Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Grit Krüger schreibt in ihrem neuen Buch kunstvoll und packend über verschiedene Facetten von Armut, lobt Rezensentin Anna Flörchinger. Die Geschichte wird aus vier Perspektiven erzählt, den Mittelpunkt bilden Mascha und ihre Tochter Tinka, die mit ihrer prekären Situation zu kämpfen haben. Nach erfolgloser Jobsuche muss Mascha eine Stelle in einem Altersheim annehmen, lesen wir. Das zieht Probleme nach sich: Die Arbeit ist hart, die Kinderbetreuung schwierig, über die Ferien zieht Mascha mit ihrer Tochter kurzerhand ins Altersheim, weil sie dort keine Heizkosten zahlen muss. Krüger schreibt mit viel Empathie für ihre Figuren, ohne in Kitsch oder Sentimentalität zu verfallen, versichert die Kritikerin. Sie traut sich, nicht nur deren Furchtlosigkeit, sondern auch deren Schwächen zu zeigen, all das sprachlich genial verarbeitet, lobt Flörchinger, die das Buch gar nicht aus der Hand legen möchte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.04.2023Heimlich im Heim
Grit Krügers erster Roman "Tunnel"
Das Amt hat kein Formular, um Heizungen reparieren zu lassen, für die sich der Vermieter nicht interessiert. Hin muss Mascha trotzdem, sonst werden ihr Leistungen gekürzt, sie muss vermittelt werden, eine Betreuung für ihre Kleine finden. Ob Grit Krüger wusste, wie aktuell das Heizungsthema zum Erscheinen ihres Debütromans werden würde? Wohl nicht, aber das ist egal, denn Krüger trifft mit ihrem Werk "Tunnel" einen gesellschaftlich wunden Punkt. Die Romanfiguren sind alle in Not, drohen abzustürzen oder vergessen zu werden.
Vier Protagonisten erzählen in eher kurzen Kapiteln abwechselnd aus ihren Perspektiven: ein Kind, eine Mutter, ein Freund, ein alter Mann. Sie alle kennen sich, leben in der gleichen Realität, und zwar mehr oder minder in prekären Verhältnissen. Doch trotz der Armut, die sie alle auf verschiedene Weise erfahren, trieft das Buch nicht vor Mitleid. Ganz besonders deutlich wird das an der Beziehung zwischen Mascha und ihrer Tochter Tinka, um deren beider Schicksal sich auch das der anderen Figuren dreht. Mascha verzeichnet erfolglose Amtsbesuche, bis sie schließlich an ein Altersheim vermittelt wird - ein Knochenjob, den sie aber annehmen muss. So beschließt sie, für die Weihnachtsferien, in denen sie ohnehin arbeiten muss, ein leer stehendes Zimmer des Heims zusammen mit ihrer Tochter zu beziehen, denn dort muss sie für Heizkosten und Essen zumindest nicht selbst aufkommen. Zwischendurch kommt auch noch Maschas Freund Enders heimlich im Altersheim unter.
Man könnte denken, Mascha sei eine aufopferungsvolle Person, die nichts weiter als das Wohlergehen ihrer Tochter im Sinn hat und dafür hart ackert. Doch Krüger geht ehrlich mit ihren Figuren um, zeigt deren Abgründe, Sorgen, Zweifel mit wenig Worten und genialer Sprache. Ganze Kapitel sind reine Dialoge, und doch weiß man, was die Personen denken. Krüger muss nicht eigens schreiben, dass die Verwandtschaft, die den Heimbewohner Tomsonov besucht, frustriert ist, muss auch nicht hinzufügen, dass Tomsonov wiederum von seiner selten vorbeikommenden Tochter enttäuscht ist.
Gerade die Mutter-Tochter-Beziehung ist die gelungenste des Romans, weil sie so unerwartet verläuft. Denn Mascha vernachlässigt ihre Tochter manchmal im Strudel der eigenen Verzweiflung und redet sich ein, dass ein Kind sich schon selbst etwas zum Spielen suchen könnte, während sie jede Schicht annimmt, die man ihr anbietet. Sie fängt an, mit dem alten Tomsonov unter dem Heim einen Tunnel zu graben, ein sinnloses Unterfangen, das fast zu einer Droge wird, während die siebenjährige Tinka der Heimleiterin Fragen zu ihrer Mutter beantworten, Geld für Schulausflüge ausfindig machen und ertragen muss, dass alle sich bei dem Wort "arm" nach ihr umdrehen.
So ist auch Scham ein wiederkehrendes Motiv: Manche schämen sich, weil sie auf staatliche Hilfe angewiesen sind und das Gefühl haben, nach dieser Hilfe betteln zu müssen, andere wiederum schämen sich, weil sie allein nicht mehr leben können und auf die Hilfe anderer angewiesen sind. Die Realität im Altersheim ist auf andere Weise arm: kontaktarm. Die Bewohner wollen sich nicht nur vom Pflichtbesuch der Verwandtschaft trösten lassen und sehnen sich nach ihrem alten Leben. Krüger zeigt diese oft Vergessenen und deren Willenskraft.
Dennoch agiert Mascha in dieser tristen Welt auch furchtlos. Dreitausend Euro will sie sammeln und dann den Aushilfsjob aufgeben, eine Fortbildung machen und ihrer Tochter ein Ferienlager ermöglichen. Doch erst muss der Tunnel fertig werden, an dem sie so manisch baut und für den sie Maschinen, die sie vorher gar nicht kannte, in die Hand nimmt. Ein Tunnel als Metapher fürs Ausbrechen? Oder dafür, dass ihr die Decke auf den Kopf fällt? Dass es irgendwo am Ende doch noch ein Licht gibt? Krüger lässt es offen, sie nimmt uns nur mit zu Maschas manischem Vorhaben, und das fesselt. Es ist ein Buch, in das man leicht hineinkommt und das man nicht leicht aus der Hand legt. Trotz der Schwere der gesellschaftlichen Themen, die gerade jetzt drängen, ist der Roman vor allem durch seine Sprache und Komposition ein Kunstwerk. ANNA FLÖRCHINGER
Grit Krüger:
"Tunnel". Roman.
Kanon Verlag,
Berlin 2023. 220 S., geb., 23,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Grit Krügers erster Roman "Tunnel"
Das Amt hat kein Formular, um Heizungen reparieren zu lassen, für die sich der Vermieter nicht interessiert. Hin muss Mascha trotzdem, sonst werden ihr Leistungen gekürzt, sie muss vermittelt werden, eine Betreuung für ihre Kleine finden. Ob Grit Krüger wusste, wie aktuell das Heizungsthema zum Erscheinen ihres Debütromans werden würde? Wohl nicht, aber das ist egal, denn Krüger trifft mit ihrem Werk "Tunnel" einen gesellschaftlich wunden Punkt. Die Romanfiguren sind alle in Not, drohen abzustürzen oder vergessen zu werden.
Vier Protagonisten erzählen in eher kurzen Kapiteln abwechselnd aus ihren Perspektiven: ein Kind, eine Mutter, ein Freund, ein alter Mann. Sie alle kennen sich, leben in der gleichen Realität, und zwar mehr oder minder in prekären Verhältnissen. Doch trotz der Armut, die sie alle auf verschiedene Weise erfahren, trieft das Buch nicht vor Mitleid. Ganz besonders deutlich wird das an der Beziehung zwischen Mascha und ihrer Tochter Tinka, um deren beider Schicksal sich auch das der anderen Figuren dreht. Mascha verzeichnet erfolglose Amtsbesuche, bis sie schließlich an ein Altersheim vermittelt wird - ein Knochenjob, den sie aber annehmen muss. So beschließt sie, für die Weihnachtsferien, in denen sie ohnehin arbeiten muss, ein leer stehendes Zimmer des Heims zusammen mit ihrer Tochter zu beziehen, denn dort muss sie für Heizkosten und Essen zumindest nicht selbst aufkommen. Zwischendurch kommt auch noch Maschas Freund Enders heimlich im Altersheim unter.
Man könnte denken, Mascha sei eine aufopferungsvolle Person, die nichts weiter als das Wohlergehen ihrer Tochter im Sinn hat und dafür hart ackert. Doch Krüger geht ehrlich mit ihren Figuren um, zeigt deren Abgründe, Sorgen, Zweifel mit wenig Worten und genialer Sprache. Ganze Kapitel sind reine Dialoge, und doch weiß man, was die Personen denken. Krüger muss nicht eigens schreiben, dass die Verwandtschaft, die den Heimbewohner Tomsonov besucht, frustriert ist, muss auch nicht hinzufügen, dass Tomsonov wiederum von seiner selten vorbeikommenden Tochter enttäuscht ist.
Gerade die Mutter-Tochter-Beziehung ist die gelungenste des Romans, weil sie so unerwartet verläuft. Denn Mascha vernachlässigt ihre Tochter manchmal im Strudel der eigenen Verzweiflung und redet sich ein, dass ein Kind sich schon selbst etwas zum Spielen suchen könnte, während sie jede Schicht annimmt, die man ihr anbietet. Sie fängt an, mit dem alten Tomsonov unter dem Heim einen Tunnel zu graben, ein sinnloses Unterfangen, das fast zu einer Droge wird, während die siebenjährige Tinka der Heimleiterin Fragen zu ihrer Mutter beantworten, Geld für Schulausflüge ausfindig machen und ertragen muss, dass alle sich bei dem Wort "arm" nach ihr umdrehen.
So ist auch Scham ein wiederkehrendes Motiv: Manche schämen sich, weil sie auf staatliche Hilfe angewiesen sind und das Gefühl haben, nach dieser Hilfe betteln zu müssen, andere wiederum schämen sich, weil sie allein nicht mehr leben können und auf die Hilfe anderer angewiesen sind. Die Realität im Altersheim ist auf andere Weise arm: kontaktarm. Die Bewohner wollen sich nicht nur vom Pflichtbesuch der Verwandtschaft trösten lassen und sehnen sich nach ihrem alten Leben. Krüger zeigt diese oft Vergessenen und deren Willenskraft.
Dennoch agiert Mascha in dieser tristen Welt auch furchtlos. Dreitausend Euro will sie sammeln und dann den Aushilfsjob aufgeben, eine Fortbildung machen und ihrer Tochter ein Ferienlager ermöglichen. Doch erst muss der Tunnel fertig werden, an dem sie so manisch baut und für den sie Maschinen, die sie vorher gar nicht kannte, in die Hand nimmt. Ein Tunnel als Metapher fürs Ausbrechen? Oder dafür, dass ihr die Decke auf den Kopf fällt? Dass es irgendwo am Ende doch noch ein Licht gibt? Krüger lässt es offen, sie nimmt uns nur mit zu Maschas manischem Vorhaben, und das fesselt. Es ist ein Buch, in das man leicht hineinkommt und das man nicht leicht aus der Hand legt. Trotz der Schwere der gesellschaftlichen Themen, die gerade jetzt drängen, ist der Roman vor allem durch seine Sprache und Komposition ein Kunstwerk. ANNA FLÖRCHINGER
Grit Krüger:
"Tunnel". Roman.
Kanon Verlag,
Berlin 2023. 220 S., geb., 23,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Grit Krüger spielt raffiniert mit der Realität, zeigt Hoffnungen und Täuschungen und die allgemeine Unsicherheit der modernen Welt.« Olga Martynova