Zehn Jahre ist Matthias Nawrat durch die Literaturen und Landschaften des östlichen Europas gereist. Sein Weg führte vom polnischen Opole, von wo seine Familie in den 1980er-Jahren emigrierte, zur Danziger Werft als dem Ursprungsort der Solidarnosc-Revolution, von Tel Aviv zurück nach Berlin und weiter nach Timi_oara, Budapest, ins mazedonische Skopje, nach Minsk und bis hinter den Ural. Kurz: in die Zentren und an die Ränder des postkommunistischen Raums.
Ein Reisetagebuch, ein autobiografischer Essay, eine Lektüre, die neue Erkenntnisse bringen kann.
Ein Reisetagebuch, ein autobiografischer Essay, eine Lektüre, die neue Erkenntnisse bringen kann.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Lerke von Saalfeld lässt sich von Matthias Nawrat gerne auf eine Reise durch Mittel- und Osteuropa entführen. Der polnische Schriftsteller begegnet im Zeitraum von 2013 bis 2022 Menschen, deren Denken immer noch um den Zerfall der Sowjetunion kreist und die ganz eigene Ideen von Europa entwickelt haben, so Saalfeld. Dabei betont Nawrat, so die Kritikerin, "ohne jede Aufgeregtheit" die Unterschiedlichkeit der verschiedenen Lebensrealitäten in Ost und West, wirbt aber im gleichen Zug für ein besseres Verständnis beider Seiten. Der Kritikerin imponiert außerdem, dass sich Nawrat seiner privilegierten Stellung als vom Goethe-Institut bezahlter Autor, der zuweilen osteuropäische Talente ins westeuropäische Ausland lockt, bewusst ist und dies reflektiert. Doch das Buch plädiert für ein Europa, in dem sich die verschiedenen Seiten zuhören und dadurch besser verstehen können, schließt die glückliche Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Matthias Nawrat ist eine Ausnahmeerscheinung in der deutschsprachigen Literatur. Juliane Liebert Die Zeit 20240314
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.06.2024Ambivalenz eines Autors
Matthias Nawrats Tagebuchaufzeichnungen
Der aus Polen stammende Schriftsteller Matthias Nawrat, Jahrgang 1979, emigrierte als Zehnjähriger mit seiner Familie nach Bamberg. Inzwischen hat er fünf Romane und einen Gedichtband vorgelegt, hat Preise und Stipendien erhalten und ist doch immer ein stiller, nachdenklicher Beobachter der Zeitläufte geblieben - skeptisch gegenüber sich selbst, skeptisch gegenüber den politischen Aufgeregtheiten und Modethemen, skeptisch gegenüber dem literarischen Betrieb.
Nun hat er ein Tagebuch über die Jahre 2013 bis 2022 zusammengestellt, das den Leser und die Leserin bewusst in die Mitte und den Osten Europas führt, der von den "Westlern" so gerne aus dem Blickfeld verloren wird, weil sie eher auf sich selbst schauen. Nawrat will Neugier wecken für ein anderes Europa, das sich hinter dem einst Eisernen Vorhang öffnet. Hier kennt er sich aus, hier hat er seine Kindheitserfahrungen gesammelt, hier trifft er auf Menschen, die ihre eigenen Ideen von Europa entwickelt haben, jenseits ihrer autokratischen postkommunistischen Regime, und die kaum eine Stimme im Westen haben. Ihnen will er Gehör verschaffen, aber auch ihre besonderen Empfindlichkeiten verstehen lernen. Trotz seiner Vorprägung bewegt er sich auf vermintem Gelände, gerät in prekäre Diskussionsrunden zum Beispiel über die russische Annexion der Krim oder die Geschichte Polens als seit Jahrhunderten besetztes Gebiet.
Im Auftrag von Goethe-Instituten oder eingeladen zu literarischen Festivals reist er von Polen nach Tel Aviv, von Ljubljana, Warschau, Nowosibirsk, Timisoara, Budapest, Tjumen (eine westsibirische Stadt direkt hinter dem Ural) und Minsk bis nach Skopje. Auch Matthias Nawrats Geburtsort in Polen, Opole, liegt auf seiner Route, diesmal ganz privat.
"Es ist merkwürdig, dass meine westdeutschen Freunde kein Interesse für diesen Erfahrungsraum aufbringen, sondern sich eher an den US-amerikanischen Diskursen orientieren. Was die Erfahrung des Totalitarismus mit den Menschen gemacht hat und noch immer macht, können sie sich nicht vorstellen. In Form von korrupten Machtstrukturen und des Nomenklatura-Denkens, aber auch in der Beziehung zur Freiheit, die in der Bevölkerung Osteuropas eine andere ist als in den sogenannten westlichen Demokratien, hat sich der Totalitarismus in die Körper eingespeichert." Und im selben Zusammenhang betont der Autor bezüglich seiner osteuropäischen Gesprächspartner: "Diese Menschen sind gleich alt wie ich oder älter. In ihren Biografien hat sich, ganz selbstverständlich, die Erfahrung der kommunistischen Epoche eingespeichert. Für sie war diese Erfahrung alltäglich, und sie wirkt in ihnen weiter. Nun leben sie in einem neuen Rumänien, westliche Autos, Starbucks und die Filialen der Citibank prägen das heutige Stadtbild. Aber so wie in Polen, Russland und anderen postkommunistischen Ländern, auch in Ostdeutschland, beziehen sich alle, die ich treffe, selbst wenn sie es nicht aussprechen, auf diese Zeit, sie gehört zu ihrem Leben, selbst in den Biografien der Nachgeborenen."
In vielfältigen Gesprächssituationen veranschaulicht Nawrat dieses Lebensgefühl, das auch ihm mal vertraut, mal fremd ist. Ohne jede Aufgeregtheit bewegt sich der Autor in einem Dschungel neuer Eindrücke, die er behutsam beschreibt und die ihn zugleich immer wieder an seine eigene polnische Kindheit erinnern. Da braucht es keine Identitätsfindungen oder nationale Befindlichkeiten, "über allem ist ein weiter Himmel". Man muss nur hinschauen und hinhören.
Wohl ist dem Schriftsteller seine ambivalente Rolle klar, die er als Reisender des Goethe-Instituts einnimmt: Er verdient mit diesen Auftritten seine Brötchen, und er kann schöne Reisen machen. Die Teilnehmer seiner Kurse und Festivals lockt er ins reiche Westeuropa, die Herkunftsländer verlieren ihre "klügsten und aufgeklärtesten Köpfe". Nawrat nennt dies ungeschminkt "eine freundlich verkleidete Form von ökonomischem Imperialismus". Es gilt auf der Hut zu sein für den Westbesucher, man sollte sein eigenes Überheblichkeitsgefühl zähmen, ohne aber den kritischen Geist und das eigene Urteil außer Kraft setzen zu lassen. Europa ist zu kostbar, um es durch einfältiges Klischeedenken und nationale Vorurteile in Gefahr bringen zu lassen. Das ist die schlichte, aber eindringliche "Botschaft", die Matthias Nawrat überbringt. LERKE VON SAALFELD
Matthias Nawrat: "Über allem ein weiter Himmel". Nachrichten aus Europa.
Rowohlt Verlag,
Hamburg 2024.
224 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Matthias Nawrats Tagebuchaufzeichnungen
Der aus Polen stammende Schriftsteller Matthias Nawrat, Jahrgang 1979, emigrierte als Zehnjähriger mit seiner Familie nach Bamberg. Inzwischen hat er fünf Romane und einen Gedichtband vorgelegt, hat Preise und Stipendien erhalten und ist doch immer ein stiller, nachdenklicher Beobachter der Zeitläufte geblieben - skeptisch gegenüber sich selbst, skeptisch gegenüber den politischen Aufgeregtheiten und Modethemen, skeptisch gegenüber dem literarischen Betrieb.
Nun hat er ein Tagebuch über die Jahre 2013 bis 2022 zusammengestellt, das den Leser und die Leserin bewusst in die Mitte und den Osten Europas führt, der von den "Westlern" so gerne aus dem Blickfeld verloren wird, weil sie eher auf sich selbst schauen. Nawrat will Neugier wecken für ein anderes Europa, das sich hinter dem einst Eisernen Vorhang öffnet. Hier kennt er sich aus, hier hat er seine Kindheitserfahrungen gesammelt, hier trifft er auf Menschen, die ihre eigenen Ideen von Europa entwickelt haben, jenseits ihrer autokratischen postkommunistischen Regime, und die kaum eine Stimme im Westen haben. Ihnen will er Gehör verschaffen, aber auch ihre besonderen Empfindlichkeiten verstehen lernen. Trotz seiner Vorprägung bewegt er sich auf vermintem Gelände, gerät in prekäre Diskussionsrunden zum Beispiel über die russische Annexion der Krim oder die Geschichte Polens als seit Jahrhunderten besetztes Gebiet.
Im Auftrag von Goethe-Instituten oder eingeladen zu literarischen Festivals reist er von Polen nach Tel Aviv, von Ljubljana, Warschau, Nowosibirsk, Timisoara, Budapest, Tjumen (eine westsibirische Stadt direkt hinter dem Ural) und Minsk bis nach Skopje. Auch Matthias Nawrats Geburtsort in Polen, Opole, liegt auf seiner Route, diesmal ganz privat.
"Es ist merkwürdig, dass meine westdeutschen Freunde kein Interesse für diesen Erfahrungsraum aufbringen, sondern sich eher an den US-amerikanischen Diskursen orientieren. Was die Erfahrung des Totalitarismus mit den Menschen gemacht hat und noch immer macht, können sie sich nicht vorstellen. In Form von korrupten Machtstrukturen und des Nomenklatura-Denkens, aber auch in der Beziehung zur Freiheit, die in der Bevölkerung Osteuropas eine andere ist als in den sogenannten westlichen Demokratien, hat sich der Totalitarismus in die Körper eingespeichert." Und im selben Zusammenhang betont der Autor bezüglich seiner osteuropäischen Gesprächspartner: "Diese Menschen sind gleich alt wie ich oder älter. In ihren Biografien hat sich, ganz selbstverständlich, die Erfahrung der kommunistischen Epoche eingespeichert. Für sie war diese Erfahrung alltäglich, und sie wirkt in ihnen weiter. Nun leben sie in einem neuen Rumänien, westliche Autos, Starbucks und die Filialen der Citibank prägen das heutige Stadtbild. Aber so wie in Polen, Russland und anderen postkommunistischen Ländern, auch in Ostdeutschland, beziehen sich alle, die ich treffe, selbst wenn sie es nicht aussprechen, auf diese Zeit, sie gehört zu ihrem Leben, selbst in den Biografien der Nachgeborenen."
In vielfältigen Gesprächssituationen veranschaulicht Nawrat dieses Lebensgefühl, das auch ihm mal vertraut, mal fremd ist. Ohne jede Aufgeregtheit bewegt sich der Autor in einem Dschungel neuer Eindrücke, die er behutsam beschreibt und die ihn zugleich immer wieder an seine eigene polnische Kindheit erinnern. Da braucht es keine Identitätsfindungen oder nationale Befindlichkeiten, "über allem ist ein weiter Himmel". Man muss nur hinschauen und hinhören.
Wohl ist dem Schriftsteller seine ambivalente Rolle klar, die er als Reisender des Goethe-Instituts einnimmt: Er verdient mit diesen Auftritten seine Brötchen, und er kann schöne Reisen machen. Die Teilnehmer seiner Kurse und Festivals lockt er ins reiche Westeuropa, die Herkunftsländer verlieren ihre "klügsten und aufgeklärtesten Köpfe". Nawrat nennt dies ungeschminkt "eine freundlich verkleidete Form von ökonomischem Imperialismus". Es gilt auf der Hut zu sein für den Westbesucher, man sollte sein eigenes Überheblichkeitsgefühl zähmen, ohne aber den kritischen Geist und das eigene Urteil außer Kraft setzen zu lassen. Europa ist zu kostbar, um es durch einfältiges Klischeedenken und nationale Vorurteile in Gefahr bringen zu lassen. Das ist die schlichte, aber eindringliche "Botschaft", die Matthias Nawrat überbringt. LERKE VON SAALFELD
Matthias Nawrat: "Über allem ein weiter Himmel". Nachrichten aus Europa.
Rowohlt Verlag,
Hamburg 2024.
224 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.