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Produktdetails
  • Verlag: Hanser, Carl
  • ISBN-13: 9783446180833
  • ISBN-10: 3446180834
  • Artikelnr.: 24347969
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.06.1995

Von kleinen und großen Russen
Aldo Buzzi ist immerhin weit herumgekommen

Viel Russisches hat der selbst in Italien nur wenigen bekannte Autor Aldo Buzzi gelesen, und er ist während seines langen Lebens auch gern "nach Moskau und anderswohin" gefahren. Wie der bedenklich mit Informationen geizende Klappentext des Hanser Travel Book immerhin verrät, hat der studierte Architekt des Jahrgangs 1910 nicht nur "beim Film und in einem Verlag" gearbeitet, sondern auch "mehrere Bücher verfaßt". Letzteres versteht sich offensichtlich von selbst, wenn man aus Como stammt, "der Stadt von Plinius dem Jüngeren und Plinius dem Älteren". Mit dieser Anmerkung wird allerdings nicht nur literarische Nachfolge insinuiert, sondern leider auch der Vergleich mit den beiden römischen Schriftstellern heraufbeschworen. Buzzi ist weder ein enzyklopädischer Kompilator wie der ältere Plinius, noch sind ihm seine Reiseschilderungen auch nur annähernd so bunt geraten wie die Gesellschaftstableaus des jüngeren Plinius.

Was Buzzi auszeichnet, sind eine große Belesenheit und eine geradezu enthusiastische Begeisterung für die Kultur des alten Rußland. Beides glaubte er seiner Mitwelt nicht vorenthalten zu dürfen. Und so erschienen schon vor mehreren Jahren in einem kleinen Mailänder Liebhaber-Verlag höchst unterschiedliche Notate aus dem Zettelkasten zu "zwei Schriften" gebündelt: "Tschechow in Sondrio" und "Andere Reisen" waren die Titel, die nur jene Literatursnobs erreichten, welche immer auf das Andere setzen, das auch gleich das Besondere zu sein hat, selbst wenn es oft nur durch bessere Ausstattung glänzt. Als das kleine, feine Buch eben, das bei privaten Cocktail-Empfängen auf den Salontischen ganz obenauf liegt.

Anders allerdings war an Buzzis hingewürfelten Lektüre- und Reise-Reminiszenzen höchstens die Nonchalance, mit der hier einem als ziemlich duldsam und kenntnislos vorausgesetzten Publikum vornehmlich russische, aber auch italienische und transozeanische faits divers zugeplaudert wurden. Daran hat sich auch in der Neuausgabe von 1994 bei Mondadori nichts geändert, die der deutschen Übersetzung zugrunde liegt. Obwohl der Autor für diese Veröffentlichung alles "nochmals durchgesehen, erweitert, gekürzt und auch auseinandergenommen und neu wieder zusammengesetzt" hat, blieb dem Buch auch diesmal in Italien ein größerer Erfolg versagt.

Auch bei uns wird es "Tschechow in Sondrio" schwer haben, soweit man das redselige Opus nicht - wie schon geschehen - einfach als Einschlaflektüre bemüht; es also zu einem Zeitpunkt liest, wo das Evasionsbedürfnis den Verstand überschwemmt. Der reagiert dann vielleicht nicht mehr auf die Fehler und Ungenauigkeiten, die die Qualität dieser Bildungshappen empfindlich beeinträchtigen.

In keinem Reisefeuilleton einer seriösen Tageszeitung jedenfalls hätte sich der Schreiber leisten dürfen, was hier in immerhin drei Verlagslektoraten nicht auffiel: So gibt es als Volk weder "kleine Russen" noch "große Russen", sondern nur Kleinrussen und Großrussen. Und um bei der Größe zu bleiben: Peter I., der Große genannt, war nicht "fast zwei Meter groß", sondern maß 2,12 Meter. Bei dem "Aufstand" seiner "Gefolgsleute", von denen nach Buzzis magisterhafter Zählung angeblich 799 aufgehängt wurden, handelte es sich um die Meuterei in der Moskauer Garnison der Strelitzenregimenter, nach der weit über tausend, möglicherweise sogar zweitausend teils geköpft, teils gerädert, teils gehängt wurden. Und kein Gutsbesitzer im zaristischen Rußland "besaß damals ein kleines Schloß". Die meisten Gutsbesitzer hatten zwar geräumige, aber schlichte hölzerne Landhäuser.

In denen gab es natürlich auch "Schaben" und wurde "Kohl" gegessen, der nach Buzzi "in Rußland unsterblich ist". Die Existenz von Kakerlaken (die schließlich auch in Mailand, dem Wohnsitz des Autors, nicht gerade selten sind) und von Kohl in Werk und Leben eines Tolstoi und Tschechow verführt den Italiener zu exotisierenden Abschweifungen. Das scheint anders, scheint komisch zu sein. Daß Leniwyje Schtschi frische Kohlsuppe heißt im Gegensatz zu Kisslyje Schtschi (Sauerkohlsuppe) und nichts mit "träge, faul, müßiggängerisch" zu tun hat, sei nur am Rande bemerkt, ebenso wie die Tatsache, daß Majakowski (schon sein Name zeigt es) keineswegs "ein Georgier wie Stalin" war, sondern als im Kaukasus geborener Russe dort auch seine Kindheit verbracht hat.

In ungehemmtem Assoziationsfluß reihen sich Klischees und Banalitäten. Von der "wahrscheinlich aus China stammenden Sitte, seine Frau auch ohne Grund zu verprügeln", über die "bei arm und reich gleichermaßen verbreitete Trunksucht", die sich wenigstens dadurch entschuldigen läßt, daß "man trinken kann, ohne etwas zu essen". Und man kann natürlich auch Bücher beginnen wie Dostojewski, der, "wenn er zur Feder griff, oft nicht wußte, was er schreiben würde". Nur hat der Autor von "Schuld und Sühne" den Teig eben nicht mit allen Eiern angerührt wie der vom eigenen Parlando hingerissene Buzzi, der schließlich seinen viel und wahllos zitierten Lieblingsautor Tschechow auch noch für die kecke Gimpelfängerei eines höchst albernen Titels strapaziert. Denn Tschechow ist nie im Hauptort des Veltlin gewesen. Nur Buzzis Großmutter hat in Sondrio gelebt, "unter der Obhut eines (leibeigenen) Dienstmädchens mit Namen Caterina, die mehr Geduld als eine Russin für die Launen ihrer Herrin aufbrachte".

Weniger Geduld für seine grillenhafte Assoziationsfreude fordert er seinem Publikum da ab, wo er in "Andere Reisen" nicht mehr mit seinen Lektürefrüchten jongliert, sondern mit gediegenen Impressionen aus Sizilien, der Lombardei und aus den Tropen aufwartet. Weniger mit Angelesenem auftrumpfend, wirkt der Rhythmus der Abschweifungen gelöster. Dennoch vermißt man auch da persönliche Schwingungen, das sinnenhafte Auge und eine Sprache, die die Farben des Anderen und Fremden aufblühen ließe. Es sei denn, wir begnügten uns mit der überraschenden Mitteilung, daß "der Gorgonzola im letzten Jahrhundert aus Versehen erfunden" wurde. UTE STEMPEL

Aldo Buzzi: "Tschechow in Sondrio". Reisen nach Moskau und anderswohin. Aus dem Italienischen übersetzt von Karin Krieger. Carl Hanser Verlag, München 1995. 154 S., geb., 25,- DM.

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