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Etüden nennt Friederike Mayröcker ihre prosaischen Gedichte und lyrischen Prosastücke, Studien also, »Fetzchen« auch, wie sie sagt, splitternd, brüchig und aufs höchste konzentriert, die Sprache zugespitzt aufs Wesentliche allein, der Entgrenzung von Raum und Zeit, der Transposition des gelebten Augenblicks in ein ewiges Hier und Jetzt. Allesamt sind es Variationen auf die Vergänglichkeit des Irdischen - ein Motiv, das längst zum beherrschenden im sich unaufhörlich radikalisierenden Alterswerk der Wiener »poeta magica« geworden ist. Übung für Übung wird der Skandal der Endlichkeit des Lebens…mehr

Produktbeschreibung
Etüden nennt Friederike Mayröcker ihre prosaischen Gedichte und lyrischen Prosastücke, Studien also, »Fetzchen« auch, wie sie sagt, splitternd, brüchig und aufs höchste konzentriert, die Sprache zugespitzt aufs Wesentliche allein, der Entgrenzung von Raum und Zeit, der Transposition des gelebten Augenblicks in ein ewiges Hier und Jetzt. Allesamt sind es Variationen auf die Vergänglichkeit des Irdischen - ein Motiv, das längst zum beherrschenden im sich unaufhörlich radikalisierenden Alterswerk der Wiener »poeta magica« geworden ist. Übung für Übung wird der Skandal der Endlichkeit des Lebens einem unwiderstehlichen Verwandlungszauber unterzogen, der das beschwerlich Profane in der Losgelöstheit der Poesie zum Verschwinden bringt. Friederike Mayröckers Etüden sind Texte in betörendem Moll, melancholisch, verletzlich, aber voll des Lebens und prall der Abwehr des Todes: »NEIN keinen Tod keine Wandlung kein Verderben kein Hinscheiden kein Abschied kein unisono«. Kompromisslos einzigdem Schreiben verpflichtet zeigt sich die große Dichterin, von unüberbietbarer sprachlicher Kühnheit ist ihre Poesie.
Autorenporträt
Friederike Mayröcker wurde am 20. Dezember 1924 in Wien geboren und starb am 4. Juni 2021 ebendort. Sie besuchte zunächst die Private Volksschule, ging dann auf die Hauptschule und besuchte schließlich die kaufmännische Wirtschaftsschule. Die Sommermonate verbrachte sie bis zu ihrem 11. Lebensjahr stets in Deinzendorf, welche einen nachhaltigen Eindruck bei ihr hinterließen. Nach der Matura legte sie die Staatsprüfung auf Englisch ab und arbeitete zwischen 1946 bis 1969 als Englischlehrerin an verschiedenen Wiener Hauptschulen. Bereits 1939 begann sie mit ersten literarischen Arbeiten, sieben Jahre später folgten kleinere Veröffentlichungen von Gedichten. Im Jahre 1954 lernte sie Ernst Jandl kennen, mit dem sie zunächst eine enge Freundschaft verbindet, später wird sie zu seiner Lebensgefährtin. Nach ersten Gedichtveröffentlichungen in der Wiener Avantgarde-Zeitschrift "Plan" erfolgte 1956 ihre erste Buchveröffentlichung. Seitdem folgten Lyrik und Prosa, Erzählungen und Hörspiele, Kinderbücher und Bühnentexte.
Rezensionen
»Friederike Mayröcker verzaubert, weil sie Sprache und Leben verbindet.«

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Etwa zwei Jahre umfassen die datierten Eintragungen in Friederike Mayröckers "études", die aber ganz gewiss nicht nur Fingerübungen sind, verrät Meike Fessmann. Darin geht es mit einer zurückhaltenden, unscheinbaren Ästhetik um "die enger werdenden Räume des Alters", um allerlei Gebrechen, um das "Tödlein", das am Ende wartet, mit dem inzwischen aber gespielt werden darf, es geht um die Scham, "die Hölle des weiblichen Alters", um Trauer, fasst die Rezensentin zusammen. In diesen Bruchstücken und Erinnerungsfetzen steckt viel ungeschönte Wahrheit, aber auch ein bisschen Trost, findet Fessmann.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.01.2014

Kein Hinscheiden, kein Abschied, kein Unisono
Was für eine Liebeserklärung an die deutsche Sprache: Friederike Mayröcker erweist sich in ihren "études" als Meisterin des Prosagedichts

Ein kraftvolles, leidenschaftliches, lebensvolles, expressives Buch, diese Etüden einer neunundachtzig Jahre alten großen Dichterin! Über zwei Jahre hinweg, vom 22. Dezember 2010 bis zum 16. Dezember 2012, hat Friederike Mayröcker in den frühen Morgenstunden ihre "études" geschrieben, jeweils mit dem Entstehungsdatum versehene Texte, die manchmal nur wenige Zeilen umfassen und kaum länger als eine Druckseite sind: Textkonzentrate ihrer Träume und Erinnerungen, ihrer Begegnungen und Lektüren, ihrer Wahrnehmungen und Empfindungen vor dem Hintergrund des Wechsels der Jahreszeiten - Lebenskonzentrate mithin. Formal hat sie sich dabei von Francis Ponges Prosagedichten anregen lassen, thematisch ist sie ganz bei sich selbst geblieben. Der Grad der darstellerischen Verdichtung allerdings, den sie in diesen Texten von altersloser Kraft erreicht, ist staunenswert.

Natürlich weiß sie, dass sie dem Leser mit ihrem schriftstellerischen Verfahren der bricolage, der Bastelei, den Zugang zu diesen Texten nicht leicht macht; vieles ist rätselhaft, manches bleibt unzugänglich, anderes wiederum ist so privat, dass der Leser ausgeschlossen bleibt: "alles nur Bricolage", so heißt es gleich zu Beginn, damit der Leser weiß, worauf er sich einlässt. Aber die Technik der Bricolage, Ereignisse und Zeichen in ungewohnte und überraschende Kontexte zu stellen, führt zu einer Entautomatisierung und Intensivierung der Wahrnehmung, die den Leser, je mehr er sich auf die Bildkraft und den schöpferischen Wahnwitz dieses Buches einer bekennenden "Postsurrealistin" einlässt, süchtig machen können. Zumal Friederike Mayröcker dem Leser, bevor er sich in dem Verhau dieser Texte verliert, mit leichter Hand und einiger Ironie die Wege ebnet: "Bevor der Leser abspringt weil ihm die Luft der Lektüre zu dünn geworden ist, biete ich ihm einen Happen Verständlichkeit". Was sie ihm dagegen nie bietet, ist Erzählung; ihrer Aversion gegen alles Erzählen verdankt das Buch sogar sein Jean-Paulsches Motto: "Und ich hasse doch, sogar im Roman, alles Erzählen so sehr." Stattdessen breitet sie in ihren Etüden bildgesättigte "Flächen von wildem Sprach Fleisch ich meine Flächen von wilden Sprach Elementen" aus. Tatsächlich sind diese Etüden von herrlicher Wildheit.

Bezaubernd an Mayröckers neuen Texten ist die bildpräzise Erinnerungsintensität, die immer wieder in die Zeit der Kindheit zurückgreift, die Gestalt des Vaters und öfter noch die der Mutter in kurzen Rückblicken aufscheinen lässt, den hier ohne Namen bleibenden Lebensgefährten, der vor dreizehn Jahren gestorben ist, für Augenblicke in die Gegenwart zurückholt, die Begegnungen und Gespräche eines langen Lebens wachruft: "närrisch schwer von Schlaf in meiner Göttin Erinnerung", der sie die Rettung der flüchtigen Phänomene anvertraut. Der Weite der Erinnerungsräume, die diese Göttin mit zeitenthobener Sinnlichkeit öffnet, steht in diesen Texten die schmerzliche Erfahrung der Enge der Lebens- und Erfahrungsräume gegenüber, in die sich die Existenz des alten Menschen zurückzieht.

Zu ihr gehört auch die Gefahr der Vereinsamung: "Wenn du den tiefsten Schmerz der Vereinsamung fühlst wirst du 1 Dichter sein unter Mimosenbäumchen Palmen/Perlen." Den Schmerz der Einsamkeit registrieren die Texte ohne jede Sentimentalität oder Wehleidigkeit, dies wohl auch deshalb, weil Friederike Mayröcker in ihren Etüden im lebendigen Dialog mit ihren Freunden und Bewunderern unter den Dichtern bleibt: Volker Braun und Elke Erb, Marcel Beyer und Ann Cotten.

In ihrer wilden, expressiven, sinnenfrohen Diesseitigkeit sind diese Etüden ein großer Protest der Dichterin gegen den Tod und die eigene Sterblichkeit. Das Thema klingt schon früh in diesem Buch an und zieht sich mit wachsender Intensität bis zu dessen Ende durch: "Etüden von Regen, Küsse von Regentropfen / tauenden Himmeln, möchte in brausenden Gärten spazieren brennenden / Gärten mit dir usw., NEIN keinen Tod keine Wandlung kein Verderben / kein Hinscheiden kein Abschied kein unisono". Das großzügig über die Texte verteilte "usw.", das dem Leser allerdings gelegentlich auch ein bisschen auf die Nerven gehen kann, ist die zum Kürzel geronnene Repräsentation dieses zum diesseitigen Unendlichkeitsverlangen gesteigerten Lebenswillens.

Die Etüden geben zwar die eigene Gebrechlichkeit und die tief in den Körper gezeichneten Altersspuren deutlich zu erkennen: "An allen Ecken und Enden bin ich krank an allen Ecken und Enden bin ich elend". Aber dagegen stemmen sich im Textgeschehen die in Sprachdynamik umgesetzte Sehnsucht der Dichterin nach Lebensteilhabe und ihr fundamentales Desinteresse am Jenseits: "Möchte sweet April noch 1 × erleben, sage ich, atmende Blütenschwärme knospende Kastanie = Schwermut, fliehende Flora flitzende Fauna".

Um so bewegender ist dann die Imagination des eigenen Sterbens auf den letzten Seiten des Buchs: "Vergisz mich nicht, wirst mich begraben müssen kommst nicht darum herum, sage ich, da werden sie alle singen wie Engel, sage ich, und ich werde alles verfluchen weil ich nicht davon will weil die Erde doch so wunderschön". Tröstlicher Gedanke: Die Schreiblust dieser Dichterin ist ohnehin stärker als der Tod.

Das Schreiben erweist sich jedenfalls in diesem Buch als das stärkste Lebenselixier: "Ich bin beim Schreiben hingerissen, da regnet es Feuertupfen". Und wenn ihr die "Koloraturen der Seele" dabei allzu gefühlsintensiv geraten, ruft sie sich gern ironisch selbst zur Ordnung: "le kitsch". Am Ende aber steht eine "mit Empfindung" vorgetragene Grußbotschaft der Dichterin an das Element, in dem sie lebt und Texte webt: ihre "geliebte deutsche Sprache welche einzig HEIMAT".

Wann hat man jemals in jüngerer Zeit eine so bezaubernde Liebeserklärung an die deutsche Sprache gelesen, wie es die "études" sind? So wie diese: "Ans Herz gedrückt bis zum Ende, ach einzig diese betörende Umhalsung mit meiner Sprache welche HEIMAT: tränenreiche, welche Inbild, Raserei, welche Schreibtäfelchen, Kodex"?

ERNST OSTERKAMP

Friederike Mayröcker: "études".

Suhrkamp Verlag,

Berlin 2013. 193 S., geb., 19,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Sie komponiert ihr poetisches Prosabuch aus allerlei Ingredienzien, aufblitzenden Bildchen der Wahrnehmung und der Erinnerung, aber auch aus Gelesenem, aus älteren, gestrigen, vorgestrigen Notaten, und macht daraus einen Fleckerlteppich, der im Ensemble des Heterogenen seine eigene Leuchtkraft entwickelt.« Leopold Federmair Neue Zürcher Zeitung 20140114