»Und was für eine Sprache!« ELKE HEIDENREICH
Der Berlin-Roman über den Kunsthistoriker ist selbst ein Meisterwerk.
1896. Berlin. Die Nationalgalerie Deutschlands erwirbt und zeigt als erstes Museum der Welt die Pariser Moderne: Manet, Monet, Renoir, Rodin. Ein Mann unternimmt das Wagnis, Hugo von Tschudi.
Gegen den deutschen Kaiser, gegen die konservativen Fraktionen in der Gesellschaft, gegen alles, was ihn aufhalten will. Ein Augenblick nur, doch die ganze Welt liegt vor einem ausgebreitet und Berlin wird die Welt. Vom Stadtschloss aus blickt Wilhelm II. voll Hass auf diesen neuen Direktor der Nationalgalerie, auf die bunten Flecken der neuen Bilder der Impressionisten und auf die Franzosen, Hass, der noch wachsen wird, befeuert vom Lieblingsmaler des Kaisers, Anton von Werner.
Um die Ecke am Pariser Platz wohnt Max Liebermann, der zu Tschudi hält. Der große Künstler Berlins, Menzel, schattiert sein eigenes Universum scheinbar jenseits der Kunstfronten und ist doch ihr heimliches Geheimnis.
Großindustrielle, Geldgeber, Politiker, Schnürsenkelverkäufer - Tschudi immer inmitten, Tschudi, der sehr groß gewachsene Mann mit der Wolfskrankheit, die sich immer weiter in sein Gesicht beißt, läuft unaufhaltbar und unübersehbar durch die Straßen, die Salons und das Geflüster einer erwachenden Stadt und seine dunklen Augen brennen aus der für ihn angefertigten Gesichtsmaske hervor, die fortan gestreichelt wird von einer spanischen Adligen.
Eine wahre Geschichte, jeden Traum wert, jede Farbe und jedes Licht . . .
Der Berlin-Roman über den Kunsthistoriker ist selbst ein Meisterwerk.
1896. Berlin. Die Nationalgalerie Deutschlands erwirbt und zeigt als erstes Museum der Welt die Pariser Moderne: Manet, Monet, Renoir, Rodin. Ein Mann unternimmt das Wagnis, Hugo von Tschudi.
Gegen den deutschen Kaiser, gegen die konservativen Fraktionen in der Gesellschaft, gegen alles, was ihn aufhalten will. Ein Augenblick nur, doch die ganze Welt liegt vor einem ausgebreitet und Berlin wird die Welt. Vom Stadtschloss aus blickt Wilhelm II. voll Hass auf diesen neuen Direktor der Nationalgalerie, auf die bunten Flecken der neuen Bilder der Impressionisten und auf die Franzosen, Hass, der noch wachsen wird, befeuert vom Lieblingsmaler des Kaisers, Anton von Werner.
Um die Ecke am Pariser Platz wohnt Max Liebermann, der zu Tschudi hält. Der große Künstler Berlins, Menzel, schattiert sein eigenes Universum scheinbar jenseits der Kunstfronten und ist doch ihr heimliches Geheimnis.
Großindustrielle, Geldgeber, Politiker, Schnürsenkelverkäufer - Tschudi immer inmitten, Tschudi, der sehr groß gewachsene Mann mit der Wolfskrankheit, die sich immer weiter in sein Gesicht beißt, läuft unaufhaltbar und unübersehbar durch die Straßen, die Salons und das Geflüster einer erwachenden Stadt und seine dunklen Augen brennen aus der für ihn angefertigten Gesichtsmaske hervor, die fortan gestreichelt wird von einer spanischen Adligen.
Eine wahre Geschichte, jeden Traum wert, jede Farbe und jedes Licht . . .
Von der Sehnsucht nach dem alles umwerfenden Blick
So erzählt wurde zu Berlin und der Moderne selten: Mariam Kühsel-Hussainis Roman über den Kunsthistoriker Hugo von Tschudi ist selbst ein Meisterwerk.
Von Niklas Maak
Ein Mann steht am Fenster, an einem Wintertag in Berlin. Er vermeidet es, sein Spiegelbild zu betrachten, denn der Mann, Kunsthistoriker und "toll nach Schönheit", hat eine Krankheit, die sein Gesicht entstellt, die sogenannte Wolfskrankheit, eine Form von Hauttuberkulose. Der Mann heißt Hugo von Tschudi; er ist seit kurzem Direktor der Berliner Nationalgalerie und hat etwas getan, was den Kaiser empören wird: Er hat für die Nationalgalerie französische Impressionisten gekauft, ausgesucht in Paris mit Max Liebermann. Der Kaiser hasst die "neue Malerei", sie steht für alles, was er ablehnt: das Nervöse, Skizzenhafte, die Euphorie des Unvollständigen, Wandelbaren, das Individuelle, Eigenweltliche. Der Kaiser hat die Gemälde bezahlt, aber das weiß er noch nicht. Ein Showdown ist programmiert.
Mit diesem dramatischen Moment beginnt Mariam Kühsel-Hussainis Roman über Hugo von Tschudi (1851 bis 1911), der 1896 die Leitung der Berliner Nationalgalerie übernahm und dort sofort alles auf den Kopf stellte: Er kauft Monet und Degas, zeigt Cézanne, schreibt als einer der Ersten über Manet, lüftet die historisierenden Bildertempel des Kaiserreichs durch zugunsten eines leichteren, europäischeren Selbstbildes des jungen Reichs - was prompt zu einem massiven Streit im Abgeordnetenhaus über die Ausrichtung der "vaterländischen Bildersammlung" führt. Tschudi wird verehrt und gehasst. Über sein Leben, die Nähe zu Harry Graf Kessler, Hauptmann und Meier-Graefe, vor allem zu Liebermann, über den wachsenden Hass seines ehemaligen Mentors Bode und die Intrigen des Malers Anton von Werner wurde schon viel geschrieben - so wie in diesem Roman aber noch nie.
Kühsel-Hussaini macht aus dem Stoff ein balzacsches Epochenbild. Die 1987 in Kabul geborene Schriftstellerin, die vor zehn Jahren mit ihrem Debüt "Gott im Reiskorn" bekannt wurde, ist eine Meisterin der erzählerischen Vergegenwärtigung. Es ist erstaunlich, wie es ihr gelingt, den Leser so ins Jahr 1896 zu reißen, dass man glaubt, den Druck von Tschudis großen Pranken zu spüren. Der Blick zoomt sich an die kleinsten Details: Man sieht, als läge man mit dem Kopf auf der Tischdecke, wie Tschudi, in Paris zu Gast bei Rodin, das zarte Fleisch eines cocq au vin vom glatten Hühnerknochen gleiten lässt; Menzel spürt ein borstiges Haar im Mund (was eine der zahlreichen literarischen Anspielungen an andere Meister der physisch intensiven Engführung des Blicks ist, hier an Don de Lillo und den Anfang seiner "Körperzeit"); als Tschudi in Venedig mit einem Gondoliere aneinandergerät, würgt er den Gegner, den Daumen am Kehlkopf ("wie eine Pistazie eingeschlossen hinter der Haut fühlte er sich an") und drückt diese "Pistazie" weiter hinein; der Konflikt bekommt eine derart physische Präsenz, dass der Leser unwillkürlich schluckt.
Es ist vor allem die Erzähltemperatur, die dieses Buch zu einem Ereignis macht. Die deutsche Sprache wird so lange durchgeschüttelt, bis sie aufwacht und Dinge sagt, die so neu, wild und impressionistisch sind wie ihr Gegenstand. Kühsel-Hussaini pinselt die Hauptfiguren der Erzählung nicht mühsam canalettohaft ab, sondern wirft sie mit wenigen Worten hin, schattiert, umhaucht, umtupft sie, und bevor sie zu pastellig erscheinen, werden sie mit heftig dunklen, manetschwarzen Strichen wieder eingefangen. Manchmal springt man beim Lesen ungläubig einen Satz zurück: Was stand da jetzt? Da sind die "Tischtücher Cézannes mit dem warmen Obst". Hier ist nicht das Licht warm, sondern das Obst selbst - und tatsächlich muss ja nicht nur das nachmittägliche Licht, sondern dieses Obst selbst, bestrahlt von französischer Sommersonne, warm gewesen sein und entsprechend süßlich-schwer geduftet haben. War bisher niemandem aufgefallen. So leistet dieser Roman durch seinen literarischen Eigensinn, durch eine selbst impressionistische Sprache, auch etwas für die Kunstgeschichte und lädt ein, die Werke so neu zu sehen, als sähe man sie an Tschudis Seite zum ersten Mal.
In einem Kapitel trifft Anton von Werner den Maler Menzel, der, robust berlinernd, durch sein Atelier am Tiergarten rumpelt, während Werner "fühlte, wie etwas Schreckliches, Furchtbares durch seine Knochen rasselte" angesichts der Fähigkeiten von Menzel, Michelangelo und Velazquez in seiner Malerei aufgehen zu lassen. In dem Moment aber, wo Werner noch ganz bittersüß benommen ist von der Sprezzatura seines Freundes, knallt der die Tür, "wie gewohnt laut wie ein Kanonenschlag", zu. Man kann in dieser Szene eine erzählerische Methode ausmachen: Oft in diesem Roman macht die Sprache unbekümmert ihre Loopings im Luftraum eines in der aktuellen deutschen Literatur sonst sorgsam vermiedenen Pathos, um die Figuren (und den Leser) dann mit rasanter Komik zu den nächsten Ereignissen fortzureißen.
Einmal spricht ein junger Künstler Tschudi auf der Straße an. Es ist Edmund Edel, der ihm seine Zeichnungen vorlegt. Sie zeigen eine Berliner Comédie humaine: Da ist "der rauchende Berliner, der nichts sieht, wenn er in die Zukunft schaut, aber seinen Frack liebt. Der von Gier schon ganz zerknautschte Berliner. Die tennisspielenden Freundinnen. Der tanzende Offizier und seine Frau, die von einem anderen träumt . . ." Tschudi blättert weiter, "das letzte Blatt zwickte sich in sein Herz. Edmund Edel selbst, am Galgen baumelnd, über ihm eine Schar fliehender Krähen." Später in dieser Szene fährt Tschudi mit der Tram durch die Wärme eines Berliner Sommers, bei einsetzendem Regen, "die Luft wurde grüngolden" und die Stadt duftet "nach Sommerflieder und nach Bier".
"Tschudi" ist auch ein Berlin-Roman - einer, der die Stadt und das Land auf dem Umweg zurück zu jenem historischen Moment erklärt, an dem sich ihr Schicksal entschied. "Berlin blähte sich auf und strotzte vor Kraft", heißt es einmal. Tschudi agiert im Auge eines Sturms. Er wird seine Kunst durchsetzen - und doch nicht gewinnen. Menzel stirbt, Tschudis Krankheit zerfrisst sein Gesicht, der kalte, imperiale Kleingeist des Kaiserreichs sein Herz.
Man kann diesen Roman als Kunst-Geschichte lesen, in der man über die Malerei des späten neunzehnten Jahrhunderts mehr erfährt als aus vielen Fachbüchern, als Biographie eines Mannes, der eine Idee von eigenweltlicher Schönheit und Wahrheit in der Malerei verfolgte, oder als literarische Spekulation darüber, was Kunst auf welche Weise im Betrachter auslöst. Die Geschichte des Konflikts zwischen dem Welteröffner Tschudi und dem Kaiser handelt aber von mehr: So, wie dieser Konflikt als dunkler Bass unter der Geschichte liegt, ist "Tschudi" auch ein großer politischer Roman über Deutschland und das, was hätte werden können.
Mariam Kühsel-Hussaini: "Tschudi". Roman.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2020. 320 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
So erzählt wurde zu Berlin und der Moderne selten: Mariam Kühsel-Hussainis Roman über den Kunsthistoriker Hugo von Tschudi ist selbst ein Meisterwerk.
Von Niklas Maak
Ein Mann steht am Fenster, an einem Wintertag in Berlin. Er vermeidet es, sein Spiegelbild zu betrachten, denn der Mann, Kunsthistoriker und "toll nach Schönheit", hat eine Krankheit, die sein Gesicht entstellt, die sogenannte Wolfskrankheit, eine Form von Hauttuberkulose. Der Mann heißt Hugo von Tschudi; er ist seit kurzem Direktor der Berliner Nationalgalerie und hat etwas getan, was den Kaiser empören wird: Er hat für die Nationalgalerie französische Impressionisten gekauft, ausgesucht in Paris mit Max Liebermann. Der Kaiser hasst die "neue Malerei", sie steht für alles, was er ablehnt: das Nervöse, Skizzenhafte, die Euphorie des Unvollständigen, Wandelbaren, das Individuelle, Eigenweltliche. Der Kaiser hat die Gemälde bezahlt, aber das weiß er noch nicht. Ein Showdown ist programmiert.
Mit diesem dramatischen Moment beginnt Mariam Kühsel-Hussainis Roman über Hugo von Tschudi (1851 bis 1911), der 1896 die Leitung der Berliner Nationalgalerie übernahm und dort sofort alles auf den Kopf stellte: Er kauft Monet und Degas, zeigt Cézanne, schreibt als einer der Ersten über Manet, lüftet die historisierenden Bildertempel des Kaiserreichs durch zugunsten eines leichteren, europäischeren Selbstbildes des jungen Reichs - was prompt zu einem massiven Streit im Abgeordnetenhaus über die Ausrichtung der "vaterländischen Bildersammlung" führt. Tschudi wird verehrt und gehasst. Über sein Leben, die Nähe zu Harry Graf Kessler, Hauptmann und Meier-Graefe, vor allem zu Liebermann, über den wachsenden Hass seines ehemaligen Mentors Bode und die Intrigen des Malers Anton von Werner wurde schon viel geschrieben - so wie in diesem Roman aber noch nie.
Kühsel-Hussaini macht aus dem Stoff ein balzacsches Epochenbild. Die 1987 in Kabul geborene Schriftstellerin, die vor zehn Jahren mit ihrem Debüt "Gott im Reiskorn" bekannt wurde, ist eine Meisterin der erzählerischen Vergegenwärtigung. Es ist erstaunlich, wie es ihr gelingt, den Leser so ins Jahr 1896 zu reißen, dass man glaubt, den Druck von Tschudis großen Pranken zu spüren. Der Blick zoomt sich an die kleinsten Details: Man sieht, als läge man mit dem Kopf auf der Tischdecke, wie Tschudi, in Paris zu Gast bei Rodin, das zarte Fleisch eines cocq au vin vom glatten Hühnerknochen gleiten lässt; Menzel spürt ein borstiges Haar im Mund (was eine der zahlreichen literarischen Anspielungen an andere Meister der physisch intensiven Engführung des Blicks ist, hier an Don de Lillo und den Anfang seiner "Körperzeit"); als Tschudi in Venedig mit einem Gondoliere aneinandergerät, würgt er den Gegner, den Daumen am Kehlkopf ("wie eine Pistazie eingeschlossen hinter der Haut fühlte er sich an") und drückt diese "Pistazie" weiter hinein; der Konflikt bekommt eine derart physische Präsenz, dass der Leser unwillkürlich schluckt.
Es ist vor allem die Erzähltemperatur, die dieses Buch zu einem Ereignis macht. Die deutsche Sprache wird so lange durchgeschüttelt, bis sie aufwacht und Dinge sagt, die so neu, wild und impressionistisch sind wie ihr Gegenstand. Kühsel-Hussaini pinselt die Hauptfiguren der Erzählung nicht mühsam canalettohaft ab, sondern wirft sie mit wenigen Worten hin, schattiert, umhaucht, umtupft sie, und bevor sie zu pastellig erscheinen, werden sie mit heftig dunklen, manetschwarzen Strichen wieder eingefangen. Manchmal springt man beim Lesen ungläubig einen Satz zurück: Was stand da jetzt? Da sind die "Tischtücher Cézannes mit dem warmen Obst". Hier ist nicht das Licht warm, sondern das Obst selbst - und tatsächlich muss ja nicht nur das nachmittägliche Licht, sondern dieses Obst selbst, bestrahlt von französischer Sommersonne, warm gewesen sein und entsprechend süßlich-schwer geduftet haben. War bisher niemandem aufgefallen. So leistet dieser Roman durch seinen literarischen Eigensinn, durch eine selbst impressionistische Sprache, auch etwas für die Kunstgeschichte und lädt ein, die Werke so neu zu sehen, als sähe man sie an Tschudis Seite zum ersten Mal.
In einem Kapitel trifft Anton von Werner den Maler Menzel, der, robust berlinernd, durch sein Atelier am Tiergarten rumpelt, während Werner "fühlte, wie etwas Schreckliches, Furchtbares durch seine Knochen rasselte" angesichts der Fähigkeiten von Menzel, Michelangelo und Velazquez in seiner Malerei aufgehen zu lassen. In dem Moment aber, wo Werner noch ganz bittersüß benommen ist von der Sprezzatura seines Freundes, knallt der die Tür, "wie gewohnt laut wie ein Kanonenschlag", zu. Man kann in dieser Szene eine erzählerische Methode ausmachen: Oft in diesem Roman macht die Sprache unbekümmert ihre Loopings im Luftraum eines in der aktuellen deutschen Literatur sonst sorgsam vermiedenen Pathos, um die Figuren (und den Leser) dann mit rasanter Komik zu den nächsten Ereignissen fortzureißen.
Einmal spricht ein junger Künstler Tschudi auf der Straße an. Es ist Edmund Edel, der ihm seine Zeichnungen vorlegt. Sie zeigen eine Berliner Comédie humaine: Da ist "der rauchende Berliner, der nichts sieht, wenn er in die Zukunft schaut, aber seinen Frack liebt. Der von Gier schon ganz zerknautschte Berliner. Die tennisspielenden Freundinnen. Der tanzende Offizier und seine Frau, die von einem anderen träumt . . ." Tschudi blättert weiter, "das letzte Blatt zwickte sich in sein Herz. Edmund Edel selbst, am Galgen baumelnd, über ihm eine Schar fliehender Krähen." Später in dieser Szene fährt Tschudi mit der Tram durch die Wärme eines Berliner Sommers, bei einsetzendem Regen, "die Luft wurde grüngolden" und die Stadt duftet "nach Sommerflieder und nach Bier".
"Tschudi" ist auch ein Berlin-Roman - einer, der die Stadt und das Land auf dem Umweg zurück zu jenem historischen Moment erklärt, an dem sich ihr Schicksal entschied. "Berlin blähte sich auf und strotzte vor Kraft", heißt es einmal. Tschudi agiert im Auge eines Sturms. Er wird seine Kunst durchsetzen - und doch nicht gewinnen. Menzel stirbt, Tschudis Krankheit zerfrisst sein Gesicht, der kalte, imperiale Kleingeist des Kaiserreichs sein Herz.
Man kann diesen Roman als Kunst-Geschichte lesen, in der man über die Malerei des späten neunzehnten Jahrhunderts mehr erfährt als aus vielen Fachbüchern, als Biographie eines Mannes, der eine Idee von eigenweltlicher Schönheit und Wahrheit in der Malerei verfolgte, oder als literarische Spekulation darüber, was Kunst auf welche Weise im Betrachter auslöst. Die Geschichte des Konflikts zwischen dem Welteröffner Tschudi und dem Kaiser handelt aber von mehr: So, wie dieser Konflikt als dunkler Bass unter der Geschichte liegt, ist "Tschudi" auch ein großer politischer Roman über Deutschland und das, was hätte werden können.
Mariam Kühsel-Hussaini: "Tschudi". Roman.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2020. 320 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In verführerischem, treibendem Rhythmus erzählt die Schriftstellerin darin von dem Museumsdirektor, der den Impressionismus nach Deutschland brachte. Fasziniert, ja: elektrisiert habe ich diesen Roman verschlungen. faz.net 202005
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.03.2020Von der Sehnsucht nach dem alles umwerfenden Blick
So erzählt wurde zu Berlin und der Moderne selten: Mariam Kühsel-Hussainis Roman über den Kunsthistoriker Hugo von Tschudi ist selbst ein Meisterwerk.
Von Niklas Maak
Ein Mann steht am Fenster, an einem Wintertag in Berlin. Er vermeidet es, sein Spiegelbild zu betrachten, denn der Mann, Kunsthistoriker und "toll nach Schönheit", hat eine Krankheit, die sein Gesicht entstellt, die sogenannte Wolfskrankheit, eine Form von Hauttuberkulose. Der Mann heißt Hugo von Tschudi; er ist seit kurzem Direktor der Berliner Nationalgalerie und hat etwas getan, was den Kaiser empören wird: Er hat für die Nationalgalerie französische Impressionisten gekauft, ausgesucht in Paris mit Max Liebermann. Der Kaiser hasst die "neue Malerei", sie steht für alles, was er ablehnt: das Nervöse, Skizzenhafte, die Euphorie des Unvollständigen, Wandelbaren, das Individuelle, Eigenweltliche. Der Kaiser hat die Gemälde bezahlt, aber das weiß er noch nicht. Ein Showdown ist programmiert.
Mit diesem dramatischen Moment beginnt Mariam Kühsel-Hussainis Roman über Hugo von Tschudi (1851 bis 1911), der 1896 die Leitung der Berliner Nationalgalerie übernahm und dort sofort alles auf den Kopf stellte: Er kauft Monet und Degas, zeigt Cézanne, schreibt als einer der Ersten über Manet, lüftet die historisierenden Bildertempel des Kaiserreichs durch zugunsten eines leichteren, europäischeren Selbstbildes des jungen Reichs - was prompt zu einem massiven Streit im Abgeordnetenhaus über die Ausrichtung der "vaterländischen Bildersammlung" führt. Tschudi wird verehrt und gehasst. Über sein Leben, die Nähe zu Harry Graf Kessler, Hauptmann und Meier-Graefe, vor allem zu Liebermann, über den wachsenden Hass seines ehemaligen Mentors Bode und die Intrigen des Malers Anton von Werner wurde schon viel geschrieben - so wie in diesem Roman aber noch nie.
Kühsel-Hussaini macht aus dem Stoff ein balzacsches Epochenbild. Die 1987 in Kabul geborene Schriftstellerin, die vor zehn Jahren mit ihrem Debüt "Gott im Reiskorn" bekannt wurde, ist eine Meisterin der erzählerischen Vergegenwärtigung. Es ist erstaunlich, wie es ihr gelingt, den Leser so ins Jahr 1896 zu reißen, dass man glaubt, den Druck von Tschudis großen Pranken zu spüren. Der Blick zoomt sich an die kleinsten Details: Man sieht, als läge man mit dem Kopf auf der Tischdecke, wie Tschudi, in Paris zu Gast bei Rodin, das zarte Fleisch eines cocq au vin vom glatten Hühnerknochen gleiten lässt; Menzel spürt ein borstiges Haar im Mund (was eine der zahlreichen literarischen Anspielungen an andere Meister der physisch intensiven Engführung des Blicks ist, hier an Don de Lillo und den Anfang seiner "Körperzeit"); als Tschudi in Venedig mit einem Gondoliere aneinandergerät, würgt er den Gegner, den Daumen am Kehlkopf ("wie eine Pistazie eingeschlossen hinter der Haut fühlte er sich an") und drückt diese "Pistazie" weiter hinein; der Konflikt bekommt eine derart physische Präsenz, dass der Leser unwillkürlich schluckt.
Es ist vor allem die Erzähltemperatur, die dieses Buch zu einem Ereignis macht. Die deutsche Sprache wird so lange durchgeschüttelt, bis sie aufwacht und Dinge sagt, die so neu, wild und impressionistisch sind wie ihr Gegenstand. Kühsel-Hussaini pinselt die Hauptfiguren der Erzählung nicht mühsam canalettohaft ab, sondern wirft sie mit wenigen Worten hin, schattiert, umhaucht, umtupft sie, und bevor sie zu pastellig erscheinen, werden sie mit heftig dunklen, manetschwarzen Strichen wieder eingefangen. Manchmal springt man beim Lesen ungläubig einen Satz zurück: Was stand da jetzt? Da sind die "Tischtücher Cézannes mit dem warmen Obst". Hier ist nicht das Licht warm, sondern das Obst selbst - und tatsächlich muss ja nicht nur das nachmittägliche Licht, sondern dieses Obst selbst, bestrahlt von französischer Sommersonne, warm gewesen sein und entsprechend süßlich-schwer geduftet haben. War bisher niemandem aufgefallen. So leistet dieser Roman durch seinen literarischen Eigensinn, durch eine selbst impressionistische Sprache, auch etwas für die Kunstgeschichte und lädt ein, die Werke so neu zu sehen, als sähe man sie an Tschudis Seite zum ersten Mal.
In einem Kapitel trifft Anton von Werner den Maler Menzel, der, robust berlinernd, durch sein Atelier am Tiergarten rumpelt, während Werner "fühlte, wie etwas Schreckliches, Furchtbares durch seine Knochen rasselte" angesichts der Fähigkeiten von Menzel, Michelangelo und Velazquez in seiner Malerei aufgehen zu lassen. In dem Moment aber, wo Werner noch ganz bittersüß benommen ist von der Sprezzatura seines Freundes, knallt der die Tür, "wie gewohnt laut wie ein Kanonenschlag", zu. Man kann in dieser Szene eine erzählerische Methode ausmachen: Oft in diesem Roman macht die Sprache unbekümmert ihre Loopings im Luftraum eines in der aktuellen deutschen Literatur sonst sorgsam vermiedenen Pathos, um die Figuren (und den Leser) dann mit rasanter Komik zu den nächsten Ereignissen fortzureißen.
Einmal spricht ein junger Künstler Tschudi auf der Straße an. Es ist Edmund Edel, der ihm seine Zeichnungen vorlegt. Sie zeigen eine Berliner Comédie humaine: Da ist "der rauchende Berliner, der nichts sieht, wenn er in die Zukunft schaut, aber seinen Frack liebt. Der von Gier schon ganz zerknautschte Berliner. Die tennisspielenden Freundinnen. Der tanzende Offizier und seine Frau, die von einem anderen träumt . . ." Tschudi blättert weiter, "das letzte Blatt zwickte sich in sein Herz. Edmund Edel selbst, am Galgen baumelnd, über ihm eine Schar fliehender Krähen." Später in dieser Szene fährt Tschudi mit der Tram durch die Wärme eines Berliner Sommers, bei einsetzendem Regen, "die Luft wurde grüngolden" und die Stadt duftet "nach Sommerflieder und nach Bier".
"Tschudi" ist auch ein Berlin-Roman - einer, der die Stadt und das Land auf dem Umweg zurück zu jenem historischen Moment erklärt, an dem sich ihr Schicksal entschied. "Berlin blähte sich auf und strotzte vor Kraft", heißt es einmal. Tschudi agiert im Auge eines Sturms. Er wird seine Kunst durchsetzen - und doch nicht gewinnen. Menzel stirbt, Tschudis Krankheit zerfrisst sein Gesicht, der kalte, imperiale Kleingeist des Kaiserreichs sein Herz.
Man kann diesen Roman als Kunst-Geschichte lesen, in der man über die Malerei des späten neunzehnten Jahrhunderts mehr erfährt als aus vielen Fachbüchern, als Biographie eines Mannes, der eine Idee von eigenweltlicher Schönheit und Wahrheit in der Malerei verfolgte, oder als literarische Spekulation darüber, was Kunst auf welche Weise im Betrachter auslöst. Die Geschichte des Konflikts zwischen dem Welteröffner Tschudi und dem Kaiser handelt aber von mehr: So, wie dieser Konflikt als dunkler Bass unter der Geschichte liegt, ist "Tschudi" auch ein großer politischer Roman über Deutschland und das, was hätte werden können.
Mariam Kühsel-Hussaini: "Tschudi". Roman.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2020. 320 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
So erzählt wurde zu Berlin und der Moderne selten: Mariam Kühsel-Hussainis Roman über den Kunsthistoriker Hugo von Tschudi ist selbst ein Meisterwerk.
Von Niklas Maak
Ein Mann steht am Fenster, an einem Wintertag in Berlin. Er vermeidet es, sein Spiegelbild zu betrachten, denn der Mann, Kunsthistoriker und "toll nach Schönheit", hat eine Krankheit, die sein Gesicht entstellt, die sogenannte Wolfskrankheit, eine Form von Hauttuberkulose. Der Mann heißt Hugo von Tschudi; er ist seit kurzem Direktor der Berliner Nationalgalerie und hat etwas getan, was den Kaiser empören wird: Er hat für die Nationalgalerie französische Impressionisten gekauft, ausgesucht in Paris mit Max Liebermann. Der Kaiser hasst die "neue Malerei", sie steht für alles, was er ablehnt: das Nervöse, Skizzenhafte, die Euphorie des Unvollständigen, Wandelbaren, das Individuelle, Eigenweltliche. Der Kaiser hat die Gemälde bezahlt, aber das weiß er noch nicht. Ein Showdown ist programmiert.
Mit diesem dramatischen Moment beginnt Mariam Kühsel-Hussainis Roman über Hugo von Tschudi (1851 bis 1911), der 1896 die Leitung der Berliner Nationalgalerie übernahm und dort sofort alles auf den Kopf stellte: Er kauft Monet und Degas, zeigt Cézanne, schreibt als einer der Ersten über Manet, lüftet die historisierenden Bildertempel des Kaiserreichs durch zugunsten eines leichteren, europäischeren Selbstbildes des jungen Reichs - was prompt zu einem massiven Streit im Abgeordnetenhaus über die Ausrichtung der "vaterländischen Bildersammlung" führt. Tschudi wird verehrt und gehasst. Über sein Leben, die Nähe zu Harry Graf Kessler, Hauptmann und Meier-Graefe, vor allem zu Liebermann, über den wachsenden Hass seines ehemaligen Mentors Bode und die Intrigen des Malers Anton von Werner wurde schon viel geschrieben - so wie in diesem Roman aber noch nie.
Kühsel-Hussaini macht aus dem Stoff ein balzacsches Epochenbild. Die 1987 in Kabul geborene Schriftstellerin, die vor zehn Jahren mit ihrem Debüt "Gott im Reiskorn" bekannt wurde, ist eine Meisterin der erzählerischen Vergegenwärtigung. Es ist erstaunlich, wie es ihr gelingt, den Leser so ins Jahr 1896 zu reißen, dass man glaubt, den Druck von Tschudis großen Pranken zu spüren. Der Blick zoomt sich an die kleinsten Details: Man sieht, als läge man mit dem Kopf auf der Tischdecke, wie Tschudi, in Paris zu Gast bei Rodin, das zarte Fleisch eines cocq au vin vom glatten Hühnerknochen gleiten lässt; Menzel spürt ein borstiges Haar im Mund (was eine der zahlreichen literarischen Anspielungen an andere Meister der physisch intensiven Engführung des Blicks ist, hier an Don de Lillo und den Anfang seiner "Körperzeit"); als Tschudi in Venedig mit einem Gondoliere aneinandergerät, würgt er den Gegner, den Daumen am Kehlkopf ("wie eine Pistazie eingeschlossen hinter der Haut fühlte er sich an") und drückt diese "Pistazie" weiter hinein; der Konflikt bekommt eine derart physische Präsenz, dass der Leser unwillkürlich schluckt.
Es ist vor allem die Erzähltemperatur, die dieses Buch zu einem Ereignis macht. Die deutsche Sprache wird so lange durchgeschüttelt, bis sie aufwacht und Dinge sagt, die so neu, wild und impressionistisch sind wie ihr Gegenstand. Kühsel-Hussaini pinselt die Hauptfiguren der Erzählung nicht mühsam canalettohaft ab, sondern wirft sie mit wenigen Worten hin, schattiert, umhaucht, umtupft sie, und bevor sie zu pastellig erscheinen, werden sie mit heftig dunklen, manetschwarzen Strichen wieder eingefangen. Manchmal springt man beim Lesen ungläubig einen Satz zurück: Was stand da jetzt? Da sind die "Tischtücher Cézannes mit dem warmen Obst". Hier ist nicht das Licht warm, sondern das Obst selbst - und tatsächlich muss ja nicht nur das nachmittägliche Licht, sondern dieses Obst selbst, bestrahlt von französischer Sommersonne, warm gewesen sein und entsprechend süßlich-schwer geduftet haben. War bisher niemandem aufgefallen. So leistet dieser Roman durch seinen literarischen Eigensinn, durch eine selbst impressionistische Sprache, auch etwas für die Kunstgeschichte und lädt ein, die Werke so neu zu sehen, als sähe man sie an Tschudis Seite zum ersten Mal.
In einem Kapitel trifft Anton von Werner den Maler Menzel, der, robust berlinernd, durch sein Atelier am Tiergarten rumpelt, während Werner "fühlte, wie etwas Schreckliches, Furchtbares durch seine Knochen rasselte" angesichts der Fähigkeiten von Menzel, Michelangelo und Velazquez in seiner Malerei aufgehen zu lassen. In dem Moment aber, wo Werner noch ganz bittersüß benommen ist von der Sprezzatura seines Freundes, knallt der die Tür, "wie gewohnt laut wie ein Kanonenschlag", zu. Man kann in dieser Szene eine erzählerische Methode ausmachen: Oft in diesem Roman macht die Sprache unbekümmert ihre Loopings im Luftraum eines in der aktuellen deutschen Literatur sonst sorgsam vermiedenen Pathos, um die Figuren (und den Leser) dann mit rasanter Komik zu den nächsten Ereignissen fortzureißen.
Einmal spricht ein junger Künstler Tschudi auf der Straße an. Es ist Edmund Edel, der ihm seine Zeichnungen vorlegt. Sie zeigen eine Berliner Comédie humaine: Da ist "der rauchende Berliner, der nichts sieht, wenn er in die Zukunft schaut, aber seinen Frack liebt. Der von Gier schon ganz zerknautschte Berliner. Die tennisspielenden Freundinnen. Der tanzende Offizier und seine Frau, die von einem anderen träumt . . ." Tschudi blättert weiter, "das letzte Blatt zwickte sich in sein Herz. Edmund Edel selbst, am Galgen baumelnd, über ihm eine Schar fliehender Krähen." Später in dieser Szene fährt Tschudi mit der Tram durch die Wärme eines Berliner Sommers, bei einsetzendem Regen, "die Luft wurde grüngolden" und die Stadt duftet "nach Sommerflieder und nach Bier".
"Tschudi" ist auch ein Berlin-Roman - einer, der die Stadt und das Land auf dem Umweg zurück zu jenem historischen Moment erklärt, an dem sich ihr Schicksal entschied. "Berlin blähte sich auf und strotzte vor Kraft", heißt es einmal. Tschudi agiert im Auge eines Sturms. Er wird seine Kunst durchsetzen - und doch nicht gewinnen. Menzel stirbt, Tschudis Krankheit zerfrisst sein Gesicht, der kalte, imperiale Kleingeist des Kaiserreichs sein Herz.
Man kann diesen Roman als Kunst-Geschichte lesen, in der man über die Malerei des späten neunzehnten Jahrhunderts mehr erfährt als aus vielen Fachbüchern, als Biographie eines Mannes, der eine Idee von eigenweltlicher Schönheit und Wahrheit in der Malerei verfolgte, oder als literarische Spekulation darüber, was Kunst auf welche Weise im Betrachter auslöst. Die Geschichte des Konflikts zwischen dem Welteröffner Tschudi und dem Kaiser handelt aber von mehr: So, wie dieser Konflikt als dunkler Bass unter der Geschichte liegt, ist "Tschudi" auch ein großer politischer Roman über Deutschland und das, was hätte werden können.
Mariam Kühsel-Hussaini: "Tschudi". Roman.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2020. 320 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.07.2020Gewölbe aus
trübem Kristall
Vergangenheitsverklärung nach Berliner Art:
Mariam Kühsel-Hussainis Roman „Tschudi“
VON CATRIN LORCH
Mariam Kühsel-Hussaini scheut das Pathos nicht. Es ist ein hoher Ton, den sie in ihrem Roman „Tschudi“ anschlägt: „Solche Wesen sind im Besitz anderer Kräfte, so unglaubwürdig das auch klingen mag. Sie wären sonst überhaupt nicht in der Lage, solch große Entscheidungen zu treffen und die Folgen zu ertragen. Sie würden sonst schlicht binnen Stunden zerfallen, jedenfalls ein Mensch mit durchaus ehrenwerten, doch eben nur mittelmäßigen Anlagen würde es, er würde verschwinden im Geschehen einer Wahrheit, die soeben dabei ist, sich zu erheben, wie es der Impressionismus zu Beginn unserer Geschichte tut. Er erwacht."
Ihr Titelheld, das „Wesen im Besitz anderer Kräfte“, ist der Kunsthistoriker und Museumsdirektor Hugo von Tschudi, der um die Wende zum Zwanzigsten Jahrhundert den Impressionismus in Deutschland bekannt machte, vor allem mit umstrittenen Ankäufen für die Nationalgalerie in Berlin. Wer allerdings hofft, auf knapp dreihundert Seiten diesem Mann nahe zu kommen, der sollte sich von der ersten Charakterisierung gewarnt sehen – man erfährt nicht wirklich etwas vom Leben so eines Berliner Direktors, von Ankaufsverhandlungen, Galeriebesuchen, Museumsalltag, oder gar Politik und Kunst. Und während die Handlung sich in den vielen Kapiteln, die jeweils als unverbundene, lyrisch zersplitterte Einzelszenen angelegt sind, nicht wirklich entfaltet, dreht sich das gedanklich Geschraubte noch einige Windungen hinauf. Schon der venezianische Kanal, an dem man dem Titelhelden erstmals begegnet, windet sich wie ein „nass türkises Seidenband“. Luft ist ein „Gewölbe aus trübem Kristall“ vor dem sich der „unbeschreiblich felsene Rücken, ganz in Schwarz unterlaufen“ von Tschudi abheben darf. Und das sind noch die harmlosen, die illustrativen Stilblüten.
In dem vorsätzlich anachronistischen, hochgestochenen Ton klingt mehr an – ein junger, in Berlin geprägter Konservatismus, der sich über ewige Werte, vor allem in der Kunst, beugt wie über den Weltgeist, er gibt sich hochgebildet, elitär, genealogisch. Dieser Kunst-Konservatismus ist eine Parallelwelt der zeitgenössischen Kunst und aktuellen Kunstgeschichte. Er blendet die zeitgenössischen Entwicklungen – politische Kunst, Konzept, Institutionskritik, die Kultur-für-alle-Museumsgründungen und Akademiereformen – vorsätzlich aus. Und er veredelt noch jede Kreuzberger Malerbiografie in eine an Vasari gemahnende Vita, die sich gut in den von Auktionshäusern und Galerien edierten Magazinen vermarkten lässt.
Berlin hat Bedarf. Weniger der Tausenden von Künstlern wegen, die in der Stadt arbeiten, denn wegen der Ratlosigkeit vor den glatten, platten- oder granitverkleideten Straßen in ihrem Zentrum. Der konservative Kunstfreund – und es gibt viele Autoren, die den Job gerne übernehmen – sucht eigentlich nicht nach Ästhetik, er wärmt sich im kalten Berlin lieber wohlig an Reminiszenzen auf eine Epoche, die lose von der Jahrhundertwende bis in die Zwanzigerjahre reicht, wobei alles wirklich Moderne und Avantgardistische ausgeblendet wird – Film, Fotografie, Zeitungswesen und Radio, also Massenmedien. Seine Gedanken flanieren stattdessen im „Tiergarten“, am „Wannsee“ und „Unter den Linden“, vorbei an Cafés, Villen, Restaurants, Clubs, Einkaufsstraßen und Galerien, immer in Blickrichtung auf das Genie.
Ihr Berlin ist eine Kulisse, vor der sich berühmte Künstlernamen funkelnd abheben. Und erzählen sich Geschichten von verkannten Genies, posthumen Erfolgen, märchenhaften Wertsteigerungen oder dem Triumph verfemter Stile nicht einfach besser? Kunst kommt da vom Kämpfen, die Siegerperspektive kann von Helden berichten und das Durchsetzen einer Malweise wie territoriale Eroberungen feiern – während die tatsächliche Forschung nur trocken die Zusammenhänge zwischen Werk, Publikum, Soziologie, Peripherie und Medien aufdröselt. Warum aber eignet sich eine Vermittlerfigur wie der 1851 geborene Schweizer Hugo von Tschudi, der früh den Impressionismus in seiner Qualität erkannte und in Deutschland etablierte, überhaupt für solche Epen? Immerhin: Seine Ankäufe und die offensive Hängung der französischen Künstler in der Nationalgalerie wurden sogar vom Kaiser persönlich kritisiert. Von der aufschlussreichen Biografie bis zum Zeitpanorama wäre also Stoff vorhanden.
Doch Mariam Kühsel-Hussaini ist beides nicht gelungen. Ihr Buch liest sich, als habe man die in einem Glossar gelisteten Namen über einen Stadtplan des Berlins um die Jahrhundertwende ausgestreut. Nie öffnet sich die Tür eines der mit lexikalischer Genauigkeit verzeichneten Restaurants, der Nachtklubs und Gaststätten (vom „Borchardt“ bis zum „Café Friedrichshof“), ohne dass irgendein heute noch prominenter Künstler, Schauspieler, Politiker oder Schriftsteller eintritt. Briefe, die nicht von Gerhard Hauptmann, Cosima Wagner oder in der Pariser Galerie Durand-Ruel frankiert wurden, werden gar nicht geöffnet.
Wenn der Bankier und Kunstsammler Ernst von Mendelssohn („ein gern gesehener Mensch von existenzieller Klasse“) mit Tschudi ins gerade eröffnete „Apollo“ geht, dann steigt neben ihnen ein „sehr junger Mann mit strubbelig dickem Haar“ aus der Droschke, der dem Leser als „Max Reinhardt, ein aufstrebender Stern am Schauspielerhimmel“ vorgestellt wird. Der Kaiser reitet vorbei („Sein Herz, eine verletzte Taube im Käfig“). Harry Graf Kessler, Max Liebermann, Walter Leistikow treten auf, Industrielle wie Friedrich Krupp („von Sehnsucht durchströmt, wie der Golf von Neapel von gebräunten männlichen Schwimmern“), der Kritiker Julius Meier-Graefe („ein gutaussehender, edler, reichlich begabter Feuilletonist“) und – fast überraschend – auch Guido Henckel von Donnersmarck („Schwerstindustrieller und preußischer Graf“).
Die eigentümlichen Vergleiche und Charakterisierungen bremsen nicht nur den Lesefluss, sondern auch die Dynamik der Handlung. Zudem ist es auf so einem Olymp, als den die Autorin ihr Figurentableau angelegt hat, schwierig, miteinander ins Gespräch zu kommen: Der mit dem Kaiser plaudernde Philip von Eulenburg fragt dann ganz ungezwungen, ob die Albträume seiner Majestät wohl „von den Aufständen der Afrikaner in unseren Kolonien“ ausgelöst wurden oder doch „vom Parlament, Du bist ihm gefährlich geworden, wolltest über sie bestimmen“.
Und was haben sich ein Museumsdirektor und ein Maler noch zu sagen, wenn sie mit so umständlicher Steifheit nebeneinander gesetzt werden: „Der eine ein Nachkomme von Rittern und Gelehrten der höchsten Stunde, der andere ein Spross von schwarzen Adlern, die sich mit Gnomen kreuzten. Der eine ein zurückhaltender Über-Schatten, der andere ein göttlicher Stumpf.“ Nicht viel: „Tschudi sprach langsam und teuer. ‚Sie sind der Maler der Könige und für Könige, aber Sie haben mehr portraitiert als das, Sie haben die Kunst selbst gemalt.‘ Menzels Herz war getroffen wie von einem glühenden Zeigefinger Caravaggios.“
Die Berliner Konservativen, eine bildungshuberische Leserschaft, die Kunst als ungebrochene Wertschöpfungskette begreift, deren höchste Steigerungsform das Ewige und Göttliche sind, wird der ganze Schwulst womöglich nicht einmal stören. Dem weltläufigen, modernen Hugo von Tschudi waren dagegen Pathos und Kitsch ein Graus, er hat diesen biografischen Roman wirklich nicht verdient. Tschudi übrigens konnte selbst nicht nur schlicht und treffend, sondern auch lustig formulieren. So absonderliche Anachronismen, die waren ihm die „zopfigsten Abenteuerlichkeiten“.
Mariam Kühsel-Hussaini: „Tschudi“. Rowohlt Verlag, Hamburg 2020. 320 Seiten, 24 Euro.
Der konservative Kunstfreund
sucht eigentlich keine Ästhetik, er
wärmt sich an Reminiszenzen
Berlin als Kulisse, vor der sich berühmte Künstlernamen funkelnd abheben: die Alte Nationalgalerie in Mitte.
Foto: Esther DG/unsplash
Die Schriftstellerin Mariam Kühsel–Hussaini.
Foto: Patrick Bienert
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trübem Kristall
Vergangenheitsverklärung nach Berliner Art:
Mariam Kühsel-Hussainis Roman „Tschudi“
VON CATRIN LORCH
Mariam Kühsel-Hussaini scheut das Pathos nicht. Es ist ein hoher Ton, den sie in ihrem Roman „Tschudi“ anschlägt: „Solche Wesen sind im Besitz anderer Kräfte, so unglaubwürdig das auch klingen mag. Sie wären sonst überhaupt nicht in der Lage, solch große Entscheidungen zu treffen und die Folgen zu ertragen. Sie würden sonst schlicht binnen Stunden zerfallen, jedenfalls ein Mensch mit durchaus ehrenwerten, doch eben nur mittelmäßigen Anlagen würde es, er würde verschwinden im Geschehen einer Wahrheit, die soeben dabei ist, sich zu erheben, wie es der Impressionismus zu Beginn unserer Geschichte tut. Er erwacht."
Ihr Titelheld, das „Wesen im Besitz anderer Kräfte“, ist der Kunsthistoriker und Museumsdirektor Hugo von Tschudi, der um die Wende zum Zwanzigsten Jahrhundert den Impressionismus in Deutschland bekannt machte, vor allem mit umstrittenen Ankäufen für die Nationalgalerie in Berlin. Wer allerdings hofft, auf knapp dreihundert Seiten diesem Mann nahe zu kommen, der sollte sich von der ersten Charakterisierung gewarnt sehen – man erfährt nicht wirklich etwas vom Leben so eines Berliner Direktors, von Ankaufsverhandlungen, Galeriebesuchen, Museumsalltag, oder gar Politik und Kunst. Und während die Handlung sich in den vielen Kapiteln, die jeweils als unverbundene, lyrisch zersplitterte Einzelszenen angelegt sind, nicht wirklich entfaltet, dreht sich das gedanklich Geschraubte noch einige Windungen hinauf. Schon der venezianische Kanal, an dem man dem Titelhelden erstmals begegnet, windet sich wie ein „nass türkises Seidenband“. Luft ist ein „Gewölbe aus trübem Kristall“ vor dem sich der „unbeschreiblich felsene Rücken, ganz in Schwarz unterlaufen“ von Tschudi abheben darf. Und das sind noch die harmlosen, die illustrativen Stilblüten.
In dem vorsätzlich anachronistischen, hochgestochenen Ton klingt mehr an – ein junger, in Berlin geprägter Konservatismus, der sich über ewige Werte, vor allem in der Kunst, beugt wie über den Weltgeist, er gibt sich hochgebildet, elitär, genealogisch. Dieser Kunst-Konservatismus ist eine Parallelwelt der zeitgenössischen Kunst und aktuellen Kunstgeschichte. Er blendet die zeitgenössischen Entwicklungen – politische Kunst, Konzept, Institutionskritik, die Kultur-für-alle-Museumsgründungen und Akademiereformen – vorsätzlich aus. Und er veredelt noch jede Kreuzberger Malerbiografie in eine an Vasari gemahnende Vita, die sich gut in den von Auktionshäusern und Galerien edierten Magazinen vermarkten lässt.
Berlin hat Bedarf. Weniger der Tausenden von Künstlern wegen, die in der Stadt arbeiten, denn wegen der Ratlosigkeit vor den glatten, platten- oder granitverkleideten Straßen in ihrem Zentrum. Der konservative Kunstfreund – und es gibt viele Autoren, die den Job gerne übernehmen – sucht eigentlich nicht nach Ästhetik, er wärmt sich im kalten Berlin lieber wohlig an Reminiszenzen auf eine Epoche, die lose von der Jahrhundertwende bis in die Zwanzigerjahre reicht, wobei alles wirklich Moderne und Avantgardistische ausgeblendet wird – Film, Fotografie, Zeitungswesen und Radio, also Massenmedien. Seine Gedanken flanieren stattdessen im „Tiergarten“, am „Wannsee“ und „Unter den Linden“, vorbei an Cafés, Villen, Restaurants, Clubs, Einkaufsstraßen und Galerien, immer in Blickrichtung auf das Genie.
Ihr Berlin ist eine Kulisse, vor der sich berühmte Künstlernamen funkelnd abheben. Und erzählen sich Geschichten von verkannten Genies, posthumen Erfolgen, märchenhaften Wertsteigerungen oder dem Triumph verfemter Stile nicht einfach besser? Kunst kommt da vom Kämpfen, die Siegerperspektive kann von Helden berichten und das Durchsetzen einer Malweise wie territoriale Eroberungen feiern – während die tatsächliche Forschung nur trocken die Zusammenhänge zwischen Werk, Publikum, Soziologie, Peripherie und Medien aufdröselt. Warum aber eignet sich eine Vermittlerfigur wie der 1851 geborene Schweizer Hugo von Tschudi, der früh den Impressionismus in seiner Qualität erkannte und in Deutschland etablierte, überhaupt für solche Epen? Immerhin: Seine Ankäufe und die offensive Hängung der französischen Künstler in der Nationalgalerie wurden sogar vom Kaiser persönlich kritisiert. Von der aufschlussreichen Biografie bis zum Zeitpanorama wäre also Stoff vorhanden.
Doch Mariam Kühsel-Hussaini ist beides nicht gelungen. Ihr Buch liest sich, als habe man die in einem Glossar gelisteten Namen über einen Stadtplan des Berlins um die Jahrhundertwende ausgestreut. Nie öffnet sich die Tür eines der mit lexikalischer Genauigkeit verzeichneten Restaurants, der Nachtklubs und Gaststätten (vom „Borchardt“ bis zum „Café Friedrichshof“), ohne dass irgendein heute noch prominenter Künstler, Schauspieler, Politiker oder Schriftsteller eintritt. Briefe, die nicht von Gerhard Hauptmann, Cosima Wagner oder in der Pariser Galerie Durand-Ruel frankiert wurden, werden gar nicht geöffnet.
Wenn der Bankier und Kunstsammler Ernst von Mendelssohn („ein gern gesehener Mensch von existenzieller Klasse“) mit Tschudi ins gerade eröffnete „Apollo“ geht, dann steigt neben ihnen ein „sehr junger Mann mit strubbelig dickem Haar“ aus der Droschke, der dem Leser als „Max Reinhardt, ein aufstrebender Stern am Schauspielerhimmel“ vorgestellt wird. Der Kaiser reitet vorbei („Sein Herz, eine verletzte Taube im Käfig“). Harry Graf Kessler, Max Liebermann, Walter Leistikow treten auf, Industrielle wie Friedrich Krupp („von Sehnsucht durchströmt, wie der Golf von Neapel von gebräunten männlichen Schwimmern“), der Kritiker Julius Meier-Graefe („ein gutaussehender, edler, reichlich begabter Feuilletonist“) und – fast überraschend – auch Guido Henckel von Donnersmarck („Schwerstindustrieller und preußischer Graf“).
Die eigentümlichen Vergleiche und Charakterisierungen bremsen nicht nur den Lesefluss, sondern auch die Dynamik der Handlung. Zudem ist es auf so einem Olymp, als den die Autorin ihr Figurentableau angelegt hat, schwierig, miteinander ins Gespräch zu kommen: Der mit dem Kaiser plaudernde Philip von Eulenburg fragt dann ganz ungezwungen, ob die Albträume seiner Majestät wohl „von den Aufständen der Afrikaner in unseren Kolonien“ ausgelöst wurden oder doch „vom Parlament, Du bist ihm gefährlich geworden, wolltest über sie bestimmen“.
Und was haben sich ein Museumsdirektor und ein Maler noch zu sagen, wenn sie mit so umständlicher Steifheit nebeneinander gesetzt werden: „Der eine ein Nachkomme von Rittern und Gelehrten der höchsten Stunde, der andere ein Spross von schwarzen Adlern, die sich mit Gnomen kreuzten. Der eine ein zurückhaltender Über-Schatten, der andere ein göttlicher Stumpf.“ Nicht viel: „Tschudi sprach langsam und teuer. ‚Sie sind der Maler der Könige und für Könige, aber Sie haben mehr portraitiert als das, Sie haben die Kunst selbst gemalt.‘ Menzels Herz war getroffen wie von einem glühenden Zeigefinger Caravaggios.“
Die Berliner Konservativen, eine bildungshuberische Leserschaft, die Kunst als ungebrochene Wertschöpfungskette begreift, deren höchste Steigerungsform das Ewige und Göttliche sind, wird der ganze Schwulst womöglich nicht einmal stören. Dem weltläufigen, modernen Hugo von Tschudi waren dagegen Pathos und Kitsch ein Graus, er hat diesen biografischen Roman wirklich nicht verdient. Tschudi übrigens konnte selbst nicht nur schlicht und treffend, sondern auch lustig formulieren. So absonderliche Anachronismen, die waren ihm die „zopfigsten Abenteuerlichkeiten“.
Mariam Kühsel-Hussaini: „Tschudi“. Rowohlt Verlag, Hamburg 2020. 320 Seiten, 24 Euro.
Der konservative Kunstfreund
sucht eigentlich keine Ästhetik, er
wärmt sich an Reminiszenzen
Berlin als Kulisse, vor der sich berühmte Künstlernamen funkelnd abheben: die Alte Nationalgalerie in Mitte.
Foto: Esther DG/unsplash
Die Schriftstellerin Mariam Kühsel–Hussaini.
Foto: Patrick Bienert
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