine Söhne Josef und Ctirad übermittelt, lautete: "Denkt immer daran, dass die Verteidigung von Heimat und Volk die Pflicht eines jeden wahren Tschechen ist."
Im Kalten Krieg zu Beginn der fünfziger Jahre folgen die Söhne seinem Auftrag. Die Kommunisten beherrschen das Land in stalinistischer Manier, es gibt Schauprozesse und eine mächtige Staatssicherheit. Josef und Ctirad Masin gründen eine Widerstandszelle und beschließen, über die DDR nach West-Berlin zu fliehen, um, so der fast romantische Plan, mit Hilfe der US Army ihr Heimatland zu befreien. Doch der Fluchtplan, mit dem die Graphic Novel beginnt, fliegt auf. Die Brüder geraten in die Fänge der Geheimpolizei, werden gefoltert, kommen schließlich frei und können ihren Plan doch noch in die Tat umsetzen. Ihre abenteuerliche Flucht durch die DDR, die in ihrem absurd glücklichen Verlauf an den Irrlauf Svejks nach Budweis erinnert, gelingt spektakulär und dank einer beträchtlichen Skrupellosigkeit. Für die Volkspolizei wird die immer wieder knapp scheiternde Fahndungsaktion, die intern "Tschechenkrieg" genannt wird, zur größten Pleite ihrer Geschichte.
Grundlage der gleichnamigen Graphic Novel von Jan Novák und Jaromír Svejdík alias Jaromír 99 ist ein siebenhundert Seiten dicker Roman des Erstgenannten, der bisher nur auf Englisch erschienen ist. Zwei Jahre lang hat Jaromír 99, der im persönlichen Gespräch darauf hinweist, dass man als Comic-Zeichner gleichzeitig für das Drehbuch, den Schnitt, die Kostüme und die Beleuchtung verantwortlich sei, an der grafischen Umsetzung gearbeitet, wobei er für sich, anders als in früheren Werken wie der großartigen Graphic Novel "Alois Nebel" (zusammen mit Jaroslav Rudis) oder dem Kafka-Comic "Das Schloss" (zusammen mit David Zane Mairowitz), in denen sich seine Bewunderung für die holzschnittartige Kunst von Frans Masereel verriet, die Farbe entdeckt, die er jedoch nur sparsam einsetzt. Neben gedeckten Braun- und Grautönen gibt es rosafarbene Akzente, mit denen vor allem die beiden Masin-Brüder und einige wenige zeitliche Rückblenden gekennzeichnet werden, zum anderen ein unnachgiebiges Rot, das die Suchscheinwerfer auf der Flucht durch die DDR markiert und immer wieder schlaglichtartig die Spannung erhöht.
Über die Radikalität der Masin-Brüder wird auch im heutigen Tschechien noch kontrovers diskutiert: Sind die beiden eingefleischten Kommunistenhasser bei ihren Widerstandsaktionen nicht zu brutal vorgegangen? Bei der Beschaffung von Waffen etwa schreckten sie nicht einmal vor dem Mord an Landsleuten zurück, was im Comic ohne viel Psychologie dargestellt wird. Insgesamt ist die Figurenzeichnung betont kantig und an tschechischen Abenteuer-Comics der fünfziger und sechziger Jahre orientiert, zuweilen erinnert sie gar an den sozialistischen Realismus.
Mit Lust am Spiel sind hingegen immer wieder Objekte im Stil der Pop-Art eingearbeitet, kunstvoll setzt Jaromír 99 die von der Staatssicherheit im Gefängnis betriebene Desorientierung ins Bild. Als eher intuitiv eingesetzte Leitmotive kehren Blut- und Wasserströme wieder, die in einer Art eingefrorener Zeitlupe festgehalten werden, was eindrucksvolle Effekte der Unmittelbarkeit erzeugt.
Doch trotz der vielen grafischen Akzente erfordert die Lektüre große Aufmerksamkeit. Die Zeitangaben wollen sorgfältig beachtet sein, und der Leser tappt wegen ausgesparter oder nur angedeuteter Informationen zum Teil wie die Masin-Brüder im Dunkeln. Am Ende des Comics ist man wegen des irrwitzigen Handlungsverlaufs fast geneigt, das Ganze für Fiktion zu halten. Es ist aber ein kraftvolles Stück Erinnerungsliteratur, in der man eine Menge über die Tschechoslowakei der fünfziger Jahre und eine in Teilen Europas fast vergessene Gewalt der Grenzziehung lernen kann. Die detailversessene grafische Umsetzung von Jaromír 99 bringt dabei immer wieder zum Staunen.
UWE EBBINGHAUS
Jan Novák und Jaromír Svejdík alias Jaromír 99: "Tschechenkrieg".
Graphic Novel.
Aus dem Tschechischen
von Mirko Kraetsch. Verlag Voland & Quist, Dresden 2019. 256 S., br., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein kraftvolles Stück Erinnerungsliteratur: Die Graphic Novel "Tschechenkrieg" von Jan Novák und Jaromír 99 erzählt vom Widerstand gegen die kommunistische Diktatur.
Vermächtnisse verpflichten - und wenn sie von einem als Nationalheld verehrten Vater stammen, tun sie es umso mehr. Josef Masin war während der deutschen Okkupation Oberstleutnant in der tschechoslowakischen Armee. Als sich das Land offiziell Hitler ergab, ging er in den Widerstand. Unter dem Spitznamen "Zuckerbäcker" verübte er Sabotageakte, wurde von den Nationalsozialisten gefasst und im Zuge der Vergeltungsaktionen nach dem Heydrich-Attentat 1942 in der Haft ermordet. Das recht abstrakte Vermächtnis, in einem versteckten Brief an seine Söhne Josef und Ctirad übermittelt, lautete: "Denkt immer daran, dass die Verteidigung von Heimat und Volk die Pflicht eines jeden wahren Tschechen ist."
Im Kalten Krieg zu Beginn der fünfziger Jahre folgen die Söhne seinem Auftrag. Die Kommunisten beherrschen das Land in stalinistischer Manier, es gibt Schauprozesse und eine mächtige Staatssicherheit. Josef und Ctirad Masin gründen eine Widerstandszelle und beschließen, über die DDR nach West-Berlin zu fliehen, um, so der fast romantische Plan, mit Hilfe der US Army ihr Heimatland zu befreien. Doch der Fluchtplan, mit dem die Graphic Novel beginnt, fliegt auf. Die Brüder geraten in die Fänge der Geheimpolizei, werden gefoltert, kommen schließlich frei und können ihren Plan doch noch in die Tat umsetzen. Ihre abenteuerliche Flucht durch die DDR, die in ihrem absurd glücklichen Verlauf an den Irrlauf Svejks nach Budweis erinnert, gelingt spektakulär und dank einer beträchtlichen Skrupellosigkeit. Für die Volkspolizei wird die immer wieder knapp scheiternde Fahndungsaktion, die intern "Tschechenkrieg" genannt wird, zur größten Pleite ihrer Geschichte.
Grundlage der gleichnamigen Graphic Novel von Jan Novák und Jaromír Svejdík alias Jaromír 99 ist ein siebenhundert Seiten dicker Roman des Erstgenannten, der bisher nur auf Englisch erschienen ist. Zwei Jahre lang hat Jaromír 99, der im persönlichen Gespräch darauf hinweist, dass man als Comic-Zeichner gleichzeitig für das Drehbuch, den Schnitt, die Kostüme und die Beleuchtung verantwortlich sei, an der grafischen Umsetzung gearbeitet, wobei er für sich, anders als in früheren Werken wie der großartigen Graphic Novel "Alois Nebel" (zusammen mit Jaroslav Rudis) oder dem Kafka-Comic "Das Schloss" (zusammen mit David Zane Mairowitz), in denen sich seine Bewunderung für die holzschnittartige Kunst von Frans Masereel verriet, die Farbe entdeckt, die er jedoch nur sparsam einsetzt. Neben gedeckten Braun- und Grautönen gibt es rosafarbene Akzente, mit denen vor allem die beiden Masin-Brüder und einige wenige zeitliche Rückblenden gekennzeichnet werden, zum anderen ein unnachgiebiges Rot, das die Suchscheinwerfer auf der Flucht durch die DDR markiert und immer wieder schlaglichtartig die Spannung erhöht.
Über die Radikalität der Masin-Brüder wird auch im heutigen Tschechien noch kontrovers diskutiert: Sind die beiden eingefleischten Kommunistenhasser bei ihren Widerstandsaktionen nicht zu brutal vorgegangen? Bei der Beschaffung von Waffen etwa schreckten sie nicht einmal vor dem Mord an Landsleuten zurück, was im Comic ohne viel Psychologie dargestellt wird. Insgesamt ist die Figurenzeichnung betont kantig und an tschechischen Abenteuer-Comics der fünfziger und sechziger Jahre orientiert, zuweilen erinnert sie gar an den sozialistischen Realismus.
Mit Lust am Spiel sind hingegen immer wieder Objekte im Stil der Pop-Art eingearbeitet, kunstvoll setzt Jaromír 99 die von der Staatssicherheit im Gefängnis betriebene Desorientierung ins Bild. Als eher intuitiv eingesetzte Leitmotive kehren Blut- und Wasserströme wieder, die in einer Art eingefrorener Zeitlupe festgehalten werden, was eindrucksvolle Effekte der Unmittelbarkeit erzeugt.
Doch trotz der vielen grafischen Akzente erfordert die Lektüre große Aufmerksamkeit. Die Zeitangaben wollen sorgfältig beachtet sein, und der Leser tappt wegen ausgesparter oder nur angedeuteter Informationen zum Teil wie die Masin-Brüder im Dunkeln. Am Ende des Comics ist man wegen des irrwitzigen Handlungsverlaufs fast geneigt, das Ganze für Fiktion zu halten. Es ist aber ein kraftvolles Stück Erinnerungsliteratur, in der man eine Menge über die Tschechoslowakei der fünfziger Jahre und eine in Teilen Europas fast vergessene Gewalt der Grenzziehung lernen kann. Die detailversessene grafische Umsetzung von Jaromír 99 bringt dabei immer wieder zum Staunen.
UWE EBBINGHAUS
Jan Novák und Jaromír Svejdík alias Jaromír 99: "Tschechenkrieg".
Graphic Novel.
Aus dem Tschechischen
von Mirko Kraetsch. Verlag Voland & Quist, Dresden 2019. 256 S., br., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»[...] ein kraftvolles Stück Erinnerungsliteratur [...]. Die detailversessene grafische Umsetzung von Jaromír 99 bringt dabei immer wieder zum Staunen.« Uwe Ebbinghaus, Frankfurter Allgemeine Zeitung »Wieder einmal beweist Jaromír 99, dass großartige Comickunst auch jenseits der klassischen Comicländer Frankreich, Japan oder USA entstehen kann. Spannend, tiefgründig und in eindrücklichen Bildern beleuchtet er ein auch in Tschechien wenig bekanntes Kapitel der Nachkriegszeit.« Jacek Slaski, tip Berlin »[Der] Comic-Roman überzeugt optisch und dramaturgisch und fesselt auch jene Leser, die wissen, wie diese Flucht endete.« Münchner Merkur »Als Graphic Novel ist 'Tschechenkrieg' ein lesenswertes Doku-Drama, das auch die Absurdität des Kalten Kriegs verdeutlicht.« Tino Dallmann, MDR Kultur »'Tschechenkrieg' lässt in düsteren Tönen eine spektakuläre Flucht durch die DDR aufleben.« Dimo Riess, Leipziger Volkszeitung