Tiny Stricker fährt U-Bahn, beschäftigt sich mit Gesten, Blicken, Worten, Stimmungen, Codes und Gesichtern, aber eigentlich ist er auf der Suche nach der "Seele" der Stadt. Zwischendurch steigt er zur Oberfläche auf, nimmt die Jahreszeiten wahr, sieht seine Umgebung mit neuen Augen. Auch spontane Reisen unternimmt er, die mit seiner Suche zusammenhängen, gelangt auf diese Weise bis nach Weimar oder Sarajevo. Ein Großstadtbrevier unserer Tage ist entstanden, gleichzeitig ein andersartiges München-Buch.Tiny Stricker wurde bekannt durch Werke wie "Trip Generation" und "Spaghetti Junction", die das Unterwegssein zum Thema hatten, und auch diese U-Bahn-Odyssee ist im Grunde eine "Roadnovel", ein ausschweifender Reiseroman.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.01.2021Im Sog der Tiefe
Tiny Stricker durchdringt in „U-Bahn-Reiter“ Münchens Oberfläche
München – „Je unübersichtlicher die Städte werden, umso wichtiger werden die Codes“, schreibt Tiny Stricker. „Wahre Erkennungszeichen sind sie aber nur dem Eingeweihten, für die anderen bloß sich häufende, kurz an die Oberfläche tretende, letztlich trügerische Details.“ Der Münchner Autor Tiny Stricker beobachtet solche Details genau. Und wer mit ihm durch die Stadt läuft oder vielmehr fährt, der nimmt sie anschließend vielleicht noch einmal anders wahr.
Im neuen Buch „U-Bahn-Reiter“ fährt man mit Tiny Stricker durch den Münchner Untergrund. Der 1949 geborene Autor, in den Siebzigerjahren bekannt geworden mit dem Buch „Trip Generation“, das seine Tramp-Reisen in den nahen Osten beschreibt, schweift – mit wenigen Ausnahmen – nicht mehr so weit in die Ferne. Zu erleben gibt es ja auch in den Tiefen Münchens genug. Wenn Stricker hinabsteigt, entdeckt er „eine Art Eleusis, einen Raum der Seele, die Stationen schon verwunschene, überwachsene Tempel“. In dieser Welt sieht er, wie sich Mädchen die Hände eincremen, „um noch leichter, geschmeidiger über ihr Smartphone wie über ein winziges Instrument gleiten zu können“. Er nimmt Gegensätze wahr im Verhalten der Passagiere, interpretiert Gespräche, Gesten und Codes von Deutschen und Migranten. All das mit dem freundlich teilnehmenden Blick eines durch viel Bildung und eigene Welterfahrung geschulten Flaneurs.
Schon die Einfahrt in die unterirdische Welt, mit schnell vorbeisausenden Lichtern und flackernden Stäben, erinnert den Autor „an den Wisch-Effekt in asiatischen Filmen“. Einmal drin in dieser anderen Welt, empfindet er die U-Bahn als „Schutzraum“, in dem man sich dem Fahren oder besser „selbstständigen Fließen“ überlässt, sich „getragen“ fühlt. Ähnlich geht es dem Leser dieser kurzen Texte, die den verschiedenen Erscheinungsformen unseres Lebens nachspüren und den Zeichen, die sich unter der Oberfläche der so selbstverständlich wirkenden Dinge und Handlungen des Alltags finden lassen: In Strickers unaufgeregten, dabei immer offen und neugierig wirkenden Texten taucht man mit ihm in einen ruhigen Fluss ein. Und folgt ihm auch, wenn er wieder auftaucht und andere Orte durchstreift, den Englischen Garten oder auch mal Salzburg, und wenn er das so beschreibt: „Ein Schwebezustand ist eingetreten, der die Zeit zu verlängern scheint.“
ANTJE WEBER
Tiny Stricker: U-Bahn-Reiter. Werkausgabe Tiny Stricker Band 11, Verlag P. Machinery 2020, 192 Seiten, Hardcover 21,90 Euro, Taschenbuch 13,90 Euro
LESENSWERT
Als Schutzräume empfindet der Schriftsteller Tiny Stricker die U-Bahn-Waggons, in denen er sich getragen fühlt im „selbstständigen Fließen“.
Foto: Florian Peljak
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Eine Dienstleistung des SZ-Archivs
Tiny Stricker durchdringt in „U-Bahn-Reiter“ Münchens Oberfläche
München – „Je unübersichtlicher die Städte werden, umso wichtiger werden die Codes“, schreibt Tiny Stricker. „Wahre Erkennungszeichen sind sie aber nur dem Eingeweihten, für die anderen bloß sich häufende, kurz an die Oberfläche tretende, letztlich trügerische Details.“ Der Münchner Autor Tiny Stricker beobachtet solche Details genau. Und wer mit ihm durch die Stadt läuft oder vielmehr fährt, der nimmt sie anschließend vielleicht noch einmal anders wahr.
Im neuen Buch „U-Bahn-Reiter“ fährt man mit Tiny Stricker durch den Münchner Untergrund. Der 1949 geborene Autor, in den Siebzigerjahren bekannt geworden mit dem Buch „Trip Generation“, das seine Tramp-Reisen in den nahen Osten beschreibt, schweift – mit wenigen Ausnahmen – nicht mehr so weit in die Ferne. Zu erleben gibt es ja auch in den Tiefen Münchens genug. Wenn Stricker hinabsteigt, entdeckt er „eine Art Eleusis, einen Raum der Seele, die Stationen schon verwunschene, überwachsene Tempel“. In dieser Welt sieht er, wie sich Mädchen die Hände eincremen, „um noch leichter, geschmeidiger über ihr Smartphone wie über ein winziges Instrument gleiten zu können“. Er nimmt Gegensätze wahr im Verhalten der Passagiere, interpretiert Gespräche, Gesten und Codes von Deutschen und Migranten. All das mit dem freundlich teilnehmenden Blick eines durch viel Bildung und eigene Welterfahrung geschulten Flaneurs.
Schon die Einfahrt in die unterirdische Welt, mit schnell vorbeisausenden Lichtern und flackernden Stäben, erinnert den Autor „an den Wisch-Effekt in asiatischen Filmen“. Einmal drin in dieser anderen Welt, empfindet er die U-Bahn als „Schutzraum“, in dem man sich dem Fahren oder besser „selbstständigen Fließen“ überlässt, sich „getragen“ fühlt. Ähnlich geht es dem Leser dieser kurzen Texte, die den verschiedenen Erscheinungsformen unseres Lebens nachspüren und den Zeichen, die sich unter der Oberfläche der so selbstverständlich wirkenden Dinge und Handlungen des Alltags finden lassen: In Strickers unaufgeregten, dabei immer offen und neugierig wirkenden Texten taucht man mit ihm in einen ruhigen Fluss ein. Und folgt ihm auch, wenn er wieder auftaucht und andere Orte durchstreift, den Englischen Garten oder auch mal Salzburg, und wenn er das so beschreibt: „Ein Schwebezustand ist eingetreten, der die Zeit zu verlängern scheint.“
ANTJE WEBER
Tiny Stricker: U-Bahn-Reiter. Werkausgabe Tiny Stricker Band 11, Verlag P. Machinery 2020, 192 Seiten, Hardcover 21,90 Euro, Taschenbuch 13,90 Euro
LESENSWERT
Als Schutzräume empfindet der Schriftsteller Tiny Stricker die U-Bahn-Waggons, in denen er sich getragen fühlt im „selbstständigen Fließen“.
Foto: Florian Peljak
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