"An dem Tag, als die Atombombe auf Nagasaki fiel, stand ich um fünf Uhr morgens auf. Mein Vater schlief?" In dem nachgelassenen Brief einer Nagasaki-Überlebenden enthüllt sich ein Familiendrama von der Unausweichlichkeit einer antiken Tragödie. Wie lebt man mit einer Wahrheit, die nie ans Licht kommen wird? Kann eine noch größere Schuld die eigene auslöschen? In einem fast nüchternen Stil von großer Eindringlichkeit erzählt Aki Shimazaki von einer unmöglichen Liebe und einem Geheimnis, das das Leben aller Betroffenen zerstört, von unserer Suche nach einem Sinn hinter den Geschehnissen und der Unfähigkeit des einzelnen, mehr als einen Teil der Wahrheit zu kennen.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Aki Shimazakis Roman um ein Familiendrama vor dem Hintergrund des amerikanischen Atombombenabwurfs in Nagasaki 1945 hat den "L.L." zeichnenden Rezensenten zwar einigermaßen verwirrt, aber nicht wirklich überzeugt. Er hält fest: Der Hauptfigur, der an den Folgen des radioaktiven Fall-out schließlich sterbenden Mutter der Ich-Erzählerin, verhelfe die Katastrophe in Analogie zu dem, was die Psychoanalyse eine "Deckerinnerung" nenne, zu einer Art Deckereignis: "Der Vater der Mutter, der seine Frau betrogen und seine Mutter um die Liebe zu ihrem Halbbruder gebracht hat, scheint der Bombe zum Opfer gefallen zu sein", berichtet der Rezensent. Seiner Ansicht nach "ziemlich viel Gepäck" für den engen Raum des Romans; zudem "ein wenig verwirrend". Der Rezensent ist dementsprechend "unsicher, ob die atomar-familiär-erotische Parallelaktion geglückt ist."
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.09.2003Liebesblumen pflückt man nicht
Kamelien: Aki Shimazaki beschwört die Erinnerung an Nagasaki
Der Atombombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki, der im August 1945 zur Kapitulation Japans im Zweiten Weltkrieg führte, hat in der Literatur eine Sparte von beträchtlichem Ausmaß entstehen lassen, die mittlerweile über mehrere Generationen hinweg in den unterschiedlichsten Genres, von der Dichtung über die kurze dokumentarische Erzählung bis hin zum Roman, produktiv ist. Die allerersten Dokumente der sogenannten Atombombenliteratur, von unmittelbar Betroffenen verfaßt, wurden von den amerikanischen Besatzern noch streng zensiert und konnten zum Teil erst in den fünfziger Jahren erscheinen. Doch auch für das offizielle Japan war das Thema lange Zeit tabu; die überlebenden Opfer hatten mit mannigfachen Diskriminierungen zu kämpfen. In einem der berühmtesten Werke aus diesem Themenbereich, dem (auch verfilmten) Roman "Schwarzer Regen" des heimlichen Nobelpreisanwärters Masuji Ibuse, findet diese Leidensgeschichte einer gleichsam doppelten Bestrafung exemplarischen Ausdruck. Seit den sechziger Jahren haben sich zunehmend auch nicht direkt Betroffene, darunter der Nobelpreisträger von 1994, Kenzaburô Ôe, des Themas angenommen. Und mit der Zeit wird schließlich eine Generation auf den Stoff aufmerksam, die jenes nationale Trauma nur mehr aus Erzählungen der Älteren und aus Dokumentationen kennt.
Zu dieser Generation gehört die 1954 geborene Aki Shimazaki, die seit über zwanzig Jahren in Kanada lebt und nach einigen auf japanisch verfaßten Werken 1997 ihr erstes französisch geschriebenes Buch publizierte. "Tsubaki" lautet sein Titel und schiebt damit sogleich den japanischen Hintergrund dieser neuerdings transnational genannten Literatur ins Blickfeld. Zweifellos hätte die Erzählung auch "Kamelien" heißen können, denn nichts anderes ist gemeint als die von der ersten Seite an immer wieder angeführte Lieblingsblume der Mutter der Ich-Erzählerin, von der wir nicht viel mehr wissen, als daß sie japanischer Abstammung ist. Die Erzählgegenwart wird nur schemenhaft geschildert. So erfahren wir beispielsweise nicht, wo, in welchem Land oder welchem Kulturkreis sie sich aufhält. Es ist jedenfalls eine Weltregion - möglicherweise Kanada -, wo Grabsteine auf Rasenflächen stehen und die ausländische Putzfrau weder Japanisch noch die Landessprache versteht.
Die Ich-Erzählerin erhält vom Anwalt ihrer soeben verstorbenen Mutter zwei Briefe. Einer davon ist für sie bestimmt; sein Inhalt macht den größten Teil des Textes aus. Angestoßen durch Fragen ihres Enkels nach der Bedeutung der Ereignisse gegen Kriegsende, schildert die Mutter, die den Atombombenabwurf bei Nagasaki erlebte, im Brief ihr persönliches Geheimnis. Yukiko, so ihr Name, hatte sich in ihrer Schulzeit während des Kriegs in den Nachbarjungen Yukio verliebt und eines Tages herausgefunden, daß dieser in Wirklichkeit ihr Halbbruder war. Gleichzeitig entdeckt sie, daß ihr Vater sich mit Yukikos widerstrebender Mutter, seiner früheren Geliebten, die er aber nicht hatte heiraten wollen, nach wie vor traf. Was sie jedoch dazu trieb, daraufhin ihren Vater mit Zyankali zu vergiften, läßt sie in ihrem Brief, der eher eine szenische Darstellung als eine Reflexion des Geschehens bietet, offen. Der Mord bleibt unentdeckt, da er just an dem Morgen geschah, als die Bombe alles Leben in ihrem Viertel auslöschte.
Ein vordergründiger Reiz dieses Werks für eine nichtjapanische Leserschaft mag in der Atombombenthematik aus der Opferperspektive liegen, und die Autorin bedient sich in ihrer Schilderung der Szenerie jener Horrorbilder der leidenden Kreatur, die in besagter Literatursparte mittlerweile schon zum Klischee geronnen sind. Wie sie aber die Frage nach persönlicher und überpersönlicher Schuld miteinander verknüpft, Hiroshima und Auschwitz, das Massaker von Nanking und die Christianisierung Japans im sechzehnten und im neunzehnten Jahrhundert suggestiv in Beziehung zueinander setzt, ist höchst problematisch: Ihr fehlt dazu schlicht die schriftstellerische Fähigkeit. Dagegen fallen die zahlreichen unwahrscheinlichen Wendungen und Widersprüche der Geschichte und die penetrante Gutmenschen-Attitüde der Briefschreiberin kaum mehr ins Gewicht.
Zwar trägt die Familientragödie unverkennbar japanische Züge - die Verschwiegenheit, das Nichtmiteinanderreden, das impulsive Agieren der Personen ersticken jede Möglichkeit einer rationaler gesteuerten Problembewältigung. So bleibt am Ende die Frage offen, was denn die Tochter, nämlich die Ich-Erzählerin, und ihr Sohn aus diesem Post-mortem-Geständnis über sich und ihr Verhältnis zur Welt lernen könnten. Schade, zwischen den so hübsch gestalteten Buchdeckeln hätte man sich eine erquicklichere Lektüre gewünscht.
IRMELA HIJIYA-KIRSCHNEREIT.
Aki Shimazaki: "Tsubaki". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Bernd Wilczek. Verlag Antje Kunstmann, München 2003. 111 S., geb., 14,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kamelien: Aki Shimazaki beschwört die Erinnerung an Nagasaki
Der Atombombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki, der im August 1945 zur Kapitulation Japans im Zweiten Weltkrieg führte, hat in der Literatur eine Sparte von beträchtlichem Ausmaß entstehen lassen, die mittlerweile über mehrere Generationen hinweg in den unterschiedlichsten Genres, von der Dichtung über die kurze dokumentarische Erzählung bis hin zum Roman, produktiv ist. Die allerersten Dokumente der sogenannten Atombombenliteratur, von unmittelbar Betroffenen verfaßt, wurden von den amerikanischen Besatzern noch streng zensiert und konnten zum Teil erst in den fünfziger Jahren erscheinen. Doch auch für das offizielle Japan war das Thema lange Zeit tabu; die überlebenden Opfer hatten mit mannigfachen Diskriminierungen zu kämpfen. In einem der berühmtesten Werke aus diesem Themenbereich, dem (auch verfilmten) Roman "Schwarzer Regen" des heimlichen Nobelpreisanwärters Masuji Ibuse, findet diese Leidensgeschichte einer gleichsam doppelten Bestrafung exemplarischen Ausdruck. Seit den sechziger Jahren haben sich zunehmend auch nicht direkt Betroffene, darunter der Nobelpreisträger von 1994, Kenzaburô Ôe, des Themas angenommen. Und mit der Zeit wird schließlich eine Generation auf den Stoff aufmerksam, die jenes nationale Trauma nur mehr aus Erzählungen der Älteren und aus Dokumentationen kennt.
Zu dieser Generation gehört die 1954 geborene Aki Shimazaki, die seit über zwanzig Jahren in Kanada lebt und nach einigen auf japanisch verfaßten Werken 1997 ihr erstes französisch geschriebenes Buch publizierte. "Tsubaki" lautet sein Titel und schiebt damit sogleich den japanischen Hintergrund dieser neuerdings transnational genannten Literatur ins Blickfeld. Zweifellos hätte die Erzählung auch "Kamelien" heißen können, denn nichts anderes ist gemeint als die von der ersten Seite an immer wieder angeführte Lieblingsblume der Mutter der Ich-Erzählerin, von der wir nicht viel mehr wissen, als daß sie japanischer Abstammung ist. Die Erzählgegenwart wird nur schemenhaft geschildert. So erfahren wir beispielsweise nicht, wo, in welchem Land oder welchem Kulturkreis sie sich aufhält. Es ist jedenfalls eine Weltregion - möglicherweise Kanada -, wo Grabsteine auf Rasenflächen stehen und die ausländische Putzfrau weder Japanisch noch die Landessprache versteht.
Die Ich-Erzählerin erhält vom Anwalt ihrer soeben verstorbenen Mutter zwei Briefe. Einer davon ist für sie bestimmt; sein Inhalt macht den größten Teil des Textes aus. Angestoßen durch Fragen ihres Enkels nach der Bedeutung der Ereignisse gegen Kriegsende, schildert die Mutter, die den Atombombenabwurf bei Nagasaki erlebte, im Brief ihr persönliches Geheimnis. Yukiko, so ihr Name, hatte sich in ihrer Schulzeit während des Kriegs in den Nachbarjungen Yukio verliebt und eines Tages herausgefunden, daß dieser in Wirklichkeit ihr Halbbruder war. Gleichzeitig entdeckt sie, daß ihr Vater sich mit Yukikos widerstrebender Mutter, seiner früheren Geliebten, die er aber nicht hatte heiraten wollen, nach wie vor traf. Was sie jedoch dazu trieb, daraufhin ihren Vater mit Zyankali zu vergiften, läßt sie in ihrem Brief, der eher eine szenische Darstellung als eine Reflexion des Geschehens bietet, offen. Der Mord bleibt unentdeckt, da er just an dem Morgen geschah, als die Bombe alles Leben in ihrem Viertel auslöschte.
Ein vordergründiger Reiz dieses Werks für eine nichtjapanische Leserschaft mag in der Atombombenthematik aus der Opferperspektive liegen, und die Autorin bedient sich in ihrer Schilderung der Szenerie jener Horrorbilder der leidenden Kreatur, die in besagter Literatursparte mittlerweile schon zum Klischee geronnen sind. Wie sie aber die Frage nach persönlicher und überpersönlicher Schuld miteinander verknüpft, Hiroshima und Auschwitz, das Massaker von Nanking und die Christianisierung Japans im sechzehnten und im neunzehnten Jahrhundert suggestiv in Beziehung zueinander setzt, ist höchst problematisch: Ihr fehlt dazu schlicht die schriftstellerische Fähigkeit. Dagegen fallen die zahlreichen unwahrscheinlichen Wendungen und Widersprüche der Geschichte und die penetrante Gutmenschen-Attitüde der Briefschreiberin kaum mehr ins Gewicht.
Zwar trägt die Familientragödie unverkennbar japanische Züge - die Verschwiegenheit, das Nichtmiteinanderreden, das impulsive Agieren der Personen ersticken jede Möglichkeit einer rationaler gesteuerten Problembewältigung. So bleibt am Ende die Frage offen, was denn die Tochter, nämlich die Ich-Erzählerin, und ihr Sohn aus diesem Post-mortem-Geständnis über sich und ihr Verhältnis zur Welt lernen könnten. Schade, zwischen den so hübsch gestalteten Buchdeckeln hätte man sich eine erquicklichere Lektüre gewünscht.
IRMELA HIJIYA-KIRSCHNEREIT.
Aki Shimazaki: "Tsubaki". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Bernd Wilczek. Verlag Antje Kunstmann, München 2003. 111 S., geb., 14,90 [Euro].
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"Ein kurzer, dichter, verstörender Roman voller Schönheit - eine neue literarische Stimme." (Elle, Quebec)