Zum 60. Geburtstag des Autors erschien ein Gedichtband, in dem Volker Braun mit großer poetischer Kraft dem Zustand unserer Welt nachfragt, an dessen Unabänderlichkeit er sich keineswegs gewöhnen mag. Den Glauben an solchen Stillstand hält Braun nämlich ebenso für eine trügerische Illusion wie die Hoffnung auf einfache Lösungen. Der poetische Versuch, Irrtümer und Versteinerungen abzutragen, schreibt den Texten eine ungeheure Spannung ein.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.06.1999Die wahre Natur der Erhebung
Geklagtes Leid: Volker Brauns Gedichtband "Tumulus"
Hat Volker Brauns Nachleben schon begonnen? Seinen neuen Gedichtband "Tumulus" kündigte der Suhrkamp Verlag wie eine Festschrift zum sechzigsten Geburtstag des Dichters an. Oder begann es nicht schon, als er, gerade fünfzig, mit der DDR auch seinen einzigen poetischen Gegenstand verlor? Wie kaum einem Schriftsteller hatte ein doppeltes Publikum ihm seine Rollen zugewiesen: widerwillig geehrter Nationalpreisträger auf der einen, der östlichen Seite, gern vereinnahmter, aber sich mit Händen und Füßen dagegen sträubender Systemkritiker auf der anderen, der westlichen Seite. Daß er weder in der einen noch in der anderen Rolle ganz er selber war, ließ sich schon damals erkennen.
Das konnte auch er selbst sich nicht vorstellen, noch weniger aber, daß sich dieses Land samt seinen Grenzen aus dem Staube machen und ihn stehenlassen würde. Als es dann geschehen war, gelangen ihm sogleich (1990, im Gedicht "Das Eigentum") griffigste Formulierungen, sowohl über sich selbst: "Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen" - als auch über sein Werk: "Und unverständlich wird mein ganzer Text." Vor dem Scherbenhaufen ist der Dichter perplex. Die fundamentale Richtigkeit des sozialistischen Weges will er nicht in Frage stellen, den Schiffbruch lastet er mit knirschendem Sarkasmus zwar auch dem real existiert habenden Sozialismus an ("Ich selber habe ihm den Tritt versetzt"), aber wütender doch den alten Feinden ("Mein Eigentum, jetzt habt ihrs auf der Kralle") und nur mit einer Prise Selbstgerechtigkeit auch der eigenen Verblendung ("ein treuer Verräter"). Das neue Bändchen will partout die Kontinuität aufrechterhalten und bietet weiterhin beides, Klage und Ressentiment - und beides wird schal. Aber es bietet auch Neues, ja vielleicht sogar einen neuen Dichter. Drei Teile hat "Tumulus": Ein Mittelteil mit zehn Gedichten wird umrahmt von zwei Einzeltexten, dem "Traumtext" in poetischer Prosa am Anfang und einem längeren Gedicht mit dem Titel "Lagerfeld" am Schluß. Obwohl der Dichter die Wende als Katastrophe seines Jahrhunderts versteht, scheint er sie bei der Datierung seiner Texte wie etwas Nebensächliches zu übergehen: "Entstanden 1988 bis 1997" heißt es in der Anmerkung - eigensinniges Pochen auf die Kontinuität seines Dichtens, während ringsherum die ideologische Welt zu Bruch ging. Der Hauptteil mit den zehn Gedichten steht unter der Überschrift "Der Stoff zum Leben 4". Als Hans Mayer 1990 das Suhrkamp-Bändchen "Der Stoff zum Leben 1 bis 3" herausgab, unterstrich auch er die damit behauptete Kontinuität und fand sie in jeder einzelnen Etappe verwirklicht als "Training des aufrechten Gangs": "Es war eine Idee, welche die Massen ergreifen sollte" - bis sie riefen: "Wir sind das Volk."
Der Stoff zum Leben enthielt auch einen offenen Zyklus "Material", numeriert von I bis XIV; nun wird kontinuierlich weitergezählt mit "Material XV". Es ist das bereits in "Lustgarten. Preußen" veröffentlichte Gedicht "Schreiben im Schredder" mit dem fruchtbaren Motiv der in Ställen geborgenen Büchermassen aus der Deponie der Leipziger Kommanditgesellschaft. Es klagt noch ein wenig, kämpft dann aber mit seiner wütend ausgeschlachteten Stallmetaphorik ganz gegen die eigenen Reihen ("Ich schäme mich / Mit Schweinen gekämpft zu haben / Die ich für meine Gegner hielt, meine Genossen"). Einstmals explosive Namen wie Gauck, Schorlemmer, Biermann sollen noch einmal die Wirklichkeit beschwören, aber - wie kommt es nur, sie zünden nicht mehr so recht. Die Wirklichkeit hat sich zurückgezogen, sie feiert zehnjähriges Jubiläum, sie wird Erinnerung, sie wirkt abstrakt.
Auch ein weiteres schon veröffentlichtes Gedicht hat nun Eingang in den Stoff des Lebens gefunden: "Plinius grüßt Tacitus". Mit entwaffnender allegorischer Transparenz setzt der Dichter sich mit dem im Vesuv umgekommenen Plinius d. Ä. parallel und stilisiert "die verratene Revolution" als ein Naturereignis, sich selbst als den sich opfernden Berichterstatter. Über Plinius heißt es: "Er kannte die wahre Natur der Erhebung / Harmlos begrünt bis hinauf zum Gipfel, die Bauern / Siedeln in der Asche ihre Hoffnung", und dann ein paar Verse weiter, allegorice: "Ich kannte die wahre Natur der Erhebung, bepflanzt mit roten Fahnen bis zum Gipfel, die Arbeiter / Und Bauern schrappen im Schlamm der Verheißungen / Ich habe den Untergang (bändeweise) beschrieben . . ." Bei der Transformation des ausbrechenden Vesuvs in die "Dampfwalzen der Entwicklung" und in "Die dunkle Wolke in der Gestalt eines Pilzes" (doch wohl von Hiroshima) verläßt den Dichter nicht nur der Sinn für die Angemessenheit der Bilder, sondern auch der Sinn für die eigene Kraft: Will er nicht mit einem Knüppel schlagen, der so schwer ist, daß er ihn gar nicht halten kann? Das sind Versuche, die alte Rolle des Dichters zu spielen, der weiß, wo's langgeht - aber wer nimmt ihm die Gültigkeit der Modelle noch ab, die er aufruft? Cäsar sieht vom Tumulus aus die Seeschlacht "BELLUM GALLICIUM der gewohnte Golfkrieg", und dann kommt das lyrische Ich und hat die endgültige Übersicht: "So entstehen Weltreiche / Ich sah sie fallen / Auf seinen Knochen stehndem Führerbunker / Grotewohlstraße . . ." Sagt hier wirklich jemand ich? "ICH ODER ICH" schließt der kalauernde Schlußtext "Lagerfeld": "Rom: offene Stadt ein Feldlager / Auf dem Laufsteg defiliert die Mode . . ." Bei jedem Kurzschluß gibt es freilich einen Blitz, aber was wird dabei erhellt? Klage erhebt der neue "Nomade", der "Wegwerfmensch" in "Das Magma in der Brust des Tuareg"; das berührt - als erlebte Nachhilfestunde in der Tradition westlicher Kulturkritik ("Nur COCA COLA braucht mich").
"Wann wird der Dichter / geboren" heißt es gegen Schluß des Gedichts, welches mit dem Datum "6. 5. 1996" überschrieben ist und das eigene Leben mit dem Tod der Mutter verbindet. Die Antwort klingt sonderbar fromm: "NACH JAHREN DER NIEDERLAGE / UND GROSSEM UNGLÜCK WENN DIE KNECHTE AUFATMEN / UND DIE BILDER ERWACHEN VOR DEM UNGEHEUREN ANBLICK." Ob man es wagen darf, eine prosaische Antwort zu geben? Geboren wird der Dichter jedesmal aufs neue, wenn er "ich" sagt und keinen anderen meint. Am 6. Mai 1996, einen Tag vor seinem 57. Geburtstag, wurde, so scheint mir, ein Dichter geboren. Der Blick auf sich selbst gelingt ihm über das Porträt der sterbenden, gestorbenen Mutter und zunächst nur im Ton des Sarkasmus, als Gleichsetzung seines Lebens mit seinem Nachleben, "künstlich ernährt / von meinem Zeitalter".
"Das Nachleben", erstes Gedicht der Reihe, berichtet protokollarisch von einem bedeutungsvollen Experiment. Der Dichter läßt sich eine Maske abnehmen: "Ich kam abhanden. Siedendheiß / Trocknete meine Totenmaske." Die Imagination des Totseins erlaubt ihm eine weise Erkenntnis: "DIE KATASTROPHE WAR VORHER, im Leben." Die Maske, die er dann in der Hand hält, ist zwar starr, aber doch eine Lebendmaske, das abgenommene Gesicht darf weiter altern - und reifen! Der Vorgang fand, wie uns eine Anmerkung belehrt, zwar schon Ostern 1988 statt, und das vorliegende Gedicht von 1996 ist eine zweite Fassung. Vielleicht enthielt aber schon das Ereignis selber oder die unbekannte erste Fassung auf prophetische Art das, was wir nun deutend hineinlesen? Die Maske fiel dem Dichter 1989 vom Gesicht: sein Werk, erstarrt, aber lebendig gewesen, eine Lebendmaske.
Der erste Prosatext des Bändchens phantasiert dieselbe Grundkonstellation: Der "Traumtext" erzählt, daß der Dichter träumt, im Kino zu sitzen. Der Film reißt, "ANGEHALTEN VON EINER KATASTROPHE / EINER EINSICHT". Was für eine Geschichte sollte gespielt werden? Eine Todesphantasie läßt ihn erwachen "in der ungewohnten fantastischen Gewißheit eines neuen Tags". Was diese Texte skizzieren, ist die Rückwendung des Autors auf sich selbst, sozusagen seine Entbindung, der erste Schritt zur Autonomie. Vielleicht darf man auch den Prosatext "Die Bucht der Hingeschiedenen" in diesem Zusammenhang nennen. Dort begibt sich das "Ich" legendenhaft in eine Gemeinschaft weiterlebender Toter, die am Strand wartet, auf die Inseln der Glücklichen übergesetzt zu werden, wo nur die landen, die "Recht behalten im Leben bzw. im Tod": "Ja, sagten wir, es war falsch . . . Aber es war es nicht von Anfang an und nicht für immer."
Das Vorleben muß wohl zuerst von Wirklichkeit zu Erinnerung, von Erinnerung zu Geschichte werden, wenn sein "ganzer Text" wieder verständlich werden soll. An der Geschichte darf der Dichter mitmeißeln, und es gelingen ihm eindrucksvolle Entwürfe mit "Nach dem Massaker der Illusionen" (zur Auffindung der Leiche von Che Guevara am 1. Juli 1997) und "Abschied von Kochberg" (über ein anekdotisches Ereignis: "Die Bauern tanzen / Um den Galgen / An dem die Partei hing"). Die poetische Bestimmung des biographisch-lyrischen Ichs ist ein Stoff fürs Nachleben, das sich nicht mit Klage und Ressentiment begnügt. Vielleicht werden viele Texte dann auch neu verstehbar, zum Beispiel das unter der Feder Volker Brauns so resigniert klingende Motto von Brecht: "Vergiß nicht, dies sind die Jahre / Wo es nicht gilt zu siegen, sondern / Die Niederlagen zu erfechten."
Wo der Ideologe scheiterte, wird der Dichter geboren, "ein Verrückter / Aus der Vorzeit, die die Hoffnung kannte". Da ihr Gegenstand sich als Schimäre erwiesen hat, steckte die begründetere Hoffnung allerdings im Zweifel, und war der Zweifel nicht immer Volker Brauns besondere Stärke? Wie wunderbar, daß prophetische Worte trotz aller Wenden wahr bleiben: "Der Zweyfel ist das Wasser, die Bewegung zum Guten und Bösen", schrieb Thomas Müntzer, unfreiwilliger Helfer beim Aufbau der DDR, "ich sage euch, man muß gar mechtig Achtung haben auf die neue Bewegung der itzigen Welt. Die alten Anschläge werden es ganz und gar nicht mehr tun" - auch nicht in der Poesie!
HANS-HERBERT RÄKEL
Volker Braun: "Tumulus". Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999. 41 S., br., 24,- DM.
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Geklagtes Leid: Volker Brauns Gedichtband "Tumulus"
Hat Volker Brauns Nachleben schon begonnen? Seinen neuen Gedichtband "Tumulus" kündigte der Suhrkamp Verlag wie eine Festschrift zum sechzigsten Geburtstag des Dichters an. Oder begann es nicht schon, als er, gerade fünfzig, mit der DDR auch seinen einzigen poetischen Gegenstand verlor? Wie kaum einem Schriftsteller hatte ein doppeltes Publikum ihm seine Rollen zugewiesen: widerwillig geehrter Nationalpreisträger auf der einen, der östlichen Seite, gern vereinnahmter, aber sich mit Händen und Füßen dagegen sträubender Systemkritiker auf der anderen, der westlichen Seite. Daß er weder in der einen noch in der anderen Rolle ganz er selber war, ließ sich schon damals erkennen.
Das konnte auch er selbst sich nicht vorstellen, noch weniger aber, daß sich dieses Land samt seinen Grenzen aus dem Staube machen und ihn stehenlassen würde. Als es dann geschehen war, gelangen ihm sogleich (1990, im Gedicht "Das Eigentum") griffigste Formulierungen, sowohl über sich selbst: "Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen" - als auch über sein Werk: "Und unverständlich wird mein ganzer Text." Vor dem Scherbenhaufen ist der Dichter perplex. Die fundamentale Richtigkeit des sozialistischen Weges will er nicht in Frage stellen, den Schiffbruch lastet er mit knirschendem Sarkasmus zwar auch dem real existiert habenden Sozialismus an ("Ich selber habe ihm den Tritt versetzt"), aber wütender doch den alten Feinden ("Mein Eigentum, jetzt habt ihrs auf der Kralle") und nur mit einer Prise Selbstgerechtigkeit auch der eigenen Verblendung ("ein treuer Verräter"). Das neue Bändchen will partout die Kontinuität aufrechterhalten und bietet weiterhin beides, Klage und Ressentiment - und beides wird schal. Aber es bietet auch Neues, ja vielleicht sogar einen neuen Dichter. Drei Teile hat "Tumulus": Ein Mittelteil mit zehn Gedichten wird umrahmt von zwei Einzeltexten, dem "Traumtext" in poetischer Prosa am Anfang und einem längeren Gedicht mit dem Titel "Lagerfeld" am Schluß. Obwohl der Dichter die Wende als Katastrophe seines Jahrhunderts versteht, scheint er sie bei der Datierung seiner Texte wie etwas Nebensächliches zu übergehen: "Entstanden 1988 bis 1997" heißt es in der Anmerkung - eigensinniges Pochen auf die Kontinuität seines Dichtens, während ringsherum die ideologische Welt zu Bruch ging. Der Hauptteil mit den zehn Gedichten steht unter der Überschrift "Der Stoff zum Leben 4". Als Hans Mayer 1990 das Suhrkamp-Bändchen "Der Stoff zum Leben 1 bis 3" herausgab, unterstrich auch er die damit behauptete Kontinuität und fand sie in jeder einzelnen Etappe verwirklicht als "Training des aufrechten Gangs": "Es war eine Idee, welche die Massen ergreifen sollte" - bis sie riefen: "Wir sind das Volk."
Der Stoff zum Leben enthielt auch einen offenen Zyklus "Material", numeriert von I bis XIV; nun wird kontinuierlich weitergezählt mit "Material XV". Es ist das bereits in "Lustgarten. Preußen" veröffentlichte Gedicht "Schreiben im Schredder" mit dem fruchtbaren Motiv der in Ställen geborgenen Büchermassen aus der Deponie der Leipziger Kommanditgesellschaft. Es klagt noch ein wenig, kämpft dann aber mit seiner wütend ausgeschlachteten Stallmetaphorik ganz gegen die eigenen Reihen ("Ich schäme mich / Mit Schweinen gekämpft zu haben / Die ich für meine Gegner hielt, meine Genossen"). Einstmals explosive Namen wie Gauck, Schorlemmer, Biermann sollen noch einmal die Wirklichkeit beschwören, aber - wie kommt es nur, sie zünden nicht mehr so recht. Die Wirklichkeit hat sich zurückgezogen, sie feiert zehnjähriges Jubiläum, sie wird Erinnerung, sie wirkt abstrakt.
Auch ein weiteres schon veröffentlichtes Gedicht hat nun Eingang in den Stoff des Lebens gefunden: "Plinius grüßt Tacitus". Mit entwaffnender allegorischer Transparenz setzt der Dichter sich mit dem im Vesuv umgekommenen Plinius d. Ä. parallel und stilisiert "die verratene Revolution" als ein Naturereignis, sich selbst als den sich opfernden Berichterstatter. Über Plinius heißt es: "Er kannte die wahre Natur der Erhebung / Harmlos begrünt bis hinauf zum Gipfel, die Bauern / Siedeln in der Asche ihre Hoffnung", und dann ein paar Verse weiter, allegorice: "Ich kannte die wahre Natur der Erhebung, bepflanzt mit roten Fahnen bis zum Gipfel, die Arbeiter / Und Bauern schrappen im Schlamm der Verheißungen / Ich habe den Untergang (bändeweise) beschrieben . . ." Bei der Transformation des ausbrechenden Vesuvs in die "Dampfwalzen der Entwicklung" und in "Die dunkle Wolke in der Gestalt eines Pilzes" (doch wohl von Hiroshima) verläßt den Dichter nicht nur der Sinn für die Angemessenheit der Bilder, sondern auch der Sinn für die eigene Kraft: Will er nicht mit einem Knüppel schlagen, der so schwer ist, daß er ihn gar nicht halten kann? Das sind Versuche, die alte Rolle des Dichters zu spielen, der weiß, wo's langgeht - aber wer nimmt ihm die Gültigkeit der Modelle noch ab, die er aufruft? Cäsar sieht vom Tumulus aus die Seeschlacht "BELLUM GALLICIUM der gewohnte Golfkrieg", und dann kommt das lyrische Ich und hat die endgültige Übersicht: "So entstehen Weltreiche / Ich sah sie fallen / Auf seinen Knochen stehndem Führerbunker / Grotewohlstraße . . ." Sagt hier wirklich jemand ich? "ICH ODER ICH" schließt der kalauernde Schlußtext "Lagerfeld": "Rom: offene Stadt ein Feldlager / Auf dem Laufsteg defiliert die Mode . . ." Bei jedem Kurzschluß gibt es freilich einen Blitz, aber was wird dabei erhellt? Klage erhebt der neue "Nomade", der "Wegwerfmensch" in "Das Magma in der Brust des Tuareg"; das berührt - als erlebte Nachhilfestunde in der Tradition westlicher Kulturkritik ("Nur COCA COLA braucht mich").
"Wann wird der Dichter / geboren" heißt es gegen Schluß des Gedichts, welches mit dem Datum "6. 5. 1996" überschrieben ist und das eigene Leben mit dem Tod der Mutter verbindet. Die Antwort klingt sonderbar fromm: "NACH JAHREN DER NIEDERLAGE / UND GROSSEM UNGLÜCK WENN DIE KNECHTE AUFATMEN / UND DIE BILDER ERWACHEN VOR DEM UNGEHEUREN ANBLICK." Ob man es wagen darf, eine prosaische Antwort zu geben? Geboren wird der Dichter jedesmal aufs neue, wenn er "ich" sagt und keinen anderen meint. Am 6. Mai 1996, einen Tag vor seinem 57. Geburtstag, wurde, so scheint mir, ein Dichter geboren. Der Blick auf sich selbst gelingt ihm über das Porträt der sterbenden, gestorbenen Mutter und zunächst nur im Ton des Sarkasmus, als Gleichsetzung seines Lebens mit seinem Nachleben, "künstlich ernährt / von meinem Zeitalter".
"Das Nachleben", erstes Gedicht der Reihe, berichtet protokollarisch von einem bedeutungsvollen Experiment. Der Dichter läßt sich eine Maske abnehmen: "Ich kam abhanden. Siedendheiß / Trocknete meine Totenmaske." Die Imagination des Totseins erlaubt ihm eine weise Erkenntnis: "DIE KATASTROPHE WAR VORHER, im Leben." Die Maske, die er dann in der Hand hält, ist zwar starr, aber doch eine Lebendmaske, das abgenommene Gesicht darf weiter altern - und reifen! Der Vorgang fand, wie uns eine Anmerkung belehrt, zwar schon Ostern 1988 statt, und das vorliegende Gedicht von 1996 ist eine zweite Fassung. Vielleicht enthielt aber schon das Ereignis selber oder die unbekannte erste Fassung auf prophetische Art das, was wir nun deutend hineinlesen? Die Maske fiel dem Dichter 1989 vom Gesicht: sein Werk, erstarrt, aber lebendig gewesen, eine Lebendmaske.
Der erste Prosatext des Bändchens phantasiert dieselbe Grundkonstellation: Der "Traumtext" erzählt, daß der Dichter träumt, im Kino zu sitzen. Der Film reißt, "ANGEHALTEN VON EINER KATASTROPHE / EINER EINSICHT". Was für eine Geschichte sollte gespielt werden? Eine Todesphantasie läßt ihn erwachen "in der ungewohnten fantastischen Gewißheit eines neuen Tags". Was diese Texte skizzieren, ist die Rückwendung des Autors auf sich selbst, sozusagen seine Entbindung, der erste Schritt zur Autonomie. Vielleicht darf man auch den Prosatext "Die Bucht der Hingeschiedenen" in diesem Zusammenhang nennen. Dort begibt sich das "Ich" legendenhaft in eine Gemeinschaft weiterlebender Toter, die am Strand wartet, auf die Inseln der Glücklichen übergesetzt zu werden, wo nur die landen, die "Recht behalten im Leben bzw. im Tod": "Ja, sagten wir, es war falsch . . . Aber es war es nicht von Anfang an und nicht für immer."
Das Vorleben muß wohl zuerst von Wirklichkeit zu Erinnerung, von Erinnerung zu Geschichte werden, wenn sein "ganzer Text" wieder verständlich werden soll. An der Geschichte darf der Dichter mitmeißeln, und es gelingen ihm eindrucksvolle Entwürfe mit "Nach dem Massaker der Illusionen" (zur Auffindung der Leiche von Che Guevara am 1. Juli 1997) und "Abschied von Kochberg" (über ein anekdotisches Ereignis: "Die Bauern tanzen / Um den Galgen / An dem die Partei hing"). Die poetische Bestimmung des biographisch-lyrischen Ichs ist ein Stoff fürs Nachleben, das sich nicht mit Klage und Ressentiment begnügt. Vielleicht werden viele Texte dann auch neu verstehbar, zum Beispiel das unter der Feder Volker Brauns so resigniert klingende Motto von Brecht: "Vergiß nicht, dies sind die Jahre / Wo es nicht gilt zu siegen, sondern / Die Niederlagen zu erfechten."
Wo der Ideologe scheiterte, wird der Dichter geboren, "ein Verrückter / Aus der Vorzeit, die die Hoffnung kannte". Da ihr Gegenstand sich als Schimäre erwiesen hat, steckte die begründetere Hoffnung allerdings im Zweifel, und war der Zweifel nicht immer Volker Brauns besondere Stärke? Wie wunderbar, daß prophetische Worte trotz aller Wenden wahr bleiben: "Der Zweyfel ist das Wasser, die Bewegung zum Guten und Bösen", schrieb Thomas Müntzer, unfreiwilliger Helfer beim Aufbau der DDR, "ich sage euch, man muß gar mechtig Achtung haben auf die neue Bewegung der itzigen Welt. Die alten Anschläge werden es ganz und gar nicht mehr tun" - auch nicht in der Poesie!
HANS-HERBERT RÄKEL
Volker Braun: "Tumulus". Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999. 41 S., br., 24,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main