Produktdetails
  • Verlag: Penguin Uk
  • Gewicht: 297g
  • ISBN-13: 9780140286564
  • ISBN-10: 014028656X
  • Artikelnr.: 10912353
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.2004

Vier Dinge braucht der Mann
Wie kommt der Jazz in die Trompete? Patrick Neate weiß, daß Erzählen und Musizieren zusammengehören / Von Edo Reents

Ist es mehr als eine Mode, daß inzwischen nur noch von "Afroamerikanern" gesprochen wird? Wer im Zeitungsarchiv nach alten Artikeln über schwarze Musiker sucht, sieht, daß man damals "Neger" sagte. Niemand regte sich darüber auf. Die Fortschrittlichkeit, die in dem Wort "schwarz" einmal zu stecken schien, steht heute ganz anders da, und es ist nicht auszuschließen, daß man das in dreißig Jahren auch von "afroamerikanisch" sagen wird, weil dann Hinweise auf ethnische Zugehörigkeit vielleicht überhaupt nicht mehr opportun sind.

Trotzdem ist es nicht so, daß Behutsamkeit beim Gebrauch solcher Etikette fehl am Platz wäre, weder in der Wirklichkeit noch in der Kunst. Man kann es aber vermeiden, daß, wie Gottfried Benn sagen würde, etwas bloß Gutgemeintes dabei herauskommt und keine Kunst. Man muß es nur geschickt anfassen, was etwa bei einem Roman, der von nichts anderem handelt als von sogenannter schwarzer Identität, eine ziemliche Herausforderung ist. Für Patrick Neate war das offensichtlich kein Problem. Sein "Twelve Bar Blues" ist ein mit allen Wassern gewaschener Jazzroman, der ausschließlich in schwarzen Milieus spielt und dabei keine falschen Rücksichtnahmen kennt. Das Buch ist dabei so voller Musik, daß den Juroren des britischen Whitbread-Preises vor drei Jahren die Ohren geklungen haben: Neate, damals einunddreißig, gewann den Preis und stach V. S. Naipaul und Ian McEwan aus. Das deutschsprachige Publikum, dem die gelungene Übersetzung jetzt vorliegt, sollte sich von der Richtigkeit dieser Entscheidung überzeugen.

Man darf sich von den vier Erzählebenen und den drei Kontinenten, auf denen die Geschichte spielt, nicht abschrecken lassen - drei mal vier macht zwölf, so viel, wie der Blues Takte hat. Diese Rechnung muß man nicht aufmachen, sie könnte geschmäcklerisch wirken, wenn sie mit zuviel Ambition präsentiert wird. Neate verzichtet darauf und bietet uns unverstelltes Leben voller Leiden und Musik: die Geburt des Jazz aus dem Geiste der Sklaverei. Das mag, zumal, wenn man an Adorno denkt, eine öde These sein. Neate hat sie vom Kopf auf die Füße gestellt. Für Theoretiker, die "viel Wesens um afrikanische Rhythmen und Blue Notes" machen, hat er nichts übrig, obwohl er erzählerische Kraft und Kraftmeierei auseinanderzuhalten weiß.

Das Vorspiel setzt im Afrika des späten achtzehnten Jahrhunderts ein, eine Dreiecksgeschichte, die sehr stark an die "Vertauschten Köpfe" erinnert, die späte Erzählung von Thomas Mann über echte und manipulierte Liebe, über die Tücken des Geschlechts und Möglichkeiten, dem Unglück, das meistens dabei entsteht, aus dem Weg zu gehen. Es war also einmal Sike, ein junger, sehr begabter Sänger, der verliebte sich in die Häuptlingstochter Wacheke, mußte es aber dulden, daß diese ihm von seinem besten Freund Mutela ausgespannt wurde, der seine Zauberkräfte außerdem dazu benutzt, den lästigen Nebenbuhler in die Hände von Sklavenhändlern nach New Orleans zu befördern, wo seine Nachfahren . . . - fertig ist der Jazz, könnte man folgern und hätte auch recht damit.

Denn es versteht sich fast schon von selbst, daß unter den Nachfahren des armen Sike einer besonders talentiert ist: Lick Holden nämlich, der eigentliche Held des Romans. Er wächst in Louisiana um 1900 unter, wie sich ebenfalls versteht, ärmlichsten Verhältnissen zu einem der größten Kornettisten seiner Zeit heran und - dies ist die einzig überflüssige Wendung eines an virtuosen Wendungen nicht eben armen Romans - beeinflußt sogar den jungen Louis Armstrong. Lick Holden durchläuft die Schule seines kurzen Lebens im Erziehungsheim, wo er sich unter den sadistischen Ausfällen Stärkerer wegducken muß. Seinen musikalischen Durchbruch erfährt er auf Beerdigungen, bei denen Ragtime gespielt wird - auch dies hätte als Klischee stören können, aber Neate erzählt derart vital, daß man das Gefühl hat, man höre das zum ersten Mal. Der Ragtime wird im damaligen Slang auch jass oder jasm genannt, beides Abkürzungen für den orgasm, um den sich auch bei dieser Musik alles dreht: Die Auflösung der Dissonanzen, wichtigstes Kennzeichen, das den Jazz mit der klassischen Musik verbindet, bringt eine Erfüllung, für die es keine Worte mehr gibt. Auch der Rock 'n' Roll kennt diese Konnotation - rock and roll ist der (wiederum schwarze) Slangausdruck für den Beischlaf -, aber er wäre aufgrund seiner Primitivität ungeeignet für das gewesen, was Neate auf so bemerkenswerte Weise inszeniert und, ganz wie im Jazz, auch improvisiert. Die Abschweifung gehört durchaus zum Erzählprinzip, in dem harter Realismus und ein Märchenton, der die so ironische wie mitfühlende Erzählerperspektive verrät, bequem nebeneinander Platz haben.

Auch Lick Holden ergeht es schlecht, er wird ein Virtuose, über den die Zeit hingweggeht, und es ist Neates Anliegen, dieses vergessene Genie unsterblich zu machen, indem er eine Geschichte erzählt, wie wir sie bisher nur aus dem Kino kennen: Sergio Leones "Es war einmal in Amerika" und Barry Levinsons "Sleepers" scheinen zwingende Vorbilder zu sein für dieses Epos über Kameraderie, die sich in einer von den Umständen erzwungenen, also überlebenswichtigen Frühreife auslebt, über Warten und Wiedersehen und über Liebesverhältnisse, die nur im Ausnahmefall gut ausgehen. Dieser Ausnahmefall ist die Spätgeborene Sylvia, eine, wie es witzig heißt, Prostituierte im Ruhestand, die sich während der jüngst vergangenen Jahrhundertwende von London aus auf den Weg macht, um ihre Herkunft zu erfahren, die nicht nur farblich gesehen vertrackt genug ist. Aber Neate entwirrt das Identitätsknäuel mit der Virtuosität und Dreistigkeit des Jazzers, der weiß, an welcher Stelle er die blue note setzen muß. Sylvia gerät an Musa, den Nachfahren des bösen Zauberers Mutela, der zunächst in seiner afrikanischen Heimat wirkt - die Episoden, die im Afrika des Jahres 1998 spielen, sind unglaublich komisch -, dann aber plötzlich in New York, Chicago und New Orleans zur Stelle ist, um der Verirrten auf die Sprünge einer Erinnerung zu helfen, die sie gar nicht hat.

Viel ist in diesem Buch, das voller Wehmut ist, voller Trauer über vergeudetes Talent und verfehltes Leben, die Rede vom Schicksal - es gibt keines. Ist denn alles dummer, grausamer Zufall? Neate spinnt seine Fäden im Glauben an eine andere Macht und wahrhafte Lebenströstung: den Jazz. Erzählen ist für ihn Musizieren, und daß man nicht alles zu Ende führen und daß nicht alles passen muß, ergibt den bitter-süßen Ton, der die Sache erst schmackhaft macht: "Und schließlich sind wir beim letzten Ton des Kornetts angelangt, und der Blues endet einen Halbton tiefer auf einer blue note. So bleibt der Song unvollendet und hinterläßt in uns das Verlangen nach mehr." Der Bläser weiß, daß man nur richtig spielt, wenn vier Dinge zusammenkommen: Kopf, Lippen, Herz und, jawohl, der Unterleib. Fürs Schreiben gilt das auch. Patrick Neate hat das begriffen.

Patrick Neate: "Twelve bar Blues". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Bernhard Schmidt. Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins. Hamburg, Frankfurt am Main. 450 S., geb., 17,90 [Euro].

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