Zahlreiche Reisen haben den niederländischen Schriftsteller Cees Nooteboom (geb. 1933) über viele Jahre immer wieder nach Japan geführt, ein Land, das ihn mit seinem Gegensatz zwischen grellem und hektischem modernem Konsumleben und der stillen Abgeschiedenheit der buddhistischen Tempelwelten fasziniert. Der Tempel Kozan-ji, sein aktuelles Ziel, liegt im Norden von Kyoto, gehört zum UNESCO-Weltkulturerbe und beherbergt unter anderem die dort entstandenen Bildrollen Choju-jinbutsu-giga mit den "lustigen Tieren" aus dem frühen 13. Jahrhundert. Die Darstellungen von Kröten, Fröschen, Affen und weiteren Tieren, die mit menschlichen Zügen ausgestattet sind, stammen von verschiedenen Künstlern. Sie zeigen auf bis zu elf Metern Länge in von rechts nach links zu lesenden Bildergeschichten die Tiere beim Baden, bei der Anbetung Buddhas, bei einem Begräbnis oder beim Ringkampf und gelten als die wohl ersten Comicfiguren in der Weltgeschichte der Literatur bzw. als Vorläufer des japanischenAnimationsfilms.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.05.2021Mönche, die in Bäumen sitzen
Der Literat und Japan-Liebhaber Cees Nooteboom erzählt in seinem skizzenhaften, selbst an komprimierte japanische Erzählformen erinnernden Bändchen von einer Tempelerwanderung des in Weltabgeschiedenheit im Norden Kyotos gelegenen Kozan-ji. Unternommen hat er die Tour im Jahr 2005. Atmosphärisch-naturnahe und detailverliebte Fotografien seiner Frau Simone Sassen evozieren den Reiz der Annäherung mittels vermooster Steintreppen und später der Erfüllung durch die im Tempel angetroffenen, zu Japans Nationalschätzen zählenden Kunstwerke. In luziden Bewusstseinsströmen sinniert Nooteboom auf der Tempelveranda über ein Land, das in puncto Verfeinerung und Vulgarität zu Extremen neigt, dem Gegenteil gegenüber offen ist, über Heidegger und das Göttliche, der Hingabe dem Unbekannten als Wesen der Reise und die anwesende Abwesenheit des Meditierenden. Die raffinierten Prosa-Miniaturen sind selbst Sinnrätsel, wenn er die Lehre der Leere im "wirklichen Wind" spürt. Das im Tempel aufbewahrte Bild des in einem Baum sitzenden Mönchs Myoe aus dem dreizehnten Jahrhundert, das den Zazen praktizierenden Tempelgründer zeigt, inspiriert ihn zu einem Gedicht über das Ewige und Ephemere. Mehr als Mystifizierungstendenzen überzeugen Nootebooms spielerisch-kulturvergleichende Kunstexegesen. Vor allem die Manga-artigen "Bildrollen der Lustigen Tiere", wohl Karikaturen klerikaler Würdenträger, betören ihn. Die im zwölften Jahrhundert entstandene erste von vier Bildrollen ist im Buch komplett abgebildet: anthropomorphe, raufende, raubende bogenschießende Affen, Frösche, Kaninchen. Sie rufen uns, deren mittelalterliche Heilige "niemals so ekstatisch lachen", in ihrer "Orgie der Befreiung" den zeitlosen Appell zu, sich von illusorischen Zwängen der uns auferlegten Welt "tanzend und kämpfend" zu befreien und sie als Trugbild zu begreifen.
sg
"Über das japanische Kloster Kozan-ji und die berühmten Tierzeichnungen der Choju-Giga" von Cees Nooteboom. Schirmer/Mosel Verlag, München 2020. 86 Seiten. Mit 25 Fotografien von Simone Sassen und achtzehn farbigen Zeichnungen. Gebunden, 22 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Literat und Japan-Liebhaber Cees Nooteboom erzählt in seinem skizzenhaften, selbst an komprimierte japanische Erzählformen erinnernden Bändchen von einer Tempelerwanderung des in Weltabgeschiedenheit im Norden Kyotos gelegenen Kozan-ji. Unternommen hat er die Tour im Jahr 2005. Atmosphärisch-naturnahe und detailverliebte Fotografien seiner Frau Simone Sassen evozieren den Reiz der Annäherung mittels vermooster Steintreppen und später der Erfüllung durch die im Tempel angetroffenen, zu Japans Nationalschätzen zählenden Kunstwerke. In luziden Bewusstseinsströmen sinniert Nooteboom auf der Tempelveranda über ein Land, das in puncto Verfeinerung und Vulgarität zu Extremen neigt, dem Gegenteil gegenüber offen ist, über Heidegger und das Göttliche, der Hingabe dem Unbekannten als Wesen der Reise und die anwesende Abwesenheit des Meditierenden. Die raffinierten Prosa-Miniaturen sind selbst Sinnrätsel, wenn er die Lehre der Leere im "wirklichen Wind" spürt. Das im Tempel aufbewahrte Bild des in einem Baum sitzenden Mönchs Myoe aus dem dreizehnten Jahrhundert, das den Zazen praktizierenden Tempelgründer zeigt, inspiriert ihn zu einem Gedicht über das Ewige und Ephemere. Mehr als Mystifizierungstendenzen überzeugen Nootebooms spielerisch-kulturvergleichende Kunstexegesen. Vor allem die Manga-artigen "Bildrollen der Lustigen Tiere", wohl Karikaturen klerikaler Würdenträger, betören ihn. Die im zwölften Jahrhundert entstandene erste von vier Bildrollen ist im Buch komplett abgebildet: anthropomorphe, raufende, raubende bogenschießende Affen, Frösche, Kaninchen. Sie rufen uns, deren mittelalterliche Heilige "niemals so ekstatisch lachen", in ihrer "Orgie der Befreiung" den zeitlosen Appell zu, sich von illusorischen Zwängen der uns auferlegten Welt "tanzend und kämpfend" zu befreien und sie als Trugbild zu begreifen.
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"Über das japanische Kloster Kozan-ji und die berühmten Tierzeichnungen der Choju-Giga" von Cees Nooteboom. Schirmer/Mosel Verlag, München 2020. 86 Seiten. Mit 25 Fotografien von Simone Sassen und achtzehn farbigen Zeichnungen. Gebunden, 22 Euro.
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