Die Geschichte der türkischen Literatur neuerer Zeit ist die Geschichte einer unglaublichen Emanzipation. Ausgehend von der "klassischen" osmanischen Literatur stellt Wolfgang Günter Lerch die türkische Dichtkunst des 20. und 21. Jahrhunderts vor: Von der mystischen Volkspoesie bis zur modernen türkischen Lyrik eines Ziya Osman Saba oder Cahit Sitki Taranci, von den Wegbereitern der Prosadichtung, wie Ahmet Hamdi Tanpinar, bis zu den bekannten Romanautoren der Gegenwart, wie Elif Safak und Orhan Pamuk. Mit der Form ändern sich auch die Themen: Urbanisierung und Moderne befördern die Auseinandersetzung mit individualistischen Lebensentwürfen, so zum Beispiel bei Ilhan Berk und Attila Ilhan. Schriftstellerinnen von Halide Edip Adivar bis Asli Erdogan stehen für die intensive Auseinandersetzung mit feministischen Ideen. Im Werk Yüksel Pazarkayas und Senail Özkans kommt wiederum die enge Verbindung der türkischen Kultur zur deutschen zum Ausdruck.Wolfgang Günter Lerch stößt eine Tür auf und eröffnet den Blick in eine faszinierend vielfältige Welt.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Karen Krüger empfiehlt den von Wolfgang Günter Lerch herausgegebenen, übersetzten und mit Anmerkungen versehenen Band mit Arbeiten von bei uns eher unbekannten modernen türkischen Dichtern wie Asik Veysel, Cemal Süreya oder Bedri Rahmi Eyüboglu. Istanbul-Gedichte, die die Melancholie der Stadt abbilden, sind hier laut Krüger ebenso zu entdecken wie Ahmet Hamdi Tanpinar und seine literarische Kritik an Atatürks Reformeifer. Dass Lerch mit Senail Özkan und Yüksel Pazarkaya auch die beiden großen Vermittler zwischen türkischer und deutscher Literatur ehrt, freut Krüger.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.02.2022Der Abschied vom gelebten Augenblick
Ein stilistischer Tornado, der alle Tradition hinwegfegte: Wolfgang Günter Lerch geht auf Entdeckungsreise zum Beginn der modernen türkischen Literatur.
Zu den bekanntesten Istanbul-Huldigungen gehören jene des türkischen Dichters Orhan Veli Kanik (1914 bis 1950). Er beschrieb die Geräusche der Stadt, ihre Gerüche und schuf lyrische Miniaturen ihrer Bewohner. Einigen seiner Protagonisten begegnet man dort noch heute. In "Gedicht mit Glocke" ("Zilli Siir") widmet er sich den Staatsbediensteten und ihrem obrigkeitstreuen Alltag: "Wir Beamte, / Um neun Uhr, um zwölf und um fünf, / haben wir die Straßen ganz für uns. / So hat der Erhabene Gott uns zugeteilt. / Wir warten auf die Feierabendglocke / Oder auf den nächsten Ersten."
Für Velis Zeitgenossen waren die Verse eine Provokation; ein stilistischer Tornado, der alles hinwegfegte, woraus die Lyrik der osmanischen Diwan-Literatur bestand, die über viele Generationen hinweg prägend gewesen war. Die Hofdichter hatten vor allem den Lebensgenuss sowie den Sultan oder andere Größen des Reiches gefeiert; mit magischen Sprachbildern, Pathos, Reimen und ausladenden Metaphern. Mit Velis tagebuchartiger Nüchternheit konnten traditionalistische Poesie-Liebhaber nichts anfangen und erst recht nichts mit den Wasserverkäufern, Müllmännern, Bettlern, Backgammon-Spielern und Dockarbeitern, die seine Verse bevölkerten. Sie empfanden die Dichtung als "garip" - "befremdlich". Für andere traf Veli einen Nerv. Die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse, die Gründung der modernen Türkei durch Mustafa Kemal Atatürk, sein Autoritarismus, der als Erziehungsdiktatur konzipiert war, sowie die Verdrängung des Religiösen ins Private bedeuteten einen Kulturbruch von ungeheurer Größe, der nach einer neuen Sprache und neuen lyrischen Inhalten verlangte.
Wie die Dichter auf die Verunsicherung reagierten, dazu hat nun der Orientalist und Türkei-Kenner Wolfgang Günter Lerch, der viele Jahre lang Politikredakteur dieser Zeitung war, einen schmalen Band vorgelegt. Er ist eine großartige Entdeckungsreise durch die Anfänge der modernen türkischen Literatur und Lyrik, wobei Lerch den Schwerpunkt auf Letztere legt. Velis Dichtung machte Schule. Zusammen mit Nazim Hikmet (1902 bis 1963) öffnete er "gewissermaßen eine Schleuse, durch die jene jungen Dichter, die ihnen folgten, voller Selbstbewusstsein hindurch strömten". Lerch stellt ein gutes Dutzend der Pioniere vor, deren Verse er selbst ins Deutsche übertragen hat: Sprachkünstler wie den Dichter und Maler Bedri Rahmi Eyüboglu (1911 bis 1975), Asik Veysel (1894 bis 1973) oder Cemal Süreya (1931 bis 1990). Eyüboglu schuf mit dem Langgedicht "Istanbul Saga" ("Istanbul destani") das wahrscheinlich schönste Seelenporträt der faszinierenden Stadt, während der Volksdichter Asik Veysel der anatolischen Seele einen Spiegel vorhielt.
Der kurdisch-alevitische Cemal Süreya hingegen verschrieb sich als Mitglied der Dichter-Gruppe "Ikinci Yeni", der "Zweiten Neuen", ganz der Erneuerung der Poesie. Er verstand es meisterhaft, Hüzün, diese den Istanbulern so eigene Melancholie, in Sprachbilder zu gießen. In "Fotografie" ("Fotograf") schreibt er: "Drei Personen an der Haltestelle: / Mann, Frau, Kind. / Der Mann: die Hände in der Tasche, / Die Frau hält an der Hand das Kind. / Der Mann ist so traurig / Wie traurige Lieder sind. / Die Frau ist so schön / Wie schöne Erinnerungen sind. / Das Kind: So traurig wie schöne Erinnerungen, / So schön wie traurige Lieder."
Wie prägend der erzwungene Aufbruch in die Moderne für die Lyriker war, veranschaulicht Lerch ausführlich an Ahmet Hamdi Tanpinar (1901 bis 1962). Der Dichter und Schriftsteller gilt seit einigen Jahren als orientalischer Marcel Proust, und Orhan Pamuk nannte ihn unlängst seinen literarischen Lehrmeister. Tanpinars Themen sind Zeit, Vergänglichkeit und die Aufhebung der Geschichte in Zeitlosigkeit. In seinem Roman "Das Uhrenstellinstitut" ("Saatleri Ayarlama Enstitüsü"), einer hinreißenden Parabel auf die Reformen Atatürks, soll das frisch gegründete Institut dafür sorgen, dass alle Uhren des Landes gleich gehen. Es ist damit genauso überfordert wie Tanpinars Zeitgenossen von der radikalen Hinwendung zum Westen. In ihrem bisherigen orientalischen Leben war vor allem der gelebte Augenblick wichtig gewesen. Nun aber hieß es auch am Bosporus: Time is money.
Tanpinars Roman ist 2008 auf Deutsch erschienen. Die meisten anderen der vorgestellten Lyriker sind im deutschsprachigen Raum bisher kaum bekannt. Poesieliebhabern und Türkei-Interessierten entgeht dadurch viel. Zu Lebzeiten der Autoren war die Sprachbarriere ein Hindernis. Der vorherrschende Eurozentrismus, der außereuropäisches literarisches Leben allenfalls als exotische Kuriosität wahrnahm, habe ein Übriges getan, meint Lerch. Sein Unmut über die kulturelle Borniertheit ist zu spüren. Und so ist es nur folgerichtig, dass er die beiden letzten Kapitel zwei Menschen widmet, die solche Scheuklappen beseitigen: Der Dichter und Essayist Yüksel Pazarkaya und der Philosoph und Übersetzer Senail Özkan sind in der türkischen und in der deutschen Literatur zu Hause und leisten mit ihren Übersetzungen und Publikationen seit vielen Jahren Großes, um die beiden Welten einander näher zu bringen. Lerch nennt sie "Vermittler zwischen Orient und Okzident". Als ein solcher ist Wolfgang Günter Lerch auch selbst zu sehen. KAREN KRÜGER
Wolfgang Günter Lerch: "Türkische Dichter". Eine Literatur im Aufwind.
Verlag Frank & Timme, Berlin 2021. 175 S., geb., 24,80 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein stilistischer Tornado, der alle Tradition hinwegfegte: Wolfgang Günter Lerch geht auf Entdeckungsreise zum Beginn der modernen türkischen Literatur.
Zu den bekanntesten Istanbul-Huldigungen gehören jene des türkischen Dichters Orhan Veli Kanik (1914 bis 1950). Er beschrieb die Geräusche der Stadt, ihre Gerüche und schuf lyrische Miniaturen ihrer Bewohner. Einigen seiner Protagonisten begegnet man dort noch heute. In "Gedicht mit Glocke" ("Zilli Siir") widmet er sich den Staatsbediensteten und ihrem obrigkeitstreuen Alltag: "Wir Beamte, / Um neun Uhr, um zwölf und um fünf, / haben wir die Straßen ganz für uns. / So hat der Erhabene Gott uns zugeteilt. / Wir warten auf die Feierabendglocke / Oder auf den nächsten Ersten."
Für Velis Zeitgenossen waren die Verse eine Provokation; ein stilistischer Tornado, der alles hinwegfegte, woraus die Lyrik der osmanischen Diwan-Literatur bestand, die über viele Generationen hinweg prägend gewesen war. Die Hofdichter hatten vor allem den Lebensgenuss sowie den Sultan oder andere Größen des Reiches gefeiert; mit magischen Sprachbildern, Pathos, Reimen und ausladenden Metaphern. Mit Velis tagebuchartiger Nüchternheit konnten traditionalistische Poesie-Liebhaber nichts anfangen und erst recht nichts mit den Wasserverkäufern, Müllmännern, Bettlern, Backgammon-Spielern und Dockarbeitern, die seine Verse bevölkerten. Sie empfanden die Dichtung als "garip" - "befremdlich". Für andere traf Veli einen Nerv. Die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse, die Gründung der modernen Türkei durch Mustafa Kemal Atatürk, sein Autoritarismus, der als Erziehungsdiktatur konzipiert war, sowie die Verdrängung des Religiösen ins Private bedeuteten einen Kulturbruch von ungeheurer Größe, der nach einer neuen Sprache und neuen lyrischen Inhalten verlangte.
Wie die Dichter auf die Verunsicherung reagierten, dazu hat nun der Orientalist und Türkei-Kenner Wolfgang Günter Lerch, der viele Jahre lang Politikredakteur dieser Zeitung war, einen schmalen Band vorgelegt. Er ist eine großartige Entdeckungsreise durch die Anfänge der modernen türkischen Literatur und Lyrik, wobei Lerch den Schwerpunkt auf Letztere legt. Velis Dichtung machte Schule. Zusammen mit Nazim Hikmet (1902 bis 1963) öffnete er "gewissermaßen eine Schleuse, durch die jene jungen Dichter, die ihnen folgten, voller Selbstbewusstsein hindurch strömten". Lerch stellt ein gutes Dutzend der Pioniere vor, deren Verse er selbst ins Deutsche übertragen hat: Sprachkünstler wie den Dichter und Maler Bedri Rahmi Eyüboglu (1911 bis 1975), Asik Veysel (1894 bis 1973) oder Cemal Süreya (1931 bis 1990). Eyüboglu schuf mit dem Langgedicht "Istanbul Saga" ("Istanbul destani") das wahrscheinlich schönste Seelenporträt der faszinierenden Stadt, während der Volksdichter Asik Veysel der anatolischen Seele einen Spiegel vorhielt.
Der kurdisch-alevitische Cemal Süreya hingegen verschrieb sich als Mitglied der Dichter-Gruppe "Ikinci Yeni", der "Zweiten Neuen", ganz der Erneuerung der Poesie. Er verstand es meisterhaft, Hüzün, diese den Istanbulern so eigene Melancholie, in Sprachbilder zu gießen. In "Fotografie" ("Fotograf") schreibt er: "Drei Personen an der Haltestelle: / Mann, Frau, Kind. / Der Mann: die Hände in der Tasche, / Die Frau hält an der Hand das Kind. / Der Mann ist so traurig / Wie traurige Lieder sind. / Die Frau ist so schön / Wie schöne Erinnerungen sind. / Das Kind: So traurig wie schöne Erinnerungen, / So schön wie traurige Lieder."
Wie prägend der erzwungene Aufbruch in die Moderne für die Lyriker war, veranschaulicht Lerch ausführlich an Ahmet Hamdi Tanpinar (1901 bis 1962). Der Dichter und Schriftsteller gilt seit einigen Jahren als orientalischer Marcel Proust, und Orhan Pamuk nannte ihn unlängst seinen literarischen Lehrmeister. Tanpinars Themen sind Zeit, Vergänglichkeit und die Aufhebung der Geschichte in Zeitlosigkeit. In seinem Roman "Das Uhrenstellinstitut" ("Saatleri Ayarlama Enstitüsü"), einer hinreißenden Parabel auf die Reformen Atatürks, soll das frisch gegründete Institut dafür sorgen, dass alle Uhren des Landes gleich gehen. Es ist damit genauso überfordert wie Tanpinars Zeitgenossen von der radikalen Hinwendung zum Westen. In ihrem bisherigen orientalischen Leben war vor allem der gelebte Augenblick wichtig gewesen. Nun aber hieß es auch am Bosporus: Time is money.
Tanpinars Roman ist 2008 auf Deutsch erschienen. Die meisten anderen der vorgestellten Lyriker sind im deutschsprachigen Raum bisher kaum bekannt. Poesieliebhabern und Türkei-Interessierten entgeht dadurch viel. Zu Lebzeiten der Autoren war die Sprachbarriere ein Hindernis. Der vorherrschende Eurozentrismus, der außereuropäisches literarisches Leben allenfalls als exotische Kuriosität wahrnahm, habe ein Übriges getan, meint Lerch. Sein Unmut über die kulturelle Borniertheit ist zu spüren. Und so ist es nur folgerichtig, dass er die beiden letzten Kapitel zwei Menschen widmet, die solche Scheuklappen beseitigen: Der Dichter und Essayist Yüksel Pazarkaya und der Philosoph und Übersetzer Senail Özkan sind in der türkischen und in der deutschen Literatur zu Hause und leisten mit ihren Übersetzungen und Publikationen seit vielen Jahren Großes, um die beiden Welten einander näher zu bringen. Lerch nennt sie "Vermittler zwischen Orient und Okzident". Als ein solcher ist Wolfgang Günter Lerch auch selbst zu sehen. KAREN KRÜGER
Wolfgang Günter Lerch: "Türkische Dichter". Eine Literatur im Aufwind.
Verlag Frank & Timme, Berlin 2021. 175 S., geb., 24,80 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main