»Man kann Bücher leider nur einmal zum ersten Mal lesen. Die großen Autoren entschädigen für diese traurige Einmaligkeit dadurch, daß ihre Bücher bei der zweiten und dritten Lektüre sich erst wirklich entfalten.« In zwölf Annäherungen aus höchst unterschiedlichen Richtungen erkundet Jan Philipp Reemtsma das Schmidtsche poetische Terrain. Dabei wird deutlich: Arno Schmidts Bücher sind voll Witz und Komik.
Reemtsmas Lektüreprotokolle bestätigen die These, wonach die Bedeutung eines Werkes daran gemessen werden kann, wie viele Verständnismöglichkeiten es eröffnet. Zugleich führen diese Essays vor: Diese Bedeutungsvielfalt, das Aufspüren überraschender Perspektiven und verborgener Zusammenhänge setzt einen Leser voraus, der sich genauestens an den Wortlaut der Texte hält und im selben Moment aufgrund seines Wissens eine Unzahl von Assoziationen freisetzt. Reemtsmas Freude während der Lektüre teilt sich in seinem Schreiben über Arno Schmidt mit: sie steckt zu eigenen Leseentdeckungen an.
Politik, Sexualität, poetische Sendung - so vielfältig die Möglichkeiten sind, sich dem Werk Arno Schmidts zu nähern, so eindeutig ist die Einladung, diesen Ausnahme-Autor neu oder wieder zu lesen.
»Was ist der Mensch? El hombre es un cigarro - am Ende bloß noch'n
ausgeknatschter ekler Stumpm, und etwas Asche. - Was iss das Lebm?
Die Auflehnung der Eiweiße gegen die Silikate.« Arno Schmidt
Reemtsmas Lektüreprotokolle bestätigen die These, wonach die Bedeutung eines Werkes daran gemessen werden kann, wie viele Verständnismöglichkeiten es eröffnet. Zugleich führen diese Essays vor: Diese Bedeutungsvielfalt, das Aufspüren überraschender Perspektiven und verborgener Zusammenhänge setzt einen Leser voraus, der sich genauestens an den Wortlaut der Texte hält und im selben Moment aufgrund seines Wissens eine Unzahl von Assoziationen freisetzt. Reemtsmas Freude während der Lektüre teilt sich in seinem Schreiben über Arno Schmidt mit: sie steckt zu eigenen Leseentdeckungen an.
Politik, Sexualität, poetische Sendung - so vielfältig die Möglichkeiten sind, sich dem Werk Arno Schmidts zu nähern, so eindeutig ist die Einladung, diesen Ausnahme-Autor neu oder wieder zu lesen.
»Was ist der Mensch? El hombre es un cigarro - am Ende bloß noch'n
ausgeknatschter ekler Stumpm, und etwas Asche. - Was iss das Lebm?
Die Auflehnung der Eiweiße gegen die Silikate.« Arno Schmidt
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.01.2007Komik, die entsetzt
Ganz ohne Duden: Jan Philipp Reemtsma liest Arno Schmidt
Arno Schmidt ist trotz der tapferen Bemühungen der Literaturkritik und der Arno-Schmidt-Stiftung, die auch die Ausstellung des Nachlasses im Schiller-Nationalmuseum im vergangenen Jahr ausgerichtet hat, der berühmteste kaum gelesene Schriftsteller der deutschen Nachkriegszeit geblieben. Daran konnten auch die einst erstaunlich zahlreichen Nachbeter nichts ändern. Im Gegenteil schreckten die Adepten des Bargfelder Unikums das Lesepublikum eher ab, denn bei ihnen verwandelte sich dessen eigensinnige Sprachartistik in einen Ton der Überheblichkeit, der Schmidts kalkulierte Anmaßung der Sprache gegenüber im Zerrspiegel des Enthusiasmus als geschwollenes Gerede erscheinen ließ. Die Entzifferung der Texte durch das "Dechiffriersyndikat" aber nahm spätestens mit "Zettels Traum" (1970) das Odium der Geheimwissenschaft an.
Jan Philipp Reemtsmas verdienstvolles Engagement für Schmidts Werk und damit die Bargfelder Ausgabe wäre beinahe von solch einem Schmidt-Fan in seiner Bekanntschaft verhindert worden: "Er schien mir weniger ein Leser als ein Götzenanbeter zu sein. Das war nichts für mich: Also, dachte ich, ist dieser Autor auch nichts für mich." Zum Glück kam es anders, und zum Glück ist Reemtsma kein Fan, sondern ein passionierter Leser im vollen Sinn des Wortes, nämlich einer, der seinen Autor liebt und achtet, aber auch die Mühe und das periodische Leiden am Text kennt. Und er ist ein Literaturwissenschaftler, der Wert darauf legt, von Lesern verstanden zu werden, ohne dass diese ein Lexikon benutzen müssen (was beim Lesen der Texte Schmidts nicht selten vorkommt).
Neben vielen Gründen, warum Schmidt gelesen werden sollte (und auch ohne umfangreiches Expertenwissen gelesen werden kann), zeigt Reemtsma in der vorliegenden Sammlung von Aufsätzen und Lektüreprotokollen ebenso viele Gründe auf, warum er längst hätte gelesen werden müssen. So gab es 2002 eine Diskussion über das angeblich von der deutschen Literatur vernachlässigte Thema der Vertreibung der Deutschen nach 1945. Arno Schmidts Bücher aber wurden in dem Zusammenhang nicht erwähnt - mit einer Ausnahme (F.A.Z. vom 13. Februar 2002) -, obwohl er in den fünfziger Jahren mit "Leviathan oder Die beste aller Welten" und "Die Umsiedler" der Erste war, der die Erfahrung von Krieg und Vertreibung literarisch bewältigte. Das liegt nach Reemtsma vor allem daran, dass Schmidts Behandlung des Themas sich zur politischen Instrumentalisierung nicht eignet.
Schon in "Brand's Haide", dem im Jahr 1946 spielenden Heimkehrerroman, 1950 verfasst, zeigt sich, dass Schmidt die Komplexe Krieg und Vertreibung, im Gegensatz zur pathetischen Weinerlichkeit von Wolfgang Borcherts "Draußen vor der Tür" (1947) wie auch in auffälliger Distanz zur Selbstgerechtigkeit der nicht gänzlich entnazifizierten Gruppe 47, in einer ganz neuen Form der Wirklichkeitsverarbeitung distanziert, unlarmoyant, frei von nationalistischen Tönen und Phantomschmerzen und sogar auf eine subversive Weise witzig darstellt. Mit seiner Transformationstechnik, durch die sich die Schilderung des Entsetzlichen in die Bilder bis hinein in die Mikrostruktur des Textes gleichsam einfrisst, erreiche aber Schmidt ein Ältestes, das von je für das "stellvertretende literarische Bewältigen historischer Katastrophen dort, wo es gelingt, charakteristisch ist. Ich meine die Transformation des Entsetzens in Komik. Ich meine Literatur, die uns lachen machen kann, ohne vom Entsetzlichen auch nur eine Spur wegzuleugnen."
Allerdings beabsichtigt Reemtsma nicht, Schmidt als einen politischen Denker mit einer ausgearbeiteten "Deutschland-Konzeption" darzustellen, dessen Programm ein primär ästhetisches jenseits des Nationalen ist. Neben Schmidts Fähigkeiten der komischen Darstellung hebt der Interpret vor allem die spezifische poetische Technik hervor, wie sie in "Zettels Traum" kulminiert. Sie erreiche durch Freigabe der Orthographie und der Bindung an nur eine Sprache "ein Vielfaches an Sinn (und Unsinn)" und damit eine ganz eigene Schönheit der Darstellung, eine Visualität und zugleich "eine Klanglichkeit, die das Beschriebene, man könnte sagen: unter sich lässt".
In den besten Passagen von Schmidts Werken kommen die Paradoxa von Tradition und Avantgarde zur Ruhe, legt sich das Zwanghafte, das bei Schmidt auch der liebende Leser nicht übersehen kann, wird die Anstrengung der poetischen Sendung "reine Poesie". So in der Übersetzung der Poe-Gedichte in "Zettels Traum": "Komm, Isabel, setz Dich zu mir, / wo just der Mondstrahl, Liebste, hier / hinfiel, so feengleich & zier. / Du hast, im Paradiesgewand, / durch Dein Geäug' mich stern=gebannt, / und seufzst - ich lausch', Dein Seel=Vagant." Reemtsma will, in ausführlichem Zitat und sparsamer Deutung und abschließend auch durch ein kleines Schmidt-Potpourri, vor allem Lust am Text wecken.
Die Redlichkeit und Verlässlichkeit seiner Leseempfehlungen zeigt sich aber auch in zahlreichen Hinweisen auf Fremdartiges, Übersteigertes oder schlicht Misslungenes. Bei Arno Schmidts repetitiver Darstellung von Sexualität und Erotik zum Beispiel werde der Leser wohl häufig nicht recht froh. Für solche Fälle sei eine Maxime aus den "Abenteuern der Sylvesternacht" zu beherzigen: "Wenn sich etwas derart sperrt, das soll man achten - oder ehren? - nee, ehren nicht, aber achten."
FRIEDMAR APEL
Jan Philipp Reemtsma: "Über Arno Schmidt". Vermessungen eines poetischen Terrains. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 294 S., geb., 22,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ganz ohne Duden: Jan Philipp Reemtsma liest Arno Schmidt
Arno Schmidt ist trotz der tapferen Bemühungen der Literaturkritik und der Arno-Schmidt-Stiftung, die auch die Ausstellung des Nachlasses im Schiller-Nationalmuseum im vergangenen Jahr ausgerichtet hat, der berühmteste kaum gelesene Schriftsteller der deutschen Nachkriegszeit geblieben. Daran konnten auch die einst erstaunlich zahlreichen Nachbeter nichts ändern. Im Gegenteil schreckten die Adepten des Bargfelder Unikums das Lesepublikum eher ab, denn bei ihnen verwandelte sich dessen eigensinnige Sprachartistik in einen Ton der Überheblichkeit, der Schmidts kalkulierte Anmaßung der Sprache gegenüber im Zerrspiegel des Enthusiasmus als geschwollenes Gerede erscheinen ließ. Die Entzifferung der Texte durch das "Dechiffriersyndikat" aber nahm spätestens mit "Zettels Traum" (1970) das Odium der Geheimwissenschaft an.
Jan Philipp Reemtsmas verdienstvolles Engagement für Schmidts Werk und damit die Bargfelder Ausgabe wäre beinahe von solch einem Schmidt-Fan in seiner Bekanntschaft verhindert worden: "Er schien mir weniger ein Leser als ein Götzenanbeter zu sein. Das war nichts für mich: Also, dachte ich, ist dieser Autor auch nichts für mich." Zum Glück kam es anders, und zum Glück ist Reemtsma kein Fan, sondern ein passionierter Leser im vollen Sinn des Wortes, nämlich einer, der seinen Autor liebt und achtet, aber auch die Mühe und das periodische Leiden am Text kennt. Und er ist ein Literaturwissenschaftler, der Wert darauf legt, von Lesern verstanden zu werden, ohne dass diese ein Lexikon benutzen müssen (was beim Lesen der Texte Schmidts nicht selten vorkommt).
Neben vielen Gründen, warum Schmidt gelesen werden sollte (und auch ohne umfangreiches Expertenwissen gelesen werden kann), zeigt Reemtsma in der vorliegenden Sammlung von Aufsätzen und Lektüreprotokollen ebenso viele Gründe auf, warum er längst hätte gelesen werden müssen. So gab es 2002 eine Diskussion über das angeblich von der deutschen Literatur vernachlässigte Thema der Vertreibung der Deutschen nach 1945. Arno Schmidts Bücher aber wurden in dem Zusammenhang nicht erwähnt - mit einer Ausnahme (F.A.Z. vom 13. Februar 2002) -, obwohl er in den fünfziger Jahren mit "Leviathan oder Die beste aller Welten" und "Die Umsiedler" der Erste war, der die Erfahrung von Krieg und Vertreibung literarisch bewältigte. Das liegt nach Reemtsma vor allem daran, dass Schmidts Behandlung des Themas sich zur politischen Instrumentalisierung nicht eignet.
Schon in "Brand's Haide", dem im Jahr 1946 spielenden Heimkehrerroman, 1950 verfasst, zeigt sich, dass Schmidt die Komplexe Krieg und Vertreibung, im Gegensatz zur pathetischen Weinerlichkeit von Wolfgang Borcherts "Draußen vor der Tür" (1947) wie auch in auffälliger Distanz zur Selbstgerechtigkeit der nicht gänzlich entnazifizierten Gruppe 47, in einer ganz neuen Form der Wirklichkeitsverarbeitung distanziert, unlarmoyant, frei von nationalistischen Tönen und Phantomschmerzen und sogar auf eine subversive Weise witzig darstellt. Mit seiner Transformationstechnik, durch die sich die Schilderung des Entsetzlichen in die Bilder bis hinein in die Mikrostruktur des Textes gleichsam einfrisst, erreiche aber Schmidt ein Ältestes, das von je für das "stellvertretende literarische Bewältigen historischer Katastrophen dort, wo es gelingt, charakteristisch ist. Ich meine die Transformation des Entsetzens in Komik. Ich meine Literatur, die uns lachen machen kann, ohne vom Entsetzlichen auch nur eine Spur wegzuleugnen."
Allerdings beabsichtigt Reemtsma nicht, Schmidt als einen politischen Denker mit einer ausgearbeiteten "Deutschland-Konzeption" darzustellen, dessen Programm ein primär ästhetisches jenseits des Nationalen ist. Neben Schmidts Fähigkeiten der komischen Darstellung hebt der Interpret vor allem die spezifische poetische Technik hervor, wie sie in "Zettels Traum" kulminiert. Sie erreiche durch Freigabe der Orthographie und der Bindung an nur eine Sprache "ein Vielfaches an Sinn (und Unsinn)" und damit eine ganz eigene Schönheit der Darstellung, eine Visualität und zugleich "eine Klanglichkeit, die das Beschriebene, man könnte sagen: unter sich lässt".
In den besten Passagen von Schmidts Werken kommen die Paradoxa von Tradition und Avantgarde zur Ruhe, legt sich das Zwanghafte, das bei Schmidt auch der liebende Leser nicht übersehen kann, wird die Anstrengung der poetischen Sendung "reine Poesie". So in der Übersetzung der Poe-Gedichte in "Zettels Traum": "Komm, Isabel, setz Dich zu mir, / wo just der Mondstrahl, Liebste, hier / hinfiel, so feengleich & zier. / Du hast, im Paradiesgewand, / durch Dein Geäug' mich stern=gebannt, / und seufzst - ich lausch', Dein Seel=Vagant." Reemtsma will, in ausführlichem Zitat und sparsamer Deutung und abschließend auch durch ein kleines Schmidt-Potpourri, vor allem Lust am Text wecken.
Die Redlichkeit und Verlässlichkeit seiner Leseempfehlungen zeigt sich aber auch in zahlreichen Hinweisen auf Fremdartiges, Übersteigertes oder schlicht Misslungenes. Bei Arno Schmidts repetitiver Darstellung von Sexualität und Erotik zum Beispiel werde der Leser wohl häufig nicht recht froh. Für solche Fälle sei eine Maxime aus den "Abenteuern der Sylvesternacht" zu beherzigen: "Wenn sich etwas derart sperrt, das soll man achten - oder ehren? - nee, ehren nicht, aber achten."
FRIEDMAR APEL
Jan Philipp Reemtsma: "Über Arno Schmidt". Vermessungen eines poetischen Terrains. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 294 S., geb., 22,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Respekteinflößend findet Georg Klein die Reflexionen Jan Philipp Reemtsmas über Arno Schmidt. Dabei gefällt Klein besonders, dass Reemtsma Schmidt eben nicht bejubelt, sondern mit "intimer Gestimmtheit" die Größe Schmidts betont, ohne in "falsches Großtönen" abzugleiten. Reemtsma hält Distanz, auch seine Urteile werden nie zu "Verurteilungen", was Klein als sehr angenehm empfindet, ebenso wie die "offene" Methode des Autors, die Reflexionen mit Exkursen, Andeutungen und Nebenbemerkungen zu kombinieren. Dass Reemtsma den Briefwechsel zwischen Schmidt und seinem Verleger nahezu "kommentarlos" dokumentiert, um dann im Aufsatz zu den erotischen Stellen der Schmidtschen Erzählung "Die Abenteuer der Sylvester-Nacht" zu einer "lustvollen Balance" aus Zitat und Reflexion zu kommen, führt der beeindruckte Rezensent als Beispiel für die Könnerschaft Reemtsmas an.
© Perlentaucher Medien GmbH
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