Wie für Wittgenstein sind auch für Nelson leitende Ideale in der Philosophie Klarheit und kompromisslose Konsequenz. Und wenn irgendwo, dann erweist er sich in dieser Vorlesung aus dem Sommersemester 1921 über Typische Denkfehler in der Philosophie" als analytischer Philosoph im besten Sinne - als ein Philosoph, für den die "Kunst, zu philosophieren", zuallererst in der Kunst des richtigen Argumentierens besteht und für den diese Kunst insbesondere durch die Analyse der Argumentationen und Fehlargumentationen anderer Philosophen erworben werden kann.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.04.2012Hier lernt man
klares Denken
Mit dem logischen Rotstift: Eine neue Edition zeigt, wie
der Philosoph Leonard Nelson typische Irrtümer aufdeckte
Leonard Nelson war Philosoph und Mathematiker, engagierte sich darüber hinaus pädagogisch und politisch in der Arbeiterbewegung – seine Ideen gingen noch ins Godesberger Programm der SPD ein. Er war Begründer und Spiritus Rector der sogenannten Neufries’schen Schule des Neukantianismus, benannt nach dem Vorbild des Philosophen Jakob Friedrich Fries (1773-1843). Er stammte, wie Wittgenstein, aus einer großbürgerlichen jüdischen Familie, wählt aber, wie dieser, eine karge Lebensführung. Nelson starb 1927 im Alter von fünfundvierzig Jahren. Seine 1970 erschienenen „Gesammelten Schriften in neun Bänden“ sind angesichts dieser kurzen Lebensspanne beeindruckend. Sie weisen ihren Autor als einschüchternd scharfsinnigen, unbeirrbar auf Vernunft und rationales Denken setzenden kritischen Geist und als „öffentlichen Philosophen“ aus. Dennoch wird er mit seinen erkenntnistheoretischen und ethischen Diskursen kaum noch wahrgenommen.
Der nun aus dem Nachlass erschienene Band über „typische Denkfehler in der Philosophie“ wurde in die Gesammelten Schriften nicht aufgenommen, ist also eine veritable Erstveröffentlichung. Es handelt sich um Nachschriften von 22 Vorlesungen, die Nelson 1921 an der Universität Göttingen gehalten hat. Darin zeichnet er sich erneut durch Stringenz der Argumentation und sprachliche Klarheit aus. Seine auch sonst geübte beißende Kritik – oder auch Polemik –, die wohl dazu beigetragen hat, ihm einen Lehrstuhl vorzuenthalten, richtet sich in diesem Band gegen historische und zeitgenössische philosophische Prominenz.
Nelson beginnt seine Vorlesungsreihe mit einer summarischen Kritik am damaligen Zeitgeist, die sich beinahe umstandslos auf unsere popkulturelle Gegenwart übertragen lässt. Der Wahrheit, die für Nelson nur eine sein kann, näher zu kommen, gelte als veraltet und werde unter dem Druck eines sich breitmachenden Relativismus der Beliebigkeit preisgegeben. Eine „arbeitsscheue Philosophie“ setze an die Stelle der Anstrengung der Argumentation unreflektierte Intuition, Evidenz, „Wesensschau“, „Schöpfung“ letztlich; mit dem Resultat wissenschaftlichen und künstlerischen Dilettantismus. Die Weisheit sei vorwiegend zwischen den Zeilen zu suchen – Nelson empfahl deshalb, den Zeilenabstand möglichst groß zu machen oder die Zeilen ganz wegzulassen. Das geläufige Diktum Hegels schließlich, Philosophie sei „ihre Zeit in Gedanken erfasst“, gilt ihm als „die Mode, die die philosophischen Literaten selber machen und dann als den Geist der Zeiten ausgeben“.
Die Aktualität dieser Klagen und Anklagen erweist sich unter anderem in der derzeitigen Abwertung des Wahrheitsbegriffs bei einigen Vertretern der Analytischen Philosophie, namentlich bei dem 2007 verstorbenen Richard Rorty. Der Wahrheitsbegriff wird da pragmatisch und gewissermaßen opportunistisch durch Zweckmäßigkeit, Bequemlichkeit oder Nützlichkeit ersetzt – eine Tendenz übrigens, die bis auf die Renaissance zurückgeht. Nelson belegt diese Sünde eingangs an einem Satz des berühmten französischen Mathematikers Poincaré. Danach sei es „zweckmäßig“ anzunehmen, dass die Erde sich dreht.
Nelson macht durch die explizite Formulierung „Es ist wahr, dass die Wahrheit einer Aussage in ihrer Zweckmäßigkeit besteht“ dingfest, dass der Begriff der Wahrheit darin schon vorausgesetzt wird. Ferner ziehe Poincaré aus Sätzen in der Geometrie, die weder aus Logik noch aus Erfahrung abzuleiten sind, „die fatale Konsequenz“, sie als bloße Konventionen abzutun. Nelson sieht hier überdies eine „dogmatische Disjunktion“ unserer Erkenntnisquellen – entweder aus Logik oder aus Empirie – und verweist auf die dritte, kantische Erkenntnisquelle sogenannter synthetischer Urteile a priori. Analytische Urteile sind „von vornherein“, a priori wahr: Körper sind ausgedehnt; sie sind tautologisch, vermitteln nichts Neues. Synthetische Urteile gelten „im Nachhinein“, a posteriori, erweitern aber durch Erfahrung und Beobachtung unser Wissen: Körper sind schwer. Nelson macht die schroffe Dichotomie beider Erkenntnisquellen verantwortlich für zahllose Trugschlüsse in der Philosophie. Würde man sie, so überspannt er den Bogen, alle streichen, bliebe „von der Philosophie der Gegenwart nicht viel übrig“.
Einer der maßgeblichen Philosophen des vorigen Jahrhunderts, Willard V. O. Quine, hat den Dualismus von analytisch-apriorischen und empirisch-aposteriorischen Sätzen ebenfalls als dogmatisch und nichtig indiziert und stattdessen einen stufenlosen Übergang vom abstrakt-theoretischen Kern zu den konkreten Erfahrungstatsachen der Wissenschaften vorgeschlagen; Nelson dagegen sucht quer durch seine Vorlesungen nach einem „Dritten“, lässt aber im Dunkeln, ob er sich damit der Kant’schen „Durchbrechung“ der Alternative in Gestalt von synthetischen Urteilen a priori anschließen will.
Allem Räsonieren liegt Nelson zufolge ein psychologisches Moment voraus, das er als „Wahrheitsgefühl“ glaubt identifizieren zu können. Nicht, dass dank dieser Gefühlsgewissheit sich Erkenntnis schon einstelle, Denken sich also erübrige; das Wahrheitsgefühl neigt bekanntlich zu Verwirrungen, bedarf der Sicherung und Korrektur durch Dialektik, genauer einer Form „explizit logischen Denkens“, die er auch als „regressive Methode“ oder „logische Zergliederung“ bezeichnet und exerziert. Zugleich warnt er aber vor einer Überschätzung der Logik; die bloße logische Form verbürge nicht schon die Wahrheit des Gehalts eines Urteils.
Die logischen Fauxpas, die Nelson einer ganzen Galerie von Philosophen der Vergangenheit sowie seiner eigenen Zeit ankreidet – von Leibniz und Schleiermacher, Fichte oder John Stuart Mill bis Brentano oder Max Scheler –, sind neben anderen diese: der unendliche Regress; der Zirkel des zu Beweisenden als Beweis (Circulus vitiosus); sowie die Bedeutungsverschiebung – zu den drei Begriffen im Syllogismus schleicht sich ein vierter ein (Quaternio terminorum): Assad ist ein Schwein – Schweine haben vier Beine – Assad hat vier Beine. Einmal meint „Schwein“ einen üblen Menschen, dann ein nützliches Tier.
Nelsons Beweisgänge sind eindringlich und ausgiebig, sie verkürzt wiederzugeben brächte sie um ihre Plausibilität. Deshalb nur einige Andeutungen zur Ethik, wo die Fehlschlüsse besonders üppig blühen. „Wir nennen etwas gut, wenn die darauf bezügliche Liebe richtig ist.“ Nelson, Verfechter der Kant’schen Pflichtethik, hat kein Mühe zu zeigen, dass dieser „nichtige und leere“ Satz des berühmten Franz Brentano darauf hinausläuft, etwas gut zu nennen, wenn es gut ist. „Er hat“, spöttelt Nelson, „die Pflicht durch die Liebe überwunden“ (einen ähnlichen Einwand gegen Kants Pflichtethik kennt man von Schiller). Besorgniserregend steht es Nelson zufolge auch um Max Schelers Wertethik, in der die Evidenz durch eine Zweideutigkeit des Wortes „gut“ erzeugt wird, einmal nämlich als das Sittliche, ein andermal als das Wertvolle; das Sittliche sei, als Pflichterfüllung, ein trivial analytisches, das Wertvolle hingegen ein synthetisches Urteil, wobei unerlaubterweise dieses auf jenes zurückgeführt werde.
Unglücklicherweise beruft sich Nelson bei der Aufdeckung logischer Schwächen in der Ethik auf den gesunden Menschenverstand, auf das, „was Sie im Gefühl eines Guten und Bösen erleben“, als handele es sich um eine unhintergehbare Instanz (und gerät damit in gefährliche Nähe des Hans Albert’schen Münchhausen-Trilemmas, wonach ein Begründungsverfahren dogmatisch abgebrochen wird).
Einleuchtender gelingt es Nelson, die gravierenden Folgen falscher Alternativen aufgrund von gehaltlosen Nominaldefinitionen in der Staats- und Völkerrechtslehre aufzuzeigen. Der Begriff des Staates werde beispielsweise willkürlich über den Begriff der Souveränität als rechtlich unabhängiges Gebilde definiert, womit „bewiesen“ sei, dass die Idee eines Völkerbunds nicht nur blanke Utopie, sondern ein sich selbst widersprechender Begriff sei. Die damaligen Ansätze zu einem Völkerbund sind, wie Nelson festhält, am Widerstand des Deutschen Reiches und einiger seiner berühmten Staats- und Völkerrechtler gescheitert, die er der Rechtsverdrehung überführt – womit er belegt, dass „logizistische Wortspiele“ auf dem Gebiet der Politik alles andere als harmlos sind. Die neu herausgegebenen Vorlesungen von Leonard Nelson lehren, dass wir immer wieder Philosophen brauchen, die den logischen Rotstift ansetzen.
WILLY HOCHKEPPEL
LEONARD NELSON: Typische Denkfehler in der Philosophie. Nachschrift der Vorlesung vom Sommersemester 1921. Aus dem Nachlass herausgegeben von Andreas Brandt und Jörg Schroth. Mit einer Einleitung von Dieter Birnbacher. Felix Meiner Verlag, Hamburg 2011. 284 Seiten, 34,90 Euro.
Die Klage über die Abwertung
des Wahrheitsbegriffs
ist aktueller denn je
Einer ganzen Galerie von
Philosophen werden hier
Fehlschlüsse angekreidet
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klares Denken
Mit dem logischen Rotstift: Eine neue Edition zeigt, wie
der Philosoph Leonard Nelson typische Irrtümer aufdeckte
Leonard Nelson war Philosoph und Mathematiker, engagierte sich darüber hinaus pädagogisch und politisch in der Arbeiterbewegung – seine Ideen gingen noch ins Godesberger Programm der SPD ein. Er war Begründer und Spiritus Rector der sogenannten Neufries’schen Schule des Neukantianismus, benannt nach dem Vorbild des Philosophen Jakob Friedrich Fries (1773-1843). Er stammte, wie Wittgenstein, aus einer großbürgerlichen jüdischen Familie, wählt aber, wie dieser, eine karge Lebensführung. Nelson starb 1927 im Alter von fünfundvierzig Jahren. Seine 1970 erschienenen „Gesammelten Schriften in neun Bänden“ sind angesichts dieser kurzen Lebensspanne beeindruckend. Sie weisen ihren Autor als einschüchternd scharfsinnigen, unbeirrbar auf Vernunft und rationales Denken setzenden kritischen Geist und als „öffentlichen Philosophen“ aus. Dennoch wird er mit seinen erkenntnistheoretischen und ethischen Diskursen kaum noch wahrgenommen.
Der nun aus dem Nachlass erschienene Band über „typische Denkfehler in der Philosophie“ wurde in die Gesammelten Schriften nicht aufgenommen, ist also eine veritable Erstveröffentlichung. Es handelt sich um Nachschriften von 22 Vorlesungen, die Nelson 1921 an der Universität Göttingen gehalten hat. Darin zeichnet er sich erneut durch Stringenz der Argumentation und sprachliche Klarheit aus. Seine auch sonst geübte beißende Kritik – oder auch Polemik –, die wohl dazu beigetragen hat, ihm einen Lehrstuhl vorzuenthalten, richtet sich in diesem Band gegen historische und zeitgenössische philosophische Prominenz.
Nelson beginnt seine Vorlesungsreihe mit einer summarischen Kritik am damaligen Zeitgeist, die sich beinahe umstandslos auf unsere popkulturelle Gegenwart übertragen lässt. Der Wahrheit, die für Nelson nur eine sein kann, näher zu kommen, gelte als veraltet und werde unter dem Druck eines sich breitmachenden Relativismus der Beliebigkeit preisgegeben. Eine „arbeitsscheue Philosophie“ setze an die Stelle der Anstrengung der Argumentation unreflektierte Intuition, Evidenz, „Wesensschau“, „Schöpfung“ letztlich; mit dem Resultat wissenschaftlichen und künstlerischen Dilettantismus. Die Weisheit sei vorwiegend zwischen den Zeilen zu suchen – Nelson empfahl deshalb, den Zeilenabstand möglichst groß zu machen oder die Zeilen ganz wegzulassen. Das geläufige Diktum Hegels schließlich, Philosophie sei „ihre Zeit in Gedanken erfasst“, gilt ihm als „die Mode, die die philosophischen Literaten selber machen und dann als den Geist der Zeiten ausgeben“.
Die Aktualität dieser Klagen und Anklagen erweist sich unter anderem in der derzeitigen Abwertung des Wahrheitsbegriffs bei einigen Vertretern der Analytischen Philosophie, namentlich bei dem 2007 verstorbenen Richard Rorty. Der Wahrheitsbegriff wird da pragmatisch und gewissermaßen opportunistisch durch Zweckmäßigkeit, Bequemlichkeit oder Nützlichkeit ersetzt – eine Tendenz übrigens, die bis auf die Renaissance zurückgeht. Nelson belegt diese Sünde eingangs an einem Satz des berühmten französischen Mathematikers Poincaré. Danach sei es „zweckmäßig“ anzunehmen, dass die Erde sich dreht.
Nelson macht durch die explizite Formulierung „Es ist wahr, dass die Wahrheit einer Aussage in ihrer Zweckmäßigkeit besteht“ dingfest, dass der Begriff der Wahrheit darin schon vorausgesetzt wird. Ferner ziehe Poincaré aus Sätzen in der Geometrie, die weder aus Logik noch aus Erfahrung abzuleiten sind, „die fatale Konsequenz“, sie als bloße Konventionen abzutun. Nelson sieht hier überdies eine „dogmatische Disjunktion“ unserer Erkenntnisquellen – entweder aus Logik oder aus Empirie – und verweist auf die dritte, kantische Erkenntnisquelle sogenannter synthetischer Urteile a priori. Analytische Urteile sind „von vornherein“, a priori wahr: Körper sind ausgedehnt; sie sind tautologisch, vermitteln nichts Neues. Synthetische Urteile gelten „im Nachhinein“, a posteriori, erweitern aber durch Erfahrung und Beobachtung unser Wissen: Körper sind schwer. Nelson macht die schroffe Dichotomie beider Erkenntnisquellen verantwortlich für zahllose Trugschlüsse in der Philosophie. Würde man sie, so überspannt er den Bogen, alle streichen, bliebe „von der Philosophie der Gegenwart nicht viel übrig“.
Einer der maßgeblichen Philosophen des vorigen Jahrhunderts, Willard V. O. Quine, hat den Dualismus von analytisch-apriorischen und empirisch-aposteriorischen Sätzen ebenfalls als dogmatisch und nichtig indiziert und stattdessen einen stufenlosen Übergang vom abstrakt-theoretischen Kern zu den konkreten Erfahrungstatsachen der Wissenschaften vorgeschlagen; Nelson dagegen sucht quer durch seine Vorlesungen nach einem „Dritten“, lässt aber im Dunkeln, ob er sich damit der Kant’schen „Durchbrechung“ der Alternative in Gestalt von synthetischen Urteilen a priori anschließen will.
Allem Räsonieren liegt Nelson zufolge ein psychologisches Moment voraus, das er als „Wahrheitsgefühl“ glaubt identifizieren zu können. Nicht, dass dank dieser Gefühlsgewissheit sich Erkenntnis schon einstelle, Denken sich also erübrige; das Wahrheitsgefühl neigt bekanntlich zu Verwirrungen, bedarf der Sicherung und Korrektur durch Dialektik, genauer einer Form „explizit logischen Denkens“, die er auch als „regressive Methode“ oder „logische Zergliederung“ bezeichnet und exerziert. Zugleich warnt er aber vor einer Überschätzung der Logik; die bloße logische Form verbürge nicht schon die Wahrheit des Gehalts eines Urteils.
Die logischen Fauxpas, die Nelson einer ganzen Galerie von Philosophen der Vergangenheit sowie seiner eigenen Zeit ankreidet – von Leibniz und Schleiermacher, Fichte oder John Stuart Mill bis Brentano oder Max Scheler –, sind neben anderen diese: der unendliche Regress; der Zirkel des zu Beweisenden als Beweis (Circulus vitiosus); sowie die Bedeutungsverschiebung – zu den drei Begriffen im Syllogismus schleicht sich ein vierter ein (Quaternio terminorum): Assad ist ein Schwein – Schweine haben vier Beine – Assad hat vier Beine. Einmal meint „Schwein“ einen üblen Menschen, dann ein nützliches Tier.
Nelsons Beweisgänge sind eindringlich und ausgiebig, sie verkürzt wiederzugeben brächte sie um ihre Plausibilität. Deshalb nur einige Andeutungen zur Ethik, wo die Fehlschlüsse besonders üppig blühen. „Wir nennen etwas gut, wenn die darauf bezügliche Liebe richtig ist.“ Nelson, Verfechter der Kant’schen Pflichtethik, hat kein Mühe zu zeigen, dass dieser „nichtige und leere“ Satz des berühmten Franz Brentano darauf hinausläuft, etwas gut zu nennen, wenn es gut ist. „Er hat“, spöttelt Nelson, „die Pflicht durch die Liebe überwunden“ (einen ähnlichen Einwand gegen Kants Pflichtethik kennt man von Schiller). Besorgniserregend steht es Nelson zufolge auch um Max Schelers Wertethik, in der die Evidenz durch eine Zweideutigkeit des Wortes „gut“ erzeugt wird, einmal nämlich als das Sittliche, ein andermal als das Wertvolle; das Sittliche sei, als Pflichterfüllung, ein trivial analytisches, das Wertvolle hingegen ein synthetisches Urteil, wobei unerlaubterweise dieses auf jenes zurückgeführt werde.
Unglücklicherweise beruft sich Nelson bei der Aufdeckung logischer Schwächen in der Ethik auf den gesunden Menschenverstand, auf das, „was Sie im Gefühl eines Guten und Bösen erleben“, als handele es sich um eine unhintergehbare Instanz (und gerät damit in gefährliche Nähe des Hans Albert’schen Münchhausen-Trilemmas, wonach ein Begründungsverfahren dogmatisch abgebrochen wird).
Einleuchtender gelingt es Nelson, die gravierenden Folgen falscher Alternativen aufgrund von gehaltlosen Nominaldefinitionen in der Staats- und Völkerrechtslehre aufzuzeigen. Der Begriff des Staates werde beispielsweise willkürlich über den Begriff der Souveränität als rechtlich unabhängiges Gebilde definiert, womit „bewiesen“ sei, dass die Idee eines Völkerbunds nicht nur blanke Utopie, sondern ein sich selbst widersprechender Begriff sei. Die damaligen Ansätze zu einem Völkerbund sind, wie Nelson festhält, am Widerstand des Deutschen Reiches und einiger seiner berühmten Staats- und Völkerrechtler gescheitert, die er der Rechtsverdrehung überführt – womit er belegt, dass „logizistische Wortspiele“ auf dem Gebiet der Politik alles andere als harmlos sind. Die neu herausgegebenen Vorlesungen von Leonard Nelson lehren, dass wir immer wieder Philosophen brauchen, die den logischen Rotstift ansetzen.
WILLY HOCHKEPPEL
LEONARD NELSON: Typische Denkfehler in der Philosophie. Nachschrift der Vorlesung vom Sommersemester 1921. Aus dem Nachlass herausgegeben von Andreas Brandt und Jörg Schroth. Mit einer Einleitung von Dieter Birnbacher. Felix Meiner Verlag, Hamburg 2011. 284 Seiten, 34,90 Euro.
Die Klage über die Abwertung
des Wahrheitsbegriffs
ist aktueller denn je
Einer ganzen Galerie von
Philosophen werden hier
Fehlschlüsse angekreidet
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Den logischen Rotstift des ein wenig in Vergessenheit geratenen Philosophen und Mathematikers Leonard Nelson lässt Willy Hochkeppel sich gefallen. Den Autor kennt er als scharfsinnigen wie kritischen Geist, den aus dem Nachlass herausgegebenen Band nennt er eine "veritable Erstveröffentlichung". Besondere Beachtung finden die Nachschriften von 22 Vorlesungen Nelsons aus Göttinger Tagen bei Hochkeppel wegen ihrer beißenden Kritik an philosophischer Prominenz, wie Leibniz, Fichte oder Stuart Mill, denen der Autor Argumentationsflucht und logischen Formalismus vorwirft. Laut Hochkeppel steckt darin eine bemerkenswerte Aktualität. Einleuchtend etwa findet er Nelsons Kritik gehaltloser Nominaldefinitionen in der Staats- und Völkerrechtslehre.
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