Wir Menschen sind Bürger des Universums, aber zugleich sind wir auch Privatbesitzer unserer Lebensläufe. Wir leben im 21. Jahrhundert und zugleich in den langen Zeiten, aus denen wir kommen und die wir in uns tragen. So existieren wir in einem Babylon verschiedener Realitäten. In jedem Moment: Tür an Tür mit einem anderen Leben. Das gilt für den Bombenleger und Blitzkrieger, für Liebende, für Menschen, die einander hassen, für unsere Ahnen und für das »moderne Raubtier«, das in Gestalt globalisierter Unternehmen uns Menschen gelegentlich überholt und scheinbar zurückläßt. In den neun Kapiteln des Buches geht es um Welt- und Wirtschaftskriege, um Liebes- und Familiengeschichten, um den Zeitbedarf von Revolutionen und um Bastionen des Überlebens, die einer nicht aufgibt, ohne auf Leben und Tod zu kämpfen. Alexander Kluges 350 neue Geschichten, die den Erzählstrom der Geschichtenbücher Chronik der Gefühle und Die Lücke, die der Teufel läßt fortführen, handeln vom Unterschied zwischen »wirklich«und »unwirklich«. Worum geht es? Darum, daß selbst in einer »Welt des Mangels und der Abstiege« Menschen ungeahnte Kräfte entfalten und an ihrer Glückssuche festhalten, zwischen Liebe und Barbarei.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.01.2007Artisten in der Zirkuskuppel, rastlos
Mit seinem neuen Erzählwerk, das an seine gewaltige "Chronik der Gefühle" anschließt, verbindet Alexander Kluge abermals in kühner Weise das Intime und das Welthistorische.
Von Peter Demetz
Alexander Kluge verspricht uns in seinem neuen Buch 350 neue Geschichten, aber ich glaube, dass es fast doppelt so viele sind. Es kommt darauf an, was man als Geschichte bezeichnen will, die ganz große und die ganz kleine, Historie oder Anekdote, und die gehen in Kluges Kapiteln, wie seine Liebespaare, Hand in Hand. Der philosophische und der erzählerische Pulsschlag schlagen hoch. Dieses Buch besteht eigentlich aus neun Büchern, von denen jedes seine chaotische Ordnung hat, denn der Autor findet es nur angemessen, dass sein Blick das irdische Leben vor 650 Millionen Jahren (wenn es Leben gab) ebenso umfasst wie das neuere Halberstadt, wo er vor fast 75 Jahren als Sohn einer gutbürgerlichen Familie zur Welt kam. Dem Kritiker, der nach einer Urformel sucht, die ihm die überwältigende Konstruktion des Buches einleuchtender machen könnte, hält Kluge einen autobiographischen Köder hin: Sein ganzes Leben sei, wie er dem staunenden Martin Walser verriet, von der sehnsüchtigen Bemühung des sechsjährigen Jungen bestimmt gewesen, die Scheidung der geliebten Eltern zu verhindern.
Ich denke nicht daran, da anzubeißen, denn er fügt ja hinzu, dass auch der Siebzehnjährige und der Zweiunddreißigjährige mitrede, und da werden die anderen auch noch ein Mitspracherecht haben. Nicht ohne Grund erzählt er die Geschichte der jungen Pariser Studentin, die sich in das hochfeudale Hotel King George V auf den Champs Élysées durchschwindelt, um dort im Wellness Center luxuriös zu baden um dann wieder in ihr anderes Leben zurückzukehren: "Sie suchte keine neue Identität, sondern die eigene, davon aber mehrere."
Das endlose Glücksverlangen.
Kluge vertraut der Paläontologie, der Anthropologie und Soziologie mehr als der Spekulation, aber seine Grundgedanken haben (obwohl im ganzen Buch nur ein Elefant im Zoo von Chicago Hegel wörtlich zitiert) metaphysisches Gewicht. Kluge sagt uns, dass unsere Vorfahren glücklich waren, dem Eise zu entrinnen, um sich in den wirtlicheren Winkeln der Erde einzunisten. Beflügelt von einem unendlichen Lebenswillen und einem endlosen Glücksverlangen, schufen sie sich Ackerbau und Viehzucht, Liebe, Religion, Staat und Revolution - allerdings Aug in Aug oder eben "Tür an Tür" mit einem lebensfeindlichen und lebensverneinenden Element, mit Krankheit, Feuer, Tod, Krieg und Zerstörung jeglicher Art. Kluge zählt zu den Optimisten, die an den Triumph des Glücksverlangens glauben, aber er zögert nicht, sich in jenen fatalen Zonen zu bewegen, in welchen die negative Zerstörungsmacht den Lebenswillen bedroht, die napoleonischen Feldzüge, Verdun und die Westfront 1918, das Massaker von Smyrna, Hitlers Kriege und die Ereignisse im Irak.
Sein Optimismus ist nicht unbegrenzt, und je tiefer er sich in die Historie und in die Geschichte seines eigenen Lebens begibt, desto deutlicher wird seine melancholische Skepsis und seine Trauer um das Verlorene, das im Bombenkrieg zerstörte Vaterhaus, das er mit stifterscher Pietät beschreibt, oder die Revolutionen von gestern, die immer auf halbem Wege liegenblieben.
Kluge schlüpft als Prosaautor in die widersprüchlichsten Rollen und kommt uns, um seiner Geschichten willen, als Colonel einer britischen Interventionsarmee oder als Eisenhändler, der den Wert alter Waffen kennt, um nur einige wenige zu nennen. Ich lese Kluges Gespräche, Analysen und Geschichten über Zirkus und alte Lokomotiven mit Aufmerksamkeit, denn sie implizieren Autobiographisches deutlicher als andere Abschnitte, und eine elegische Tonart beginnt die ironische Skepsis zu verdrängen. "Die Kinderphantasie ,Zirkus' richtet sich darauf, dass Menschen ,alles möglich' ist." Sie erfüllt die "Sehnsucht nach dem Unwahrscheinlichen", und selbst internationale Gelehrte diskutieren das Miteinander von Zirkus, der im Zeitalter der Französischen Revolution entstand, des Vernunftzeitalters und der Guillotine, ohne zu einem Ergebnis zu gelangen.
Kluge ist ein unterhaltsamer Kenner der Zirkusgeschichte, auch der amerikanischen, und bewundert, mit Recht, die Opulenz des ehemaligen sowjetischen Staatszirkus. Allerdings verfährt er auf seine Weise, denn er präsentiert uns eine Aufnahme aus dem berühmten Sowjetmusical "Tsirk/Zirkus" (1936), in welchem die Diva Luba Orlova auf einer Kanone tanzt, also ein kinematographisches Zirkus-Wunschbild, aber wer wollte das ihm, dem Filmfan, verübeln?
Die Lokomotive des Fortschritts.
Auch die Lokomotiven der alten Art ziehen Kluges Imagination mächtig an, weil sie eine Metapher des Fortschrittes gewesen sein mochten. Ich fürchte nur, dass Kluge da auf einige Abwege gerät; sein scholastisches Verfahren, die Lokomotive, in theologisch-allegorischer Art, in ihre mechanischen Bestandteile zu zerlegen und zu fragen, welche Institutionen der Französischen Revolution dem sogenannten "Lokomotiven-Kreuzkopf" entsprechen, welcher die senkrechte Bewegung in eine gleitende verwandelt, ermangelt leider jeder Ironie, oder sie ist nicht deutlich genug. Zum Glück hat er dem Buch eine Fotografie vorangestellt, die den schläfrigen Knaben Kluge zeigt, der in kindlicher Hingabe mit seiner Modellbahn spielt. Abschied von alten Lokomotiven? Es geht auch ohne Marx-Zitate.
Kluge hat als Autor seine eigene Physiognomie besonderer Neigungen und Leitmotive, die seine Geschichten auslösen (wie Kleists Anekdoten "offen zur Philosophie hin"). Auf die Folge der Geschlechter blickend, rücken Gene, Clans und Generationen eng aneinander (Story: ein Neffe Nietzsches, vom Reichssicherheitshauptamt als Pförtner angestellt und dann als Mitläufer eingestuft). Amerikanische Kollegen aus Soziologie und Philosophie werden gern zitiert (so oft, dass ich mir viele der Namen googelte, um mich zu vergewissern, dass sie keine fiktiven Figuren sind), gelehrte Konferenzen in Aspen, Princeton und Stanford haben ihre dramaturgische Funktion, und Revolutionäre tun gut daran, ihre Hauptquartiere in der unmittelbaren Nachbarschaft der Kommunikationsmittel aufzuschlagen - Lenin und Trotzki in Eisenbahnwaggons auf freier Strecke, aber unter den Telegraphendrähten. Davon ist er so begeistert, dass er das zwei- oder dreimal erzählt.
Inmitten der blutigen welthistorischen Kulissen leben aber die einzelnen Menschen, die in ihrem unstillbaren Glücksverlangen Wunder an Treue, Ordnungssinn, Zärtlichkeit und Liebe vollbringen, wie die Geliebte eines Strafgefangenen, den sie im Gefängnis besucht, und ihre Hände mit einem Karosserieklebstoff einreibt, sodass sie nicht mehr getrennt werden können, oder das junge Mädchen, vergewaltigt 1945 von einem Sowjetsoldaten - sie forscht nach dem Übeltäter (Vater ihres Sohnes) und findet ihn viele Jahrzehnte später, nach Öffnung der Archive, in Smolensk, wo man späte Hochzeit feiert, "mit Gurke, Kaviar, Kartoffeln, eingelegtem Kraut". Kluges Großvater mütterlicherseits entscheidet sich plötzlich auf dem Eislaufplatz, eine junge Frau zu ehelichen, die eben in der Umkleidekabine verschwunden ist, "alles in einem Moment von vielleicht 16 Sekunden im Abendlicht und zum Geschlurfe der Schlittschuhläufer", eben Großmama, die 101 Jahre alt wird.
Ich kenne in der deutschen Sprache kein anderes Buch, welches das Welthistorische und das Intime (oder: das Allgemeine und das Besondere) so ehrgeizig und kühn verbindet (ähnlich nur in der gegenwärtigen amerikanischen Literatur William T. Vollmanns "Central Europe", auch nicht weniger als 810 Seiten) und mir verdeutlicht, wie die Menschen "Ströme" von Handlungen schaffen, in denen ihnen dann andere folgen. Mit seinen formalen Diskontinuitäten stellt das Buch seine berechtigten Ansprüche, aber es ist seine besondere Tugend, Einsichten des Erzählers nicht als rettende Wahrheiten zu dekretieren. Kluge gibt, im wahrsten Sinne des Wortes, zu bedenken, was der Fall war und wie, in Historie und in den Schicksalen der Menschen, und wir sind frei, unserem Verlangen nach Erkenntnis und unserer Lust an Literatur zugleich zu frönen. Das ist ein seltenes Fest.
- Alexander Kluge: "Tür an Tür mit einem anderen Leben". 350 neue Geschichten.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 646 S., br., 22,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit seinem neuen Erzählwerk, das an seine gewaltige "Chronik der Gefühle" anschließt, verbindet Alexander Kluge abermals in kühner Weise das Intime und das Welthistorische.
Von Peter Demetz
Alexander Kluge verspricht uns in seinem neuen Buch 350 neue Geschichten, aber ich glaube, dass es fast doppelt so viele sind. Es kommt darauf an, was man als Geschichte bezeichnen will, die ganz große und die ganz kleine, Historie oder Anekdote, und die gehen in Kluges Kapiteln, wie seine Liebespaare, Hand in Hand. Der philosophische und der erzählerische Pulsschlag schlagen hoch. Dieses Buch besteht eigentlich aus neun Büchern, von denen jedes seine chaotische Ordnung hat, denn der Autor findet es nur angemessen, dass sein Blick das irdische Leben vor 650 Millionen Jahren (wenn es Leben gab) ebenso umfasst wie das neuere Halberstadt, wo er vor fast 75 Jahren als Sohn einer gutbürgerlichen Familie zur Welt kam. Dem Kritiker, der nach einer Urformel sucht, die ihm die überwältigende Konstruktion des Buches einleuchtender machen könnte, hält Kluge einen autobiographischen Köder hin: Sein ganzes Leben sei, wie er dem staunenden Martin Walser verriet, von der sehnsüchtigen Bemühung des sechsjährigen Jungen bestimmt gewesen, die Scheidung der geliebten Eltern zu verhindern.
Ich denke nicht daran, da anzubeißen, denn er fügt ja hinzu, dass auch der Siebzehnjährige und der Zweiunddreißigjährige mitrede, und da werden die anderen auch noch ein Mitspracherecht haben. Nicht ohne Grund erzählt er die Geschichte der jungen Pariser Studentin, die sich in das hochfeudale Hotel King George V auf den Champs Élysées durchschwindelt, um dort im Wellness Center luxuriös zu baden um dann wieder in ihr anderes Leben zurückzukehren: "Sie suchte keine neue Identität, sondern die eigene, davon aber mehrere."
Das endlose Glücksverlangen.
Kluge vertraut der Paläontologie, der Anthropologie und Soziologie mehr als der Spekulation, aber seine Grundgedanken haben (obwohl im ganzen Buch nur ein Elefant im Zoo von Chicago Hegel wörtlich zitiert) metaphysisches Gewicht. Kluge sagt uns, dass unsere Vorfahren glücklich waren, dem Eise zu entrinnen, um sich in den wirtlicheren Winkeln der Erde einzunisten. Beflügelt von einem unendlichen Lebenswillen und einem endlosen Glücksverlangen, schufen sie sich Ackerbau und Viehzucht, Liebe, Religion, Staat und Revolution - allerdings Aug in Aug oder eben "Tür an Tür" mit einem lebensfeindlichen und lebensverneinenden Element, mit Krankheit, Feuer, Tod, Krieg und Zerstörung jeglicher Art. Kluge zählt zu den Optimisten, die an den Triumph des Glücksverlangens glauben, aber er zögert nicht, sich in jenen fatalen Zonen zu bewegen, in welchen die negative Zerstörungsmacht den Lebenswillen bedroht, die napoleonischen Feldzüge, Verdun und die Westfront 1918, das Massaker von Smyrna, Hitlers Kriege und die Ereignisse im Irak.
Sein Optimismus ist nicht unbegrenzt, und je tiefer er sich in die Historie und in die Geschichte seines eigenen Lebens begibt, desto deutlicher wird seine melancholische Skepsis und seine Trauer um das Verlorene, das im Bombenkrieg zerstörte Vaterhaus, das er mit stifterscher Pietät beschreibt, oder die Revolutionen von gestern, die immer auf halbem Wege liegenblieben.
Kluge schlüpft als Prosaautor in die widersprüchlichsten Rollen und kommt uns, um seiner Geschichten willen, als Colonel einer britischen Interventionsarmee oder als Eisenhändler, der den Wert alter Waffen kennt, um nur einige wenige zu nennen. Ich lese Kluges Gespräche, Analysen und Geschichten über Zirkus und alte Lokomotiven mit Aufmerksamkeit, denn sie implizieren Autobiographisches deutlicher als andere Abschnitte, und eine elegische Tonart beginnt die ironische Skepsis zu verdrängen. "Die Kinderphantasie ,Zirkus' richtet sich darauf, dass Menschen ,alles möglich' ist." Sie erfüllt die "Sehnsucht nach dem Unwahrscheinlichen", und selbst internationale Gelehrte diskutieren das Miteinander von Zirkus, der im Zeitalter der Französischen Revolution entstand, des Vernunftzeitalters und der Guillotine, ohne zu einem Ergebnis zu gelangen.
Kluge ist ein unterhaltsamer Kenner der Zirkusgeschichte, auch der amerikanischen, und bewundert, mit Recht, die Opulenz des ehemaligen sowjetischen Staatszirkus. Allerdings verfährt er auf seine Weise, denn er präsentiert uns eine Aufnahme aus dem berühmten Sowjetmusical "Tsirk/Zirkus" (1936), in welchem die Diva Luba Orlova auf einer Kanone tanzt, also ein kinematographisches Zirkus-Wunschbild, aber wer wollte das ihm, dem Filmfan, verübeln?
Die Lokomotive des Fortschritts.
Auch die Lokomotiven der alten Art ziehen Kluges Imagination mächtig an, weil sie eine Metapher des Fortschrittes gewesen sein mochten. Ich fürchte nur, dass Kluge da auf einige Abwege gerät; sein scholastisches Verfahren, die Lokomotive, in theologisch-allegorischer Art, in ihre mechanischen Bestandteile zu zerlegen und zu fragen, welche Institutionen der Französischen Revolution dem sogenannten "Lokomotiven-Kreuzkopf" entsprechen, welcher die senkrechte Bewegung in eine gleitende verwandelt, ermangelt leider jeder Ironie, oder sie ist nicht deutlich genug. Zum Glück hat er dem Buch eine Fotografie vorangestellt, die den schläfrigen Knaben Kluge zeigt, der in kindlicher Hingabe mit seiner Modellbahn spielt. Abschied von alten Lokomotiven? Es geht auch ohne Marx-Zitate.
Kluge hat als Autor seine eigene Physiognomie besonderer Neigungen und Leitmotive, die seine Geschichten auslösen (wie Kleists Anekdoten "offen zur Philosophie hin"). Auf die Folge der Geschlechter blickend, rücken Gene, Clans und Generationen eng aneinander (Story: ein Neffe Nietzsches, vom Reichssicherheitshauptamt als Pförtner angestellt und dann als Mitläufer eingestuft). Amerikanische Kollegen aus Soziologie und Philosophie werden gern zitiert (so oft, dass ich mir viele der Namen googelte, um mich zu vergewissern, dass sie keine fiktiven Figuren sind), gelehrte Konferenzen in Aspen, Princeton und Stanford haben ihre dramaturgische Funktion, und Revolutionäre tun gut daran, ihre Hauptquartiere in der unmittelbaren Nachbarschaft der Kommunikationsmittel aufzuschlagen - Lenin und Trotzki in Eisenbahnwaggons auf freier Strecke, aber unter den Telegraphendrähten. Davon ist er so begeistert, dass er das zwei- oder dreimal erzählt.
Inmitten der blutigen welthistorischen Kulissen leben aber die einzelnen Menschen, die in ihrem unstillbaren Glücksverlangen Wunder an Treue, Ordnungssinn, Zärtlichkeit und Liebe vollbringen, wie die Geliebte eines Strafgefangenen, den sie im Gefängnis besucht, und ihre Hände mit einem Karosserieklebstoff einreibt, sodass sie nicht mehr getrennt werden können, oder das junge Mädchen, vergewaltigt 1945 von einem Sowjetsoldaten - sie forscht nach dem Übeltäter (Vater ihres Sohnes) und findet ihn viele Jahrzehnte später, nach Öffnung der Archive, in Smolensk, wo man späte Hochzeit feiert, "mit Gurke, Kaviar, Kartoffeln, eingelegtem Kraut". Kluges Großvater mütterlicherseits entscheidet sich plötzlich auf dem Eislaufplatz, eine junge Frau zu ehelichen, die eben in der Umkleidekabine verschwunden ist, "alles in einem Moment von vielleicht 16 Sekunden im Abendlicht und zum Geschlurfe der Schlittschuhläufer", eben Großmama, die 101 Jahre alt wird.
Ich kenne in der deutschen Sprache kein anderes Buch, welches das Welthistorische und das Intime (oder: das Allgemeine und das Besondere) so ehrgeizig und kühn verbindet (ähnlich nur in der gegenwärtigen amerikanischen Literatur William T. Vollmanns "Central Europe", auch nicht weniger als 810 Seiten) und mir verdeutlicht, wie die Menschen "Ströme" von Handlungen schaffen, in denen ihnen dann andere folgen. Mit seinen formalen Diskontinuitäten stellt das Buch seine berechtigten Ansprüche, aber es ist seine besondere Tugend, Einsichten des Erzählers nicht als rettende Wahrheiten zu dekretieren. Kluge gibt, im wahrsten Sinne des Wortes, zu bedenken, was der Fall war und wie, in Historie und in den Schicksalen der Menschen, und wir sind frei, unserem Verlangen nach Erkenntnis und unserer Lust an Literatur zugleich zu frönen. Das ist ein seltenes Fest.
- Alexander Kluge: "Tür an Tür mit einem anderen Leben". 350 neue Geschichten.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 646 S., br., 22,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Martin Krumbholz zieht seinen Hut vor der spekulativen Vernunft und unerschöpflichen Produktivität Alexander Kluges, dessen "350 neue Geschichten" er mit großer Begeisterung verschlungen zu haben scheint. Immer auch den "unverwechselbaren Kluge-Sound" beim Lesen im Ohr, findet Krumbholz eine Fülle instruktiver Einsichten, starker Behauptungen und anthropologischer Erkenntnisse. Den größten Eindruck hat dabei offenbar eine ungewöhnlich persönliche Erklärung Kluges hinterlassen, derzufolge der Ursprung all seiner Kreativitätswut und speziell auch seines Erzählprinzips der offenen, variantenreichen Ausgänge in der traumatischen Erfahrung der Trennung seiner Eltern wurzelt, welche der neunjährige Alexander wegen damals noch mangelndem Verhandlungsgeschick nicht zu verhindern wusste - ein privates Bekenntnis, das in seiner Kühnheit den Rezensenten tief berührt hat und damit gleichzeitig paradigmatisch für die vielen detailreichen Episoden stehen könne, die Kluge häufig mit einem ihm eigenen Möglichkeitssinn aufgeladen schildere.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Die Lektüre von Tür an Tür mit einem anderen Leben bereitet ausgesprochen gute Laune, weil die Verschiebung der Blickwinkel, die Befreiung vom disziplinierten Blick auf die Geschichte so viel mögliches neues Wissen eröffnet, dass der Leser dahinsegelt, vom metaphysischen Rausch des Neuen erfasst.« Süddeutsche Zeitung