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Die Welt war schon immer vernetzt, sagt der renommierte Historiker Niall Ferguson. In seiner brillanten Analyse der sozialen Netzwerke seit der frühen Neuzeit zeigt er, welche politische und wirtschaftliche Rolle sie in der Weltgeschichte seit jeher spielen.
Wir haben uns längst daran gewöhnt, in einer vernetzten Welt zu leben. Was wir oft übersehen: Soziale Netzwerke sind kein Phänomen der Gegenwart. Vielmehr haben Netzwerke aller Arten - die Aktivitäten auf den "Plätzen" - schon über Jahrhunderte hinweg die "Türme" der Herrschaftssysteme und Machtapparate beeinflusst oder gar zum Einsturz…mehr

Produktbeschreibung
Die Welt war schon immer vernetzt, sagt der renommierte Historiker Niall Ferguson. In seiner brillanten Analyse der sozialen Netzwerke seit der frühen Neuzeit zeigt er, welche politische und wirtschaftliche Rolle sie in der Weltgeschichte seit jeher spielen.

Wir haben uns längst daran gewöhnt, in einer vernetzten Welt zu leben. Was wir oft übersehen: Soziale Netzwerke sind kein Phänomen der Gegenwart. Vielmehr haben Netzwerke aller Arten - die Aktivitäten auf den "Plätzen" - schon über Jahrhunderte hinweg die "Türme" der Herrschaftssysteme und Machtapparate beeinflusst oder gar zum Einsturz gebracht. Spanische Forscher und Eroberer stießen ganze Imperien in den Abgrund. Deutsche Buchdrucker untergruben das päpstliche Religionsmonopol. Spione, Banker, Wissenschaftler oder gar Freimaurer forderten die politischen Machthaber heraus. Niall Ferguson zeigt, dass solche Vernetzungen unterhalb der Machtebene der lang übersehene Schlüssel zum Verständnis der Geschichte sind, analysiert aber auch moderne Netzwerke wie Facebook, Google oder den "IS". Sein Fazit: Hierarchisch organisierte Staaten und Institutionen können sich nur dann dauerhaft halten, wenn sie es schaffen, sich mit den modernen Netzwerken zu arrangieren.
Autorenporträt
Ferguson, NiallNiall Ferguson, geboren 1964 in Glasgow, ist Senior Fellow der Hoover Institution in Stanford sowie Senior Fellow des Center of European Studies der Harvard University. Er gilt als einer der profiliertesten Historiker der angelsächsischen Welt. Zu seinen zahlreichen Veröffentlichungen zählen Der Aufstieg des Geldes (2009), Der Westen und der Rest der Welt (2011) und der erste Band seiner Kissinger-Biographie Der Idealist (2016).

Reuter, HelmutHelmut Reuter, geboren 1946 in Pappenheim, studierte Lebensmittelchemie, Politologie und Soziologie. Er übersetzte viele Sachbücher aus verschiedenen Wissensgebieten, darunter Bücher von Michael J. Sandel, David F. Wallace, Richard Feynman, Lawrence Krauss und Michel Onfray.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.07.2018

Ein Weltdenker lässt keine Rätsel übrig

Im Sog von Bildern und Metaphern: Niall Ferguson bringt Geschichte auf die Formel des Kampfs zwischen Netzwerken und Hierarchien.

Es dauert gut hundert Seiten, bis dieses Buch zu seiner Schlüsselfrage findet. Dann aber knallt es sie wie ein Pik-Ass auf den Tisch: "War die Reformation ein Desaster?" Nun, war sie es? Gut, der durch Luther ausgelöste Umbruch hatte "eine schockierende Zahl gewaltsamer und oft erschreckend grausamer Todesfälle" zur Folge. Aber er brachte auch Segen. Beispielsweise gab er dem gerade erfundenen Buchdruck einen Inhalt und einen Zweck. Die Bibel kam unters Volk, die Schrift wurde Allgemeingut, das Wissen verließ die Klöster. Es bildeten sich Netzwerke der Gelehrsamkeit und Freidenkerei, die später den Zündfunken für die Revolutionen gaben, erst die amerikanische, dann die französische, zuletzt die russische; und ganz am Ende der Entwicklung, kurz nach dem Anbruch der Ära Trump, steht die Netzwerktheorie des Niall Ferguson.

Mit Niall Ferguson reist man sicher durch die Geschichte. Nicht, weil er so viel weiß - das auch -, sondern weil er immer ganz genau weiß, was etwas bedeutet. Das zwanzigste Jahrhundert etwa war "eine Zeit der Seuchen und der Rattenfänger". Es kann nämlich kein Zufall sein, dass die Pandemie der Spanischen Grippe genau mit dem Sieg der Bolschewiki zusammenfiel, die "einen mutierten Stamm des Marxismus" von Russland aus über die Welt verbreiteten. Dann gab es auch noch "eine wirtschaftliche Seuche", die Hyperinflation. Man muss gegen Metaphern geimpft sein, um sich von dieser Logik nicht mitreißen zu lassen.

In seinen bisherigen Büchern hat der britische Historiker seine Geschichtspanoramen meist von einem einzigen Perspektivpunkt aus gemalt: die finanzielle Entwicklung ("Der Aufstieg des Geldes"), die Fehleinschätzung des Deutschen Kaiserreichs durch die englische Politik ("Der falsche Krieg"), die Macht der Rothschilds, das Genie des Henry Kissinger. In "Türme und Plätze" verfährt er nun doppelperspektivisch: Es gibt Türme, also Hierarchien, und Plätze, also Netzwerke, und aus dem Wettstreit der beiden Prinzipien entsteht historisches Geschehen. Netzwerke existierten schon im Altertum (obwohl Ferguson kein richtiges Beispiel dafür einfällt) und auch im Spätmittelalter (auch wenn er mit dem Ragusaner Wollhändler Benedetto Cotrugli einen eher ungewöhnlichen Gewährsmann benennt), aber erst die Aufklärung und die Expansion Europas nach Übersee schufen das Spielfeld, auf dem die großen Netzwerker ihre Fäden ziehen konnten, im Guten (Voltaire und seine Briefpartner) wie im Durchtriebenen (Illuminaten und Freimaurer).

Dann aber kam der Rollback der Hierarchien: Die politische Revolution wurde durch Imperien und Bündnisse eingehegt, die industrielle mit Börsen, Banken und Trusts. Bis mit dem Ende des Ersten Weltkriegs wieder die vernetzten (und verhetzten) Proletarier die Oberhand gewannen. Und so weiter, bis hin zu Twitter und Facebook, Clinton und Trump.

Die Leitmetapher für dieses Welterklärungsmodell ist die Piazza del Campo in Siena, die vom Turm des Rathauspalastes überragt wird, der Torre del Mangia. Der weite Platz steht bei Ferguson für das freie Spiel der Individuen, der Turm für die Macht, die es kontrollieren will. Ein schönes Bild. Aber es ist schief. Der Torre del Mangia und die Piazza stehen in keiner symbolischen Konkurrenz, sie gehören zusammen. Ihr wirklicher Rivale ist die Kirche, die mit ihren Netzwerken und ihren Türmen das Mittelalter überwölbt. Netzwerk und Hierarchie bilden keinen Gegensatz, sie ergänzen einander. Das Schwarzweißmuster, mit dem Ferguson die Geschichte der Neuzeit seit Luther und Gutenberg entschlüsseln will, löst sich bei näherer Betrachtung in Graustufen auf. Die Imperialmächte des neunzehnten Jahrhunderts stützten sich auf Netzwerke politischer und wirtschaftlicher Eliten, die in sich hierarchisch strukturiert waren. Auch Stalin, bei Ferguson der Antinetzwerker schlechthin, umging den Apparat, den er beherrschte, durch persönliche Kontakte. Die bürokratischen Apparate des Nationalsozialismus waren alles andere als turmförmig aufgebaut. Um zu erklären, warum die totalitäre Herrschaft dennoch so effizient funktionierte, müsste Ferguson auch andere als nur funktionale Realitäten in Betracht ziehen: Gewohnheiten, Vorurteile, Ideologien, Opportunitäten. Die amerikanische Mafia etwa wurde auch deshalb zerschlagen, wie man in den "Pate"-Filmen sieht, weil sie ihren Mitgliedern keine angemessenen Aufstiegschancen mehr bot. Der Nachteil von Weltformeln liegt darin, dass sie die Welt, die sie erklären, im Zweifelsfall wegerklären müssen.

Das Bild vom Turm über der Stadt wird unvermutet scharf gestellt, wenn Ferguson auf die Anschläge auf das World Trade Center zu sprechen kommt. Ein "antisoziales Netzwerk" habe am 11. September 2001 die freiheitliche Hierarchie attackiert. Diese aber reagierte so, "wie es ihr natürlicherweise geziemt". Die gezierte Ausdrucksweise ist kein reines Übersetzungsproblem ("in the ways that come naturally to it"). Tatsächlich hat sich Ferguson so sehr in sein Denkschema verrannt, dass er die Kriege in Afghanistan und im Irak, welche die Bush-Regierung vom Zaun brach, zum naturnotwendigen Geschehen überhöhen muss. Ebenso natürlich waren dann der Brexit und der Wahlsieg Trumps - bloß dass der Weltdenker hier vor der theorieresistenten Tatsache steht, dass gerade die weniger gut Vernetzten, die Abgehängten und Minderverdiener in beiden Fällen den Ausschlag gegeben haben. Also verlegt er den Brennpunkt des Geschehens flugs aus den digitalen Netzwerken in die Vorortgastronomie: "Das Internet machte Vorschläge; die Kneipen entschieden." Oder hatten die Kneipen eigene Vorschläge gemacht?

Man kann dieses Buch als Wundertüte lesen; dann hat es einige Vorzüge. Es enthält schöne Schaubilder von Netzwerken und Hierarchien, es erzählt Geschichten von Spionen und Konquistadoren, und es schlägt einen großen Bogen, der in allen Spektralfarben glitzert. Nur als Erkenntnishilfe taugt es nicht viel. Es gibt Türme, es gibt Plätze, und wir müssen weiter darüber reden, wie sich verhindern lässt, dass das Internet dem Terror oder der Tyrannei zum Opfer fällt. Aber dazu brauchen wir kein Ticket nach Siena. Eher eins nach China.

ANDREAS KILB

Niall Ferguson: "Türme und Plätze". Netzwerke, Hierarchien und der Kampf um globale Gleichheit.

Aus dem Englischen von Helmut Reuter. Propyläen Verlag, Berlin 2018.

640 S., Abb., geb., 32,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Andreas Kilb hält Niall Fergusons Buch für eine Wundertüte. Die schönen Schaubilder von Netzwerken und Hierarchien, das ist Fergusons Thema, die Geschichten und der große glitzernde Bogen schlagen Kilb allerdings nur zeitweise in ihren Bann. Als Erkenntnishilfe taugt der Band laut Kilb wenig. Zu genau weiß der Autor, was etwas bedeutet und prunkt mit Metaphern, findet der Rezensent, die zudem nicht immer stimmig sind. Dass Netzwerk und Hierarchie nicht das Gegensatzpaar sind, für das sie der britische Historiker ausgeben möchte, erkennt Kilb recht bald. Sie gehören zusammen und ergänzen einander, meint er, und das Schwarzweißmuster, das Ferguson über die Geschichte der Neuzeit breitet, es besteht aus lauter Graustufen.

© Perlentaucher Medien GmbH