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Produktbeschreibung
A story of love and survival amidst the great events of the twentieth century.
Autorenporträt
Vikram Seth was born in India. He was educated there and in England, China and the USA. He has written great books in every genre: verse novel (THE GOLDEN GATE); travel book (FROM HEAVEN LAKE winner Thomas Cook Travel Book Award); epic masterpiece (A SUITABLE BOY).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.09.2006

Mein Großonkel, der einarmige Zahnarzt
Glücklich ist, wer vergißt, was nicht mehr zu ändern ist: Der Inder Vikram Seth blättert ein üppiges Familienalbum auf

Man stelle sich vor: einen jungen Inder, der im Deutschland der dreißiger Jahre Zahnmedizin studiert, seine jüdische Angebetete ist anderweitig verlobt, deren ältere Schwester ihm dafür heimlich zugetan. Dazu einen tagediebischen Bruder, der das Geld durchbringt, mit dem die verwitwete Mutter und ältere Schwester fliehen sollten, und der in Südamerika verschwindet. Einen halbjüdischen Verlobten, der die 1939 emigrierte Angebetete des Inders aus Sicherheitsdenken oder Wankelmut in absentiam für eine arische Christin verläßt. Dazu in Deutschland ein Freundeskreis aus treu zur Familie stehenden Verbündeten wie auch allzuleichten Fähnchen im Wind des Dritten Reichs; ferner jüdische Freunde im Exil zwischen New York und Schanghai. Liebe und unsagbares Leid. Berlin und Birkenau. Eine späte indisch-jüdische Hochzeit. Nicht zu vergessen ein unüberschaubarer, verzweigter bourgeoiser Clan in Indien.

Der indische Schriftsteller Vikram Seth hätte sich angesichts dieser Fülle an Charaktervorlagen und der sich daraus ergebenden Konstellationen leicht für einen episch breiten, weltumspannenden Panoramaroman der dreißiger und vierziger Jahre entscheiden können, vielleicht seinem 1400-Seiten-Werk "Eine gute Partie" über die fünfziger Jahre in Indien, dessen Figuren teilweise ebenfalls an Familienangehörige angelehnt sind, nicht unähnlich - vermutlich länger. Er hat es nicht getan. Wer braucht Protagonisten, wenn er Menschen haben kann? Warum einen authentischen Stoff stopfen, in den die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts fransige Löcher gerissen hat? Er wird durch diese Spuren doch nur ungleich kostbarer.

Den bewegenden Lebensgeschichten seines Großonkels Shanti Seth und seiner Großtante Henny Seth, geborene Caro, denen er in "Zwei Leben" nachgeht, nähert Seth sich auf einzig angemessene Weise: als unaufgeregter Chronist, der sein Material aus elf Interviews mit seinem sechsundachtzigjährigen Onkel bezieht und aus eigenen Erinnerungen daran, wie er als junger Student in England von Onkel und Tante unter die Fittiche genommen wurde. Zudem als akribischer Familienarchivar, der in gläsern nüchterner Sprache Briefe an seine und von seiner Tante aus den vierziger Jahren kommentiert - er verdankt den zufälligen, geradezu wundersamen Schatzfund einem spinnwebüberzogenen Koffer auf dem Dachboden des Paares.

Die spröde Henny starb 1989, wenige Jahre bevor Seths Mutter Leila ihrem stoffsuchenden Sohn vorschlug, über Onkel Shanti zu schreiben. Ob sie ähnlich gesprächig gewesen wäre wie ihr Gatte, darf man bei einer Frau bezweifeln, die dem wegen einer Universitätsprüfung zum Deutschlernen gezwungenen Neffen den Spruch beibringt: Glücklich ist, wer vergißt, was nicht mehr zu ändern ist. Auch verrät der Spinnwebkoffer, daß sich nach dem Krieg manche Wahlverwandten, die ihrerseits einen durchaus banalen Alltag und belanglosen Tratsch wiedergeben, brieflich beschweren, Henny erzähle zuwenig von sich. Und selbst mit Shanti spricht sie nie über den Verlust ihrer Lieben, von deren Schicksal sie nach 1942 keine Kenntnis mehr hatte, bis ihr die treueste der Berliner Seelen, Alice Fröschke, nach dem Krieg gesteht: "Davor habe ich nun schon die ganze Zeit gezittert: Daß Du eines Tages schreiben und nach Lola fragen würdest." Sie berichtet ihr vom Abtransport der Mutter, Ella Caro, und der Schwester Lola. Die eine starb in Theresienstadt, die andere in Birkenau. Seth ist sich bewußt, daß er Hennys Briefe in dieser Ausführlichkeit vielleicht gegen den Willen seiner Tante veröffentlicht, hält dies aber für gerechtfertigt, denn "jede objektive Biographie eines vollendeten Lebens muß sich mit privaten Dingen befassen, auch wenn der Betroffene diese Dinge lieber im dunkeln belassen würde."

Daß Henny in den vierziger Jahren Klarheit über das Schicksal ihrer Lieben wie auch die Loyalität der Freunde wollte, ihr danach aber gewiß nicht mehr am Aufwühlen, sondern Verpacken und Wegschließen der Vergangenheit gelegen gewesen war, mag man aus dem Lebensstil des entwurzelten Paares ableiten. Durch alle Schicksalsschläge - Shantis hervorragende deutsche Promotion wird in England nicht anerkannt, er verliert im Krieg seinen rechten Arm bei einem Einsatz des britischen zahnärztlichen Corps in Monte Cassino -, zieht sich der Wille zur Wiederherstellung einer beständigen kleinen Ordnung, zumindest im Äußeren. Also wird Shanti sich unter Schmerzen zwingen, das Praktizieren als einarmiger Zahnarzt zu lernen. Er kauft ein Haus, das spätestens nach der Hochzeit mit Henny 1951 penibel geführt wird. Man unternimmt jährliche Schweiz-Reisen ins immergleiche Hotel. Den äußeren Halt ergänzt der innere, den sie einander geben wie zwei schwache Seile, die zu einem festen Strang gedreht sind, stärker werden, aber nicht ineinander aufgehen. Seelenverwandt waren sie nicht, günstig sind die Voraussetzungen für ihre Verbindung kaum.

Als der kleine Inder Shanti 1933 als Untermieter zu den Caros stößt, wird er schnell in den Freundeskreis aufgenommen, die bewunderte Henny aber ist mit dem großen, gutaussehenden Hans verlobt. Drei Jahre darauf muß Shanti das Land verlassen und zieht nach England. Seine Familie drängt ihn, zu heiraten und nach Indien zurückzukehren, aber Shanti bleibt. Im Juli 1939 holt er die schöne Henny an der Victoria Station ab, er ist der einzige, den sie in der Fremde kennt. Unterkommen und arbeiten wird sie bei Verwandten ihres Gerade-noch-Verlobten. Erst zwölf Jahre später wird Shanti Henny heiraten, schreibt aber aus dem Krieg leidenschaftlichste Briefe an die Heißgeliebte, schwer Vermißte, selbst wenn er deutlich macht, daß sie, sein "Kuckuck", in Fleisch und Blut nicht ganz so sei wie der "Kuckuck" seiner Träume, als den er sie sich vorstelle.

Hennys Briefe an ihren "Schwarzen Punkt" sind weit weniger leidenschaftlich. Warum die beiden nach achtzehn Jahren der wohl platonischen Freundschaft, im Londoner Freundeskreis schon längst nur in einem Atemzug genannt, doch heiraten und zusammenziehen, bleibt in der Schwebe. "Sie wußte, daß sie niemanden hatte, und ich hatte niemanden", erklärt Shanti. "Ich möchte ihn glücklich machen, er verdient es, auch auf die Gefahr hin, daß ich vielleicht nicht hundertprozentig glücklich bin", schreibt sie einem Vertrauten. Er sei der einzige, der ihre Lieben kannte, sogar liebte, und daher Verständnis für das aufbringe, was sie durchgemacht habe. Der Autor kann das Bild dieser Liebe, in der oft genug und immer auf deutsch gestritten wurde, nur von außen zeichnen. Das Wesen ihrer Liebe bleibt Geheimnis, speist sich wohl eher aus Kameradschaft, Treue und Fürsorge als aus Leidenschaft, doch haben die beiden eine gute Ehe für sich arrangiert, in der sie einander Heimat sein können, bis Henny mit einundachtzig Jahren stirbt. Shanti verwindet ihren Tod nicht, folgt, langsam verfallend, seiner verlorenen Hälfte neun Jahre später.

Vikram Seth hat ein sehr privates Buch geschrieben, auch über sich selbst und seinen Weg zum Schreiben. Wer ihn auf seinen Erkundungsgängen in die Vergangenheit begleiten will, braucht stellenweise einen langen Atem. Doch das fällt nicht allzu schwer. Die faszinierende Mischung aus Memoiren, Briefen, Fotos und Dokumenten dieses reichen Familienalbums führen uns auf verschiedenen Wegen so nahe an die Schicksale der Hauptpersonen wie auch ihrer Trabanten heran, als wäre man selbst Wahlverwandter. Schwer wird das Atmen, wenn Seth Lolas grausames Ende in Birkenau imaginiert, man ihre letzte Postkarte von dort liest, wenn Seth von seinen Recherchen in Yad Vashem berichtet und wie ihm das geliebte Dichterdeutsch zur stinkenden Tätersprache verfault.

Erst Monate später kann er die Briefe von Hennys deutschen Freundinnen wieder lesen, deren Anständigkeit und Menschlichkeit die alte Liebe doch wiederaufleben läßt, "jetzt tiefer und beunruhigter". Schadlos überblättern kann man dagegen einen unausgegorenen kurzen Exkurs über Deutschlands Rolle im zwanzigsten Jahrhundert; wundern mag man sich über ein Kapitel gegen Ende, dessen erste, nach Angaben des Autors wohl weit empörtere Version man nicht lesen möchte. Selbst in ihrer abgeschwächten Form ist Seths bittere Enttäuschung über Onkel Shanti, der bis auf einen Neffen und einen langjährigen Helfer, ähnlich wie Vikram wohl ein Sohn ehrenhalber, alle anderen bislang bedachten Verwandten ein Jahr vor seinem Tod enterbt, in ihrer Drastik so nicht nachvollziehbar. So sind Menschen eben: mal aufopferungsvoll ("Auch wenn du Hans heiratest, solange Shanti da ist, wirst du nicht verhungern", erklärt Mutter Ella ihrer Henny zu Recht), mal boshaft ("Ich habe dich mit eigenen Händen aus meinem Testament gestrichen", reibt der greise Shanti einem nach London zitierten Neffen unter die Nase).

Doch diese kleinen Schwächen können den Gewinn der Lektüre nicht mindern. Seth ist vielmehr unbedingt zu danken, daß er die Tür zu Shantis und Hennys kleinem Reihenhausleben in 18 Queens Road aufgemacht und uns durch ihre verschiedenen Erinnerungsräume mitgenommen hat. Wahrscheinlich hat er recht, wenn er glaubt: "Hinter jeder Tür in jeder gewöhnlichen Straße, in jeder Hütte in jedem Dorf auf diesem mittelmäßigen Planeten sind Reichtümer zu finden." Man sollte aufmerksamer durch seine Nachbarschaft gehen.

Vikram Seth: "Zwei Leben". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Annette Grube. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006. 532 S., geb., 22,90 [Euro].

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