Harvey Cheyne ist der Erbe eines Millionenvermögens. Eines Tages fällt er von Bord eines Passagierdampfers und damit aus der verwöhnten Welt der Privilegierten in den rauen Kampf ums Dasein an Bord der We're Here, eines Kabeljaufischers vor Neufundland. Wie Mowgli aus dem Dschungelbuch muss sich Kiplings unvergesslicher Held auf eine neue Umgebung einstellen - allerdings quasi über Nacht.1907 erhielt Rudyard Kipling als erster englischsprachiger Autor den Nobelpreis für Literatur. In dem zehn Jahre zuvor entstandenen Roman Über Bord verarbeitet Kipling seine persönlichen Erfahrungen in den USA und seine zwingende Vorahnung, dass das kommende Jahrhundert ein amerikanisches sein würde. Der deutsche Schriftsteller Gisbert Haefs präsentiert in der marebibliothek Kipling und seinen Roman Über Bord als wichtigen Teil der Weltliteratur - schon Ezra Pound, James Joyce, Bertolt Brecht und Jorge Luis Borges haben sich vehement für diesen Autor engagiert. In englischen Zitatenlexika ist Kipling nach Shakespeare und der Bibel der Autor mit den meisten Einträgen. Haefs' Neu-übersetzung und ausführlicher Eingangsessay enthält eine biographische und literarische Würdigung Kiplings, die das sträfliche Vorurteil von Kipling als hässlichem Imperialisten und harmlosem Kinderbuchautor glänzend widerlegt.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.11.2007Mein Sohn, der fährt zur See
Rudyard Kipling zeigt, was Bildung ist / Von Jürgen Kaube
Der Held soll eine Entwicklung durchmachen? Das kann er haben: Man setze ihn einfach auf ein Schiff, stecke ihm eine Zigarre ins Gesicht, die er nicht verträgt, er muss raus aufs Deck, eine Welle schnappt ihn sich, schon treibt der Held, das verzogene Jüngelchen, auf dem Meer, wird von dem Schoner "We're Here", der auf Fischfang ist, aufgegabelt - und der Bildungsroman beginnt.
Sechs Seiten braucht Rudyard Kipling für all das. Es ist diese Ökonomie umstandsloser Sachlichkeit, die "Über Bord", das im 1897 erschienenen Original "Captains Courageous" heißt, zu einem großen Lesevergnügen macht. Wie die besten Kinofilme, aus denen wir solche Anfänge kennen, verschwendet Kipling die Zeit seines Publikums nicht. Er schreibt für Leute, die noch etwas anderes zu tun haben und wissen wollen, worum es geht, die beim Lesen etwas lernen wollen, Dinge erfahren, die sie nicht schon kennen.
Hier läuft Bildung - es ist die des amerikanischen Millionärssöhnchens Harvey Cheyne - nicht auf den ewigen, bis zum Überdruss variierten Dreiklang Liebe - Kunst - Tourismus hinaus, wie er besonders die deutsche Romantradition bestimmt. Der Held ist auch kein Intellektueller mit schöner Innenwelt, die sich entfalten muss, sondern ein ziemlich unsympathischer Angeber, der zu Verstand gebracht wird. Durch Arbeit, Gefahrenbewusstsein und den Kontakt mit Leuten, die unkompliziert sind, weil sie sich etwas anderes gar nicht leisten können.
Cheyne, dessen Vater Eisenbahnen, Bergwerke und Wälder gehören, kommt von dem Schiff, das ihn gerettet hat, so schnell nicht wieder herunter. Denn weder kann es einen Hafen anlaufen, noch glauben ihm die Seeleute ein Wort von seinen Beteuerungen, er sei aus reichem Hause und bekomme im Monat mehr Taschengeld als sie Salär im Jahr. Also wird er zum Fischer, gewöhnt sich an niedrige Tätigkeiten und an die Gefahren bei der Jagd auf Kabeljau.
Bildung heißt hier: lernen, wie man in ein Beiboot steigt; dass man nichts mit nackter Hand anfassen soll außer den Fisch; lernen, wozu all die Geräte an Bord da sind. An einer Stelle heißt es, es lohne nicht, sich über Dinge aufzuregen, man sei selbst schuld, wisse man nicht mit ihnen umzugehen. Dazu gehört auch eine sprachliche Erziehung. Alles auf See hat einen eigenen Namen; nach hundert Seiten bestehen ganze Absätze fast nur noch aus Begriffen, die man an Land noch nie gehört hat: "hart nieder", "hart nach Lee", "alles wegfieren", "Klüver bergen", "staken!" - der Übersetzer Gisbert Haefs hat ganze, ganz große Arbeit geleistet, und er hat darüber hinaus auch den Band, der ursprünglich einmal im untergegangenen Haffmans-Verlag erschienen war und jetzt überarbeitet wieder vorliegt, noch mit Anmerkungen und einem guten Nachwort versehen, das für Kipling als einen der interessantesten britischen Schriftsteller überhaupt eine Lanze bricht.
Aber, so könnte man einwenden, kann es sich hier denn wirklich um einen Bildungsroman handeln? Was kann man denn mit all dem Zeug, das Cheney an Bord und von der exzentrischen, voller Geschichten steckenden Truppe lernt, die mit ihm unterwegs ist, was kann man damit denn an Land anfangen? Heißt Bildung nicht: lernen für ungleiche Situationen? Diese Frage stellt sich umso dringlicher, als Kipling sich von jeder metaphysischen Ausdeutung der Seefahrt fernhält; er heißt ja nicht Melville, es geht hier um Heilbutt und Schellfisch, nicht um den großen Wal. Der zweite Teil des Romans gibt, wenn alle Fische gefangen und gepökelt und verkauft sind, darauf die Antwort. Dieser Teil beginnt mit einem Eisenbahnstreik und mit Harvey Cheney senior, dessen Frau verheult und halbverrückt über den vermeintlichen Seetod ihres einzigen Sohnes in den Kissen liegt und der selber die Lust am Kapitalismus verloren hat. Diesmal braucht Kipling nur drei Seiten und ein Telegramm vom Sohn - und schon macht das Organisieren dem Alten wieder Spaß. Ganz kann die Eisenbahnwelt mit der auf See zwar nicht mithalten, aber auch hier hat sich Kipling sachkundig gemacht, und wir erfahren, wie man um 1900 von einer Ecke Amerikas am schnellsten in die andere kommen konnte, sofern man Multimillionär und Linienbesitzer war. Wenn die Familie am Ende zusammengeführt ist und die Matrosen mit offenem Mund bestaunen, worüber sie der Junge doch nicht belogen hatte, besteht am Bildungselement der Sozialisation auf See gar kein Zweifel mehr: Es ist die Ernsthaftigkeit, die dort erworben wurde, der Blick für Schwierigkeiten, die sich durch Arbeit überwinden lassen. Alexis de Tocqueville hat ganz früh schon die Schifffahrt als eine typisch amerikanische Lebenssphäre bezeichnet, und Hegels Wort, das Meer sei "überhaupt das Naturelement der Industrie, zu dem die bürgerliche Gesellschaft in ihrer Ausbildung hinstreben muss", könnte geradezu das Motto dieses Romans sein. Es ist die Poesie des industriellen Lebens und der Charaktere, die sich ihm ganz hingeben, die hier behauptet wird. Nicht ästhetisch, sondern über eine Karriere wird hier Individualität beschrieben. Wenn wir davon doch nur mehr in der deutschen Literatur hätten.
"Männer", lässt Kipling seinen amerikanischen Tycoon an einer Stelle markig erklären, "können fast immer riechen, ob ein Mann selbst etwas auf die Beine gestellt hat, und dann behandeln sie ihn als ihresgleichen." Es ist aber nicht das Selbstlob des selfmade-man, mit dem ein Buch endet, für das Kipling damals, dreißigjährig und schon hochberühmt, ein unglaublich hohes Honorar erhalten hatte. Denn der selfmade-man Cheney Senior rät seinem Junior zum College und zur Universität Stanford, weil er selber mit einem, der erzogen worden sei und nicht alles nur unterwegs aufgesammelt habe, am Ende doch nicht mithalten könne. Damit ist die Umkehr des Bildungsromans komplett: Der Held wird erst erwachsen und geht dann auf die höhere Schule. Es spricht sehr viel für diese Reihenfolge.
Rudyard Kipling: "Über Bord". Roman. Herausgegeben und aus dem Englischen übersetzt von Gisbert Haefs (Mare Bibliothek Band 33). Marebuchverlag, Hamburg 2007. 287 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Rudyard Kipling zeigt, was Bildung ist / Von Jürgen Kaube
Der Held soll eine Entwicklung durchmachen? Das kann er haben: Man setze ihn einfach auf ein Schiff, stecke ihm eine Zigarre ins Gesicht, die er nicht verträgt, er muss raus aufs Deck, eine Welle schnappt ihn sich, schon treibt der Held, das verzogene Jüngelchen, auf dem Meer, wird von dem Schoner "We're Here", der auf Fischfang ist, aufgegabelt - und der Bildungsroman beginnt.
Sechs Seiten braucht Rudyard Kipling für all das. Es ist diese Ökonomie umstandsloser Sachlichkeit, die "Über Bord", das im 1897 erschienenen Original "Captains Courageous" heißt, zu einem großen Lesevergnügen macht. Wie die besten Kinofilme, aus denen wir solche Anfänge kennen, verschwendet Kipling die Zeit seines Publikums nicht. Er schreibt für Leute, die noch etwas anderes zu tun haben und wissen wollen, worum es geht, die beim Lesen etwas lernen wollen, Dinge erfahren, die sie nicht schon kennen.
Hier läuft Bildung - es ist die des amerikanischen Millionärssöhnchens Harvey Cheyne - nicht auf den ewigen, bis zum Überdruss variierten Dreiklang Liebe - Kunst - Tourismus hinaus, wie er besonders die deutsche Romantradition bestimmt. Der Held ist auch kein Intellektueller mit schöner Innenwelt, die sich entfalten muss, sondern ein ziemlich unsympathischer Angeber, der zu Verstand gebracht wird. Durch Arbeit, Gefahrenbewusstsein und den Kontakt mit Leuten, die unkompliziert sind, weil sie sich etwas anderes gar nicht leisten können.
Cheyne, dessen Vater Eisenbahnen, Bergwerke und Wälder gehören, kommt von dem Schiff, das ihn gerettet hat, so schnell nicht wieder herunter. Denn weder kann es einen Hafen anlaufen, noch glauben ihm die Seeleute ein Wort von seinen Beteuerungen, er sei aus reichem Hause und bekomme im Monat mehr Taschengeld als sie Salär im Jahr. Also wird er zum Fischer, gewöhnt sich an niedrige Tätigkeiten und an die Gefahren bei der Jagd auf Kabeljau.
Bildung heißt hier: lernen, wie man in ein Beiboot steigt; dass man nichts mit nackter Hand anfassen soll außer den Fisch; lernen, wozu all die Geräte an Bord da sind. An einer Stelle heißt es, es lohne nicht, sich über Dinge aufzuregen, man sei selbst schuld, wisse man nicht mit ihnen umzugehen. Dazu gehört auch eine sprachliche Erziehung. Alles auf See hat einen eigenen Namen; nach hundert Seiten bestehen ganze Absätze fast nur noch aus Begriffen, die man an Land noch nie gehört hat: "hart nieder", "hart nach Lee", "alles wegfieren", "Klüver bergen", "staken!" - der Übersetzer Gisbert Haefs hat ganze, ganz große Arbeit geleistet, und er hat darüber hinaus auch den Band, der ursprünglich einmal im untergegangenen Haffmans-Verlag erschienen war und jetzt überarbeitet wieder vorliegt, noch mit Anmerkungen und einem guten Nachwort versehen, das für Kipling als einen der interessantesten britischen Schriftsteller überhaupt eine Lanze bricht.
Aber, so könnte man einwenden, kann es sich hier denn wirklich um einen Bildungsroman handeln? Was kann man denn mit all dem Zeug, das Cheney an Bord und von der exzentrischen, voller Geschichten steckenden Truppe lernt, die mit ihm unterwegs ist, was kann man damit denn an Land anfangen? Heißt Bildung nicht: lernen für ungleiche Situationen? Diese Frage stellt sich umso dringlicher, als Kipling sich von jeder metaphysischen Ausdeutung der Seefahrt fernhält; er heißt ja nicht Melville, es geht hier um Heilbutt und Schellfisch, nicht um den großen Wal. Der zweite Teil des Romans gibt, wenn alle Fische gefangen und gepökelt und verkauft sind, darauf die Antwort. Dieser Teil beginnt mit einem Eisenbahnstreik und mit Harvey Cheney senior, dessen Frau verheult und halbverrückt über den vermeintlichen Seetod ihres einzigen Sohnes in den Kissen liegt und der selber die Lust am Kapitalismus verloren hat. Diesmal braucht Kipling nur drei Seiten und ein Telegramm vom Sohn - und schon macht das Organisieren dem Alten wieder Spaß. Ganz kann die Eisenbahnwelt mit der auf See zwar nicht mithalten, aber auch hier hat sich Kipling sachkundig gemacht, und wir erfahren, wie man um 1900 von einer Ecke Amerikas am schnellsten in die andere kommen konnte, sofern man Multimillionär und Linienbesitzer war. Wenn die Familie am Ende zusammengeführt ist und die Matrosen mit offenem Mund bestaunen, worüber sie der Junge doch nicht belogen hatte, besteht am Bildungselement der Sozialisation auf See gar kein Zweifel mehr: Es ist die Ernsthaftigkeit, die dort erworben wurde, der Blick für Schwierigkeiten, die sich durch Arbeit überwinden lassen. Alexis de Tocqueville hat ganz früh schon die Schifffahrt als eine typisch amerikanische Lebenssphäre bezeichnet, und Hegels Wort, das Meer sei "überhaupt das Naturelement der Industrie, zu dem die bürgerliche Gesellschaft in ihrer Ausbildung hinstreben muss", könnte geradezu das Motto dieses Romans sein. Es ist die Poesie des industriellen Lebens und der Charaktere, die sich ihm ganz hingeben, die hier behauptet wird. Nicht ästhetisch, sondern über eine Karriere wird hier Individualität beschrieben. Wenn wir davon doch nur mehr in der deutschen Literatur hätten.
"Männer", lässt Kipling seinen amerikanischen Tycoon an einer Stelle markig erklären, "können fast immer riechen, ob ein Mann selbst etwas auf die Beine gestellt hat, und dann behandeln sie ihn als ihresgleichen." Es ist aber nicht das Selbstlob des selfmade-man, mit dem ein Buch endet, für das Kipling damals, dreißigjährig und schon hochberühmt, ein unglaublich hohes Honorar erhalten hatte. Denn der selfmade-man Cheney Senior rät seinem Junior zum College und zur Universität Stanford, weil er selber mit einem, der erzogen worden sei und nicht alles nur unterwegs aufgesammelt habe, am Ende doch nicht mithalten könne. Damit ist die Umkehr des Bildungsromans komplett: Der Held wird erst erwachsen und geht dann auf die höhere Schule. Es spricht sehr viel für diese Reihenfolge.
Rudyard Kipling: "Über Bord". Roman. Herausgegeben und aus dem Englischen übersetzt von Gisbert Haefs (Mare Bibliothek Band 33). Marebuchverlag, Hamburg 2007. 287 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Jürgen Kaube gefällt Rudyard Kiplings Verständnis eines Bildungsromans. Ein junger, angeberischer Millionärssohn lernt auf einem Kabeljau-Kutter, auf dem er unfreiwillig einige Zeit verbringen muss, die wichtigen Dinge des Lebens. Über die Profession - des Fischers - kommt hier also einer zu sich selbst. Kaube würde das in der deutschen Literatur gerne öfter sehen, deren Variante der Bildungsromane für ihn immer nach dem gleichen Muster gestrickt sind: "Liebe - Kunst - Tourismus". Was den Rezensenten außerdem für Kipling einnimmt, ist dessen effizienter Schreibstil, schon nach sechs Seiten ist der Junge auf dem Kutter gelandet und es kann losgehen. Ein dickes Lob geht schließlich an Gisbert Haefs, der besonders bei den ganzen Seemannsbegriffen seinen Mann als Übersetzer steht.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH