Die Tschernobyl-Katastrophe ereignete sich vor 25 Jahren und hat durch die aktuellen Ereignisse in Japan eine schreckliche Brisanz gewonnen. Das preisgekrönte Buch von Swetlana Alexijewitsch in einer Neuausgabe mit einem aktuellen Vorwort .
Über mehrere Jahre hat Swetlana Alexijewitsch Menschen befragt, deren Leben von der Tschernobyl-Katastrophe gezeichnet wurden. Entstanden sind eindringliche psychologische Portraits - literarisch bearbeitete Monologe - , die von Menschen berichten, die sich ihre Zukunft in einer Welt der Toten aufbauen müssen.
Über mehrere Jahre hat Swetlana Alexijewitsch Menschen befragt, deren Leben von der Tschernobyl-Katastrophe gezeichnet wurden. Entstanden sind eindringliche psychologische Portraits - literarisch bearbeitete Monologe - , die von Menschen berichten, die sich ihre Zukunft in einer Welt der Toten aufbauen müssen.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.04.2006Eine Katastrophe - auch jenseits der Strahlung
Tschernobyl: Bestandsaufnahmen 20 Jahre nach dem - die damalige Vorstellungskraft sprengenden - Unglück in dem Kernkraftwerk
Was sich in der Nacht vom 25. auf den 26. April 1986 im angeblich sichersten Kernkraftwerk der Sowjetunion zugetragen hat, war nicht allein eine technische Katastrophe; es war und ist auch eine Katastrophe des Bewusstseins. So formuliert es die aus der Ukraine stammende Autorin Swetlana Alexijewitsch. Mit Tschernobyl, schreibt sie, sei „der Zusammenhang der Zeiten” gerissen. Alexijewitsch hat mit vielen Menschen gesprochen, die das Unglück aus der Nähe miterlebt haben oder von seinen Folgen unmittelbar betroffen waren. In einem Punkt stimmen ihre Wahrnehmungen und Erinnerungen überein: Zwischen dem Zeitpunkt der Katastrophe und dem Zeitpunkt, an dem die Menschen darüber zu sprechen begannen, lag eine Pause - eine Zeit der Hilflosigkeit. Man fand keine Worte für die neuen Gefühle und keine Gefühle für die neuen Worte. Man war mit einer Realität konfrontiert, die nicht nur das Wissen, sondern auch die Vorstellungskraft überstieg. Diese Diskrepanz zumindest zu verkleinern ist das Anliegen eines Buches, das Swetlana Alexijewitsch erstmals vor zehn Jahren veröffentlicht hat und das jetzt anlässlich des Tschernobyl-Jahrestages in einer Taschenbuchausgabe erschienen ist. Die Autorin hat darin die Erinnerungen und Reflexionen von Menschen aufgezeichnet und literarisch verdichtet, die ihre existenzielle Erschütterung durch Tschernobyl zum Ausdruck bringen, die um Worte ringen, die nach Vergleichsmaßstäben suchen, um das Erlebte in vertraute Kategorien einordnen zu können - die Älteren unter ihnen kommen immer wieder auf ihre Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg zu sprechen.
Der wichtigste Zeuge
Es gibt viele Wahrheiten über Tschernobyl und viele Wege, die Wahrheit zu erkunden. Wie Swetlana Alexijewitsch, so ist auch Igor Kostin ein Zeuge des Geschehens, vielleicht der wichtigste Zeuge überhaupt. Und auch er hat seit 20 Jahren Sachverhalte dokumentiert, Beweise gesichert, Erinnerungen aufbewahrt. Doch er bedient sich dabei eines ganz anderen Mediums. Kostin arbeitete 1986 als Fotograf für die Nachrichtenagentur Nowosti. Schon wenige Stunden nach der Explosion ist er in einem Hubschrauber über den rauchenden Reaktor geflogen und hat die ersten Fotos geschossen - nur eines davon blieb unbeschädigt, zu stark war die radioaktive Strahlung. Insbesondere in den ersten Wochen und Monaten, als er die Einsätze der Liquidatoren mit seiner Kamera begleitete, hat Kostin sein Leben riskiert. Später hat er die Männer, denen er mit seinen Bildern ein Denkmal setzte, in einem Moskauer Militärkrankenhaus, der berühmten Klinik Nr. 6, besucht. Kostin hat die Evakuierungen fotografiert, die zerstörten und in der Erde vergrabenen Dörfer, die radioaktiven Mülldeponien, die Geisterstadt Pripjat, die alten Menschen, die ein entwurzeltes Leben nicht aushielten und trotz aller Warnungen und Verbote wieder in ihre Häuser in der Sperrzone zurückgekehrt sind. Er zeigt eine Welt, von der wir nur wenige Bilder haben, und schon gar keine von dieser Eindringlichkeit. Kostins Fotos sind unschätzbare Dokumente, sie sind ein Vermächtnis.
Die Bücher Alexijewitschs und Kostins ziehen auf ganz unterschiedliche Weise eine vorläufige Bilanz der Katastrophe und leisten Beiträge zur Reflexion. Darin liegt ihre große Stärke, jedoch auch ihre Grenze. Denn man erfährt viel über Menschen, die zu Opfern geworden sind, jedoch wenig über Menschen, die sich als Überlebende begreifen, und denen unter grundlegend veränderten Bedingungen ein neuer Anfang gelungen ist. Mit solchen Menschen macht Antje Hilliges bekannt. Sie ist Mitarbeiterin der deutschen Botschaft in Kiew. Während einer Informationsreise in die Sperrzone lernte sie vor zwei Jahren Irina Wachidowa kennen und freundete sich mit ihr an. Sie hat Irinas Geschichte aufgeschrieben. Die Autorin verbindet dabei auf kunstvolle Weise den Stil des konventionellen Sachbuchs mit einer romanhaften Erzählweise.
Irina Wachidowa lebte 1986 in Pripjat, Mutter zweier kleiner Mädchen, jung verheiratet mit dem im Kraftwerk beschäftigten Betonbauer Wladimir. So widrig die sowjetischen Lebensbedingungen für sie und ihre Familie auch waren - zumindest ihr privates Glück hatte Irina gefunden. Die Katastrophe stellte von einem Tag auf den anderen alles in Frage. Überstürzte Evakuierung, Neuansiedlung in Kiew, Wladimir wird von seiner Familie getrennt und als Aufräumarbeiter in die verstrahlte Ruine geschickt. Die Wachidows hatten albtraumhafte Erlebnisse, jahrelange Angst und Ungewissheit zu überstehen. Doch klug, beharrlich und mit unerschöpflichem Lebensmut haben sie ihr Glück, ihre Liebe, ihre Zukunft gerettet. Der Zusammenhang der Zeiten ist gerissen, gewiss, und die Folgen der Katastrophe werden noch lange andauern; doch die Wachidows und viele andere Menschen ihresgleichen sind längst keine stigmatisierten tschernobylzy mehr. Antje Hilliges ist eines der außergewöhnlichsten und besten Bücher gelungen, die bislang zum Thema Tschernobyl geschrieben wurden, ein stilles, sensibles, zutiefst berührendes Werk.
Es gibt viele Wahrheiten über Tschernobyl. Und keine kann einen privilegierten Status reklamieren. Auch die „wissenschaftliche Wahrheit” nicht, obwohl sie es zuweilen versucht. Vor etwa einem halben Jahr stellte das „Tschernobyl Forum”, ein großer Forschungsverbund, der von verschiedenen UN-Organisationen getragen wird, die bislang umfassendste wissenschaftliche Aufarbeitung der Reaktorkatastrophe vor. In einer begleitenden Presseerklärung behaupteten die Verantwortlichen, dass der Bericht „definitive Antworten” gebe und das „wahre Ausmaß des Unfalls” erkennen lasse. Diese reichlich vollmundige Verlautbarung, die in den Medien großen Widerhall fand, hat insbesondere bei Kernenergiekritikern für Empörung gesorgt. Zu Recht, denn die Presserklärung steht in einem Spannungsverhältnis, teilweise sogar im Widerspruch zu den im eigentlichen Forschungsbericht dokumentierten Ergebnissen (alle Texte stehen zum Download bereit unter www.iaea.org).
Ein besonders makabres Beispiel: Während in der Presseerklärung die Zahl der Todesopfer, die Tschernobyl gefordert hat oder noch fordern wird, auf etwa 4000 geschätzt wird, werden im Forschungsbericht allein schon 9000 Krebstote prognostiziert - wobei nicht einmal alle Krebsarten Berücksichtigung finden. Im Unterschied zu den Verfassern der Presseerklärung sprechen die Forscher auch nicht von „definitiven” Ergebnissen. Im Gegenteil, beinahe auf jeder Seite betonen sie die Unsicherheit ihrer Datenbasis, problematisieren ihre Berechnungsmethoden, melden weiteren Forschungsbedarf an, erwähnen bedenkliche Phänomene, für die sie noch keine Erklärungen haben, zitieren alarmierende Berichte über mögliche Tschernobyl-Folgen, die ihnen zwar zugeleitet wurden, die aber aus den unterschiedlichsten Gründen nicht in ihre Bestandsaufnahme eingegangen sind.
Fixiert auf Radioaktivität
Aus der hemdsärmeligen Presseerklärung sollte man daher nicht auf die mangelnde Seriosität des Tschernobyl Forums als solchem schließen. Die Schriften des Forums und die weiteren Publikationen ihm verbundener Forscher, wie der höchst informative Sammelband von Jim Smith und Nicholas Beresford zu den längerfristigen Umweltfolgen der Katastrophe, verdienen schon allein aufgrund der in ihnen präsentierten Datenfülle eine breite und substanzielle Auseinandersetzung. Zudem enthalten die genannten Publikationen interessante konzeptionelle Aspekte. Denn sie begreifen technische Katastrophen auch und vor allem als Kulturkatastrophen. Im Hinblick auf Tschernobyl heißt das: Wer lediglich auf den Zusammenhang zwischen radioaktiver Belastung und gesundheitlichen Folgen - bis hin zum Tod - fixiert bleibt, wird der Multidimensionalität der Katastrophe nicht gerecht. Tschernobyl hat keinen Lebensbereich verschont und eine tiefe Traumatisierung großer Bevölkerungsteile bewirkt. Nach 1986 sind auch Menschen aus der Bahn geraten, krank geworden oder gestorben, die nur eine relativ geringe, vielleicht unbedenkliche radioaktive Dosis erhalten haben. Sie sind keine Opfer der Strahlung - und doch sind viele von ihnen Opfer von Tschernobyl.
ULRICH TEUSCH
SWETLANA ALEXIJEWITSCH: Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft. Aus dem Russischen von Ingeborg Kolinko. Berliner Taschenbuch Verlag, Berlin 2006. 298 S., 9,90 Euro.
IGOR KOSTIN: Tschernobyl. Nahaufnahme. Unter Mitarbeit von Thomas Johnson. Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Verlag Antje Kunstmann, München 2006. 240 S., 24,90 Euro.
ANTJE HILLIGES / IRINA WACHIDOWA: Der Tag, an dem die Wolke kam. Wie wir Tschernobyl überlebten. Wilhelm Heyne Verlag, München 2006. 271 S., 7,95 Euro.
JIM SMITH / NICHOLAS A. BERESFORD (Hg.): Chernobyl - Catastrophe and Consequences. Springer Verlag, Berlin 2005. 310 S., 139,05 Euro.
Arbeitsplatz Tschernobyl. Nach der Explosion des „Reaktors 4” wurden erst einmal die drei anderen, unbeschädigt gebliebenen, Reaktoren abgeschaltet. Zwei Blöcke wurden aber schon im Oktober/November 1986 wieder in Betrieb genommen, der dritte dann im Dezember 1987. Doch selbst während der Stilllegung mussten die Reaktoren gewartet und überwacht werden. Auf diesem Bild ist Kraftwerkspersonal auf dem Weg zur Arbeit in der hoch kontaminierten Zone zu sehen. (Aus dem eindrucksvollen Band „Tschernobyl. Nahaufnahme” von Igor Kostin (siehe Besprechung).
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Tschernobyl: Bestandsaufnahmen 20 Jahre nach dem - die damalige Vorstellungskraft sprengenden - Unglück in dem Kernkraftwerk
Was sich in der Nacht vom 25. auf den 26. April 1986 im angeblich sichersten Kernkraftwerk der Sowjetunion zugetragen hat, war nicht allein eine technische Katastrophe; es war und ist auch eine Katastrophe des Bewusstseins. So formuliert es die aus der Ukraine stammende Autorin Swetlana Alexijewitsch. Mit Tschernobyl, schreibt sie, sei „der Zusammenhang der Zeiten” gerissen. Alexijewitsch hat mit vielen Menschen gesprochen, die das Unglück aus der Nähe miterlebt haben oder von seinen Folgen unmittelbar betroffen waren. In einem Punkt stimmen ihre Wahrnehmungen und Erinnerungen überein: Zwischen dem Zeitpunkt der Katastrophe und dem Zeitpunkt, an dem die Menschen darüber zu sprechen begannen, lag eine Pause - eine Zeit der Hilflosigkeit. Man fand keine Worte für die neuen Gefühle und keine Gefühle für die neuen Worte. Man war mit einer Realität konfrontiert, die nicht nur das Wissen, sondern auch die Vorstellungskraft überstieg. Diese Diskrepanz zumindest zu verkleinern ist das Anliegen eines Buches, das Swetlana Alexijewitsch erstmals vor zehn Jahren veröffentlicht hat und das jetzt anlässlich des Tschernobyl-Jahrestages in einer Taschenbuchausgabe erschienen ist. Die Autorin hat darin die Erinnerungen und Reflexionen von Menschen aufgezeichnet und literarisch verdichtet, die ihre existenzielle Erschütterung durch Tschernobyl zum Ausdruck bringen, die um Worte ringen, die nach Vergleichsmaßstäben suchen, um das Erlebte in vertraute Kategorien einordnen zu können - die Älteren unter ihnen kommen immer wieder auf ihre Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg zu sprechen.
Der wichtigste Zeuge
Es gibt viele Wahrheiten über Tschernobyl und viele Wege, die Wahrheit zu erkunden. Wie Swetlana Alexijewitsch, so ist auch Igor Kostin ein Zeuge des Geschehens, vielleicht der wichtigste Zeuge überhaupt. Und auch er hat seit 20 Jahren Sachverhalte dokumentiert, Beweise gesichert, Erinnerungen aufbewahrt. Doch er bedient sich dabei eines ganz anderen Mediums. Kostin arbeitete 1986 als Fotograf für die Nachrichtenagentur Nowosti. Schon wenige Stunden nach der Explosion ist er in einem Hubschrauber über den rauchenden Reaktor geflogen und hat die ersten Fotos geschossen - nur eines davon blieb unbeschädigt, zu stark war die radioaktive Strahlung. Insbesondere in den ersten Wochen und Monaten, als er die Einsätze der Liquidatoren mit seiner Kamera begleitete, hat Kostin sein Leben riskiert. Später hat er die Männer, denen er mit seinen Bildern ein Denkmal setzte, in einem Moskauer Militärkrankenhaus, der berühmten Klinik Nr. 6, besucht. Kostin hat die Evakuierungen fotografiert, die zerstörten und in der Erde vergrabenen Dörfer, die radioaktiven Mülldeponien, die Geisterstadt Pripjat, die alten Menschen, die ein entwurzeltes Leben nicht aushielten und trotz aller Warnungen und Verbote wieder in ihre Häuser in der Sperrzone zurückgekehrt sind. Er zeigt eine Welt, von der wir nur wenige Bilder haben, und schon gar keine von dieser Eindringlichkeit. Kostins Fotos sind unschätzbare Dokumente, sie sind ein Vermächtnis.
Die Bücher Alexijewitschs und Kostins ziehen auf ganz unterschiedliche Weise eine vorläufige Bilanz der Katastrophe und leisten Beiträge zur Reflexion. Darin liegt ihre große Stärke, jedoch auch ihre Grenze. Denn man erfährt viel über Menschen, die zu Opfern geworden sind, jedoch wenig über Menschen, die sich als Überlebende begreifen, und denen unter grundlegend veränderten Bedingungen ein neuer Anfang gelungen ist. Mit solchen Menschen macht Antje Hilliges bekannt. Sie ist Mitarbeiterin der deutschen Botschaft in Kiew. Während einer Informationsreise in die Sperrzone lernte sie vor zwei Jahren Irina Wachidowa kennen und freundete sich mit ihr an. Sie hat Irinas Geschichte aufgeschrieben. Die Autorin verbindet dabei auf kunstvolle Weise den Stil des konventionellen Sachbuchs mit einer romanhaften Erzählweise.
Irina Wachidowa lebte 1986 in Pripjat, Mutter zweier kleiner Mädchen, jung verheiratet mit dem im Kraftwerk beschäftigten Betonbauer Wladimir. So widrig die sowjetischen Lebensbedingungen für sie und ihre Familie auch waren - zumindest ihr privates Glück hatte Irina gefunden. Die Katastrophe stellte von einem Tag auf den anderen alles in Frage. Überstürzte Evakuierung, Neuansiedlung in Kiew, Wladimir wird von seiner Familie getrennt und als Aufräumarbeiter in die verstrahlte Ruine geschickt. Die Wachidows hatten albtraumhafte Erlebnisse, jahrelange Angst und Ungewissheit zu überstehen. Doch klug, beharrlich und mit unerschöpflichem Lebensmut haben sie ihr Glück, ihre Liebe, ihre Zukunft gerettet. Der Zusammenhang der Zeiten ist gerissen, gewiss, und die Folgen der Katastrophe werden noch lange andauern; doch die Wachidows und viele andere Menschen ihresgleichen sind längst keine stigmatisierten tschernobylzy mehr. Antje Hilliges ist eines der außergewöhnlichsten und besten Bücher gelungen, die bislang zum Thema Tschernobyl geschrieben wurden, ein stilles, sensibles, zutiefst berührendes Werk.
Es gibt viele Wahrheiten über Tschernobyl. Und keine kann einen privilegierten Status reklamieren. Auch die „wissenschaftliche Wahrheit” nicht, obwohl sie es zuweilen versucht. Vor etwa einem halben Jahr stellte das „Tschernobyl Forum”, ein großer Forschungsverbund, der von verschiedenen UN-Organisationen getragen wird, die bislang umfassendste wissenschaftliche Aufarbeitung der Reaktorkatastrophe vor. In einer begleitenden Presseerklärung behaupteten die Verantwortlichen, dass der Bericht „definitive Antworten” gebe und das „wahre Ausmaß des Unfalls” erkennen lasse. Diese reichlich vollmundige Verlautbarung, die in den Medien großen Widerhall fand, hat insbesondere bei Kernenergiekritikern für Empörung gesorgt. Zu Recht, denn die Presserklärung steht in einem Spannungsverhältnis, teilweise sogar im Widerspruch zu den im eigentlichen Forschungsbericht dokumentierten Ergebnissen (alle Texte stehen zum Download bereit unter www.iaea.org).
Ein besonders makabres Beispiel: Während in der Presseerklärung die Zahl der Todesopfer, die Tschernobyl gefordert hat oder noch fordern wird, auf etwa 4000 geschätzt wird, werden im Forschungsbericht allein schon 9000 Krebstote prognostiziert - wobei nicht einmal alle Krebsarten Berücksichtigung finden. Im Unterschied zu den Verfassern der Presseerklärung sprechen die Forscher auch nicht von „definitiven” Ergebnissen. Im Gegenteil, beinahe auf jeder Seite betonen sie die Unsicherheit ihrer Datenbasis, problematisieren ihre Berechnungsmethoden, melden weiteren Forschungsbedarf an, erwähnen bedenkliche Phänomene, für die sie noch keine Erklärungen haben, zitieren alarmierende Berichte über mögliche Tschernobyl-Folgen, die ihnen zwar zugeleitet wurden, die aber aus den unterschiedlichsten Gründen nicht in ihre Bestandsaufnahme eingegangen sind.
Fixiert auf Radioaktivität
Aus der hemdsärmeligen Presseerklärung sollte man daher nicht auf die mangelnde Seriosität des Tschernobyl Forums als solchem schließen. Die Schriften des Forums und die weiteren Publikationen ihm verbundener Forscher, wie der höchst informative Sammelband von Jim Smith und Nicholas Beresford zu den längerfristigen Umweltfolgen der Katastrophe, verdienen schon allein aufgrund der in ihnen präsentierten Datenfülle eine breite und substanzielle Auseinandersetzung. Zudem enthalten die genannten Publikationen interessante konzeptionelle Aspekte. Denn sie begreifen technische Katastrophen auch und vor allem als Kulturkatastrophen. Im Hinblick auf Tschernobyl heißt das: Wer lediglich auf den Zusammenhang zwischen radioaktiver Belastung und gesundheitlichen Folgen - bis hin zum Tod - fixiert bleibt, wird der Multidimensionalität der Katastrophe nicht gerecht. Tschernobyl hat keinen Lebensbereich verschont und eine tiefe Traumatisierung großer Bevölkerungsteile bewirkt. Nach 1986 sind auch Menschen aus der Bahn geraten, krank geworden oder gestorben, die nur eine relativ geringe, vielleicht unbedenkliche radioaktive Dosis erhalten haben. Sie sind keine Opfer der Strahlung - und doch sind viele von ihnen Opfer von Tschernobyl.
ULRICH TEUSCH
SWETLANA ALEXIJEWITSCH: Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft. Aus dem Russischen von Ingeborg Kolinko. Berliner Taschenbuch Verlag, Berlin 2006. 298 S., 9,90 Euro.
IGOR KOSTIN: Tschernobyl. Nahaufnahme. Unter Mitarbeit von Thomas Johnson. Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Verlag Antje Kunstmann, München 2006. 240 S., 24,90 Euro.
ANTJE HILLIGES / IRINA WACHIDOWA: Der Tag, an dem die Wolke kam. Wie wir Tschernobyl überlebten. Wilhelm Heyne Verlag, München 2006. 271 S., 7,95 Euro.
JIM SMITH / NICHOLAS A. BERESFORD (Hg.): Chernobyl - Catastrophe and Consequences. Springer Verlag, Berlin 2005. 310 S., 139,05 Euro.
Arbeitsplatz Tschernobyl. Nach der Explosion des „Reaktors 4” wurden erst einmal die drei anderen, unbeschädigt gebliebenen, Reaktoren abgeschaltet. Zwei Blöcke wurden aber schon im Oktober/November 1986 wieder in Betrieb genommen, der dritte dann im Dezember 1987. Doch selbst während der Stilllegung mussten die Reaktoren gewartet und überwacht werden. Auf diesem Bild ist Kraftwerkspersonal auf dem Weg zur Arbeit in der hoch kontaminierten Zone zu sehen. (Aus dem eindrucksvollen Band „Tschernobyl. Nahaufnahme” von Igor Kostin (siehe Besprechung).
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»Die Tiefe der Emotionen und die existenzielle Betroffenheit der Opfer wird zu einem literarischen Werk, dessen Tragik sich kein Leser entziehen kann.« DIE WELT
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Berührt zeigt sich Ulrich Teusch von Swetlana Alexijewitschs Bestandsaufnahme der Katastrophe von Tschernobyl, die anlässlich des Tschernobyl-Jahrestages jetzt in einer Taschenbuchausgabe vorliegt. Die Autorin habe mit vielen Zeugen des Geschehens und unmittelbar Betroffenen gesprochen und deren Erinnerungen aufgezeichnet und literarisch verdichtet. Ihre Aufzeichnungen der Berichte bringen für Teusch die "existenzielle Erschütterung durch Tschernobyl" zum Ausdruck, und auch das Ringen um Worte und die Suche nach Vergleichsmaßstäben für das Erlebte: "Man fand keine Worte für die neuen Gefühle und keine Gefühle für die neuen Worte", so der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Das Buch ist eine Chronik des Leidens, der Ängste und Hoffnungen.", Doppelpunkt, 29.10.2015