Voll lakonischem Humor und bitterer Wahrheit handeln diese Vorlesungen und Berichte, Erzählungen und Dialoge von möglichen und unmöglichen tierlichen Begebenheiten - etwa von einem Tiger im Keller eines Kiewer Cafés, vom Absturz eines Hasen im Kaukasus oder vom Zusammenleben unzähliger Hunde und Katzen in einer winzigen Wohnung -, sodass die Grenzen zwischen Mensch und Tier zunehmends verwischen. Es sind die kleinen Begebenheiten, die stillen Anekdoten und die kurzen Sätze, mit denen Yevgenia Belorusets' Prosa das Wesen des Menschen offenbart. In ihrer ethnografisch präzisen und nüchtern-poetischen Sprache entsteht in dieser fiktiven Vorlesungsreihe ein Raum für marginalisierte Erfahrungen in der heutigen Ukraine, die mindestens seit 2014 auch von Gewalt geprägt sind und deren literarischer Verarbeitung eine zutiefst menschliche Haltung zugrunde liegt. Denn wenn es stimmt, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dann erscheint es nur logisch, dass wir Menschen das, was wir sein wollen, wonach wir suchen und streben, was wir einander antun und miteinander durchstehen, durch unsere Beziehungen zu Tieren erzählen. In der strengen Form der wissenschaftlichen Abhandlung, die überhöht, ironisiert und mit jedem Text weiter unterlaufen wird, fügen sich die Stimmen unterschiedlicher Erzählerinnen und Erzähler zu einem Chor, bei dem nicht immer eindeutig auszumachen ist, wer hier spricht - und zu wem.
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Ziemlich unergründlich, aber auf enigmatische Weise interessant schreibt Yevgenia Belorusets über Tiere vor dem Hintergrund des seit 2014 schwelenden Krieges in der Ostukraine, so Rezensentin Sieglinde Geisel. Tiere sind in den Textminiaturen "Gegenstand des Nachdenkens", aber auch Akteure, so gibt es beispielsweise ein Huhn, das die Seele eines Toten zurück in seine Heimat bringt, erfahren wir. Der Bezug zum Krieg etwa kommt zum Vorschein, wenn Belorusets darüber nachdenkt, wie Menschen dabei zu Tieren werden, wenn es ums Töten geht. Die Verbindung zwischen den einzelnen Texten sieht Geisel vor allem in den Fotografien sieht, die die Autorin geschossen und angefügt hat.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.07.2024Ein Herz und zwei Seelen
Ukrainische Literatur, die über den Krieg nicht hinwegtäuscht und doch freier atmen lässt: Erzählungen von Yevgenia Belorusets.
Es muss so seltsam gewesen sein. Da sitzt sie monatelang an diesen Texten, schreibt ein Buch unter dem Eindruck des Krieges im Osten ihres Landes. Womöglich im Glauben, damit gerade das größte Übel zu verarbeiten. Und dann kommt der 24. Februar 2022. Und das größte Übel wird schlagartig um ein Vielfaches überboten. Nun fallen ganz offiziell russische Bomben auf ukrainische Städte und Dörfer. Yevgenia Belorusets’ Buch ist da aber schon fertig. Überlebt es die neue Eskalationsstufe des Krieges? Hält es Schritt mit der neu entstandenen Realität?
Das Manuskript von „Über das moderne Leben der Tiere“ stellt Belorusets einen Monat vor Beginn der Invasion fertig, wie sie selbst in einer Anmerkung schreibt. Als Leserin aus der heutigen Welt, in der Russland das Nachbarland brutal und offen angreift, liest man den Krieg mit – noch mehr vielleicht, als er ohnehin schon in dem Buch präsent ist. Es ist eine Sammlung von Geschichten, anekdotenhaften Beobachtungen oder Gedanken, ein polyfones Werk aus verschiedenen Perspektiven, das ohne überwölbendes Narrativ oder stabile Figuren auskommt. Zwischendrin tauchen Belorusets’ eigene Schwarz-Weiß-Fotografien in den Seiten auf. Mal watschelt ein Huhn an einem alten Holzhaus entlang. Mal sieht man die Spuren kleiner Vogelschritte im Schnee. Die Texte nehmen darauf Bezug oder andersherum.
Alle Kapitel vereint eine Art Hintergrundrauschen. Es ist dieser spezifische psychologische Zustand, der Zivilistinnen und Zivilisten, die den Krieg erleben, eigen ist: eine grundsätzliche Dauerverblüfftheit darüber, wie Menschen plötzlich zu Tieren werden können. Viele bezeichnen den Krieg als barbarisch. Wild, enthemmt, die Grenzen des Menschlichen sprengend. Gehört das Tierische in diese Reihe? Mit dem Krieg werden Menschen jedenfalls zu Bestien. Auf Russisch lässt sich das Wort zveri, Tiere, als Beleidigung gegen die folternden, vergewaltigenden, mordenden Soldaten Russlands formulieren. Belorusets aber schreibt mit Liebe über Tiere, oder über das Tierische im Menschen. Oder vermenschlichte Tiere. Rätselhaft? Ja, das bleibt es auch nach der Lektüre. Ein Beispiel: In einer Geschichte kommt ein „Er“ nach Hause, schaltet das Licht an, zieht Pantoffeln an und plötzlich tun ihm die Vorderpfoten weh, „irgendwer hatte ihm nachlässig die Krallen gestutzt“. Die Beschäftigung mit dem Tier sei ein Schritt aus dem Sichtbaren und Verständlichen ins Verborgene und Unergründliche, schreibt Belorusets an anderer Stelle.
Das Buch ist aus dem Russischen und dem Ukrainischen übersetzt. Im Deutschen erkennt man nicht mehr, wo welche Sprache stand. Nachgefragt bei der Übersetzerin Claudia Dathe: Belorusets habe das Buch hauptsächlich auf Russisch geschrieben, sagt sie. Nur eine Geschichte sei zweisprachig, zusätzlich auch in Ukrainisch verfasst. Darin erzählt eine fiktive Mäzenin Anna von Gott und seinem Wunsch, die Tiere vor der Sintflut zu retten. Das Ganze nennt sich Vorlesung. In dieser einen zweisprachigen Geschichte hat Dathe in der deutschen Übersetzung einige Sätze bewusst im Ukrainischen gelassen. „Damit man sieht, dass hier etwas anders ist“. Die ukrainischen Sätze ragen aus dem Deutschen als wären sie kleine Zeigefinger, die auf etwas hinweisen. Nur worauf? Diese Frage bleibt bis zuletzt unbeantwortet. Die Vorlesung ist letztlich sehr amüsantes Geschwafel, jeder Absatz kommt mit einer neuen Wendung daher, es bleibt schleierhaft, was die Mäzenin Anna da von sich gibt und wer sie überhaupt ist.
Die Autorin gibt im ganzen Buch immer wieder Leerstellen vor, umschreibt sie, lässt sie übergroß erscheinen, gibt den Lesenden so wenig Halt wie möglich. Ein ewiges Kreisen, ohne sichtbares Ende, dafür mit vielen rätselhaften Hinweisen, die kein einheitliches Bild ergeben. Nicht einmal der letzte Satz des Buches darf ein Ende finden.
Unzuverlässiger kann man kaum erzählen. Die kurzen Texte geben sich mal als Vortrag aus, mal als stenografierte Mitschrift, mal als wörtliche Rede. Und es gibt gleich drei Texte, die „Anfang“ heißen. Manchmal werden die Lesenden direkt angesprochen und es stellt sich die Frage: Spricht da jedes Mal wer anders oder immer die gleiche Stimme? Wenn mal ein Ich auftaucht, dann kann man sich sicher sein, dass es ein paar Seiten später nicht mehr dasselbe sein wird. Und wer garantiert eigentlich, dass die Erzählerstimme nicht einer Katze oder einem Hund gehört? Schließlich offenbart sie sich auch mal als „riesiges Nilpferd-Nashorn“.
In einer Geschichte geht es um ein Huhn, das zum Träger einer Seele wurde, weil der Körper der ursprünglichen Besitzerin verstorben ist. Aber seine eigene Seele hat das Huhn ja auch noch. Also wird es ein Huhn mit zwei Seelen, Mensch und Tier vereint. Und am Ende der sechsseitigen Geschichte formuliert die Autorin den Satz „Ich hoffe, dass diese Geschichte klar ist und keine Fragen aufwirft.“ Ein Hohn! Es gibt tausende Fragen. Dieses Spiel, das Belorusets da mit den Lesenden treibt, es könnte glatt wütend machen.
Aber es macht auch Spaß, und vor allem: Es macht nachdenklich. Und während man beim Lesen über das Tierische im Menschlichen sinniert, schaut sich Yevgenia Belorusets die Tiere noch etwas grundlegender an. Es wird magisch, ihre Tiere können reden, sich erinnern, träumen, trauern, sich nach etwas sehnen, sich verlieben. Bei der Lektüre drängt sich immer wieder eine Frage auf: Sind Tiere eigentlich die besseren Menschen? Wenn das Leben der Tiere modern geworden ist, wie der Buchtitel vorgibt, ist das Leben der Menschen vielleicht archaisch geworden. Vielleicht, wenn man durch den Krieg schon zum Tier wird, kann man auch lernen, die friedfertigen Seiten des Tierischen anzunehmen.
Ja, das Buch funktioniert auch noch nach dem Invasionskrieg. Die Atmosphäre eines tristen Abends mit vernebeltem Horizont, die die Texte herstellen, ist nur noch dringlicher geworden. Die daraus fast unweigerlich resultierenden irrwitzigen Gedankenspiele, versetzt mit etwas magischer Folklore, sie halten die Zeuginnen und Zeugen am Leben.
EKATERINA KEL
„Ich hoffe, dass diese
Geschichte klar ist und
keine Fragen aufwirft.“
Yevgenia Belorusets: Über das moderne Leben der Tiere. Roman.
Aus dem Russischen und Ukrainischen von Claudia Dathe. Matthes & Seitz, Berlin 2024.
209 Seiten, 22 Euro.
Die Atmosphäre eines tristen Abends mit vernebeltem Horizont – die ukrainische Schriftstellerin Yevgenia Belorusets, 1980 in Kiew geboren.
Foto: Olga Tsybulska
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ukrainische Literatur, die über den Krieg nicht hinwegtäuscht und doch freier atmen lässt: Erzählungen von Yevgenia Belorusets.
Es muss so seltsam gewesen sein. Da sitzt sie monatelang an diesen Texten, schreibt ein Buch unter dem Eindruck des Krieges im Osten ihres Landes. Womöglich im Glauben, damit gerade das größte Übel zu verarbeiten. Und dann kommt der 24. Februar 2022. Und das größte Übel wird schlagartig um ein Vielfaches überboten. Nun fallen ganz offiziell russische Bomben auf ukrainische Städte und Dörfer. Yevgenia Belorusets’ Buch ist da aber schon fertig. Überlebt es die neue Eskalationsstufe des Krieges? Hält es Schritt mit der neu entstandenen Realität?
Das Manuskript von „Über das moderne Leben der Tiere“ stellt Belorusets einen Monat vor Beginn der Invasion fertig, wie sie selbst in einer Anmerkung schreibt. Als Leserin aus der heutigen Welt, in der Russland das Nachbarland brutal und offen angreift, liest man den Krieg mit – noch mehr vielleicht, als er ohnehin schon in dem Buch präsent ist. Es ist eine Sammlung von Geschichten, anekdotenhaften Beobachtungen oder Gedanken, ein polyfones Werk aus verschiedenen Perspektiven, das ohne überwölbendes Narrativ oder stabile Figuren auskommt. Zwischendrin tauchen Belorusets’ eigene Schwarz-Weiß-Fotografien in den Seiten auf. Mal watschelt ein Huhn an einem alten Holzhaus entlang. Mal sieht man die Spuren kleiner Vogelschritte im Schnee. Die Texte nehmen darauf Bezug oder andersherum.
Alle Kapitel vereint eine Art Hintergrundrauschen. Es ist dieser spezifische psychologische Zustand, der Zivilistinnen und Zivilisten, die den Krieg erleben, eigen ist: eine grundsätzliche Dauerverblüfftheit darüber, wie Menschen plötzlich zu Tieren werden können. Viele bezeichnen den Krieg als barbarisch. Wild, enthemmt, die Grenzen des Menschlichen sprengend. Gehört das Tierische in diese Reihe? Mit dem Krieg werden Menschen jedenfalls zu Bestien. Auf Russisch lässt sich das Wort zveri, Tiere, als Beleidigung gegen die folternden, vergewaltigenden, mordenden Soldaten Russlands formulieren. Belorusets aber schreibt mit Liebe über Tiere, oder über das Tierische im Menschen. Oder vermenschlichte Tiere. Rätselhaft? Ja, das bleibt es auch nach der Lektüre. Ein Beispiel: In einer Geschichte kommt ein „Er“ nach Hause, schaltet das Licht an, zieht Pantoffeln an und plötzlich tun ihm die Vorderpfoten weh, „irgendwer hatte ihm nachlässig die Krallen gestutzt“. Die Beschäftigung mit dem Tier sei ein Schritt aus dem Sichtbaren und Verständlichen ins Verborgene und Unergründliche, schreibt Belorusets an anderer Stelle.
Das Buch ist aus dem Russischen und dem Ukrainischen übersetzt. Im Deutschen erkennt man nicht mehr, wo welche Sprache stand. Nachgefragt bei der Übersetzerin Claudia Dathe: Belorusets habe das Buch hauptsächlich auf Russisch geschrieben, sagt sie. Nur eine Geschichte sei zweisprachig, zusätzlich auch in Ukrainisch verfasst. Darin erzählt eine fiktive Mäzenin Anna von Gott und seinem Wunsch, die Tiere vor der Sintflut zu retten. Das Ganze nennt sich Vorlesung. In dieser einen zweisprachigen Geschichte hat Dathe in der deutschen Übersetzung einige Sätze bewusst im Ukrainischen gelassen. „Damit man sieht, dass hier etwas anders ist“. Die ukrainischen Sätze ragen aus dem Deutschen als wären sie kleine Zeigefinger, die auf etwas hinweisen. Nur worauf? Diese Frage bleibt bis zuletzt unbeantwortet. Die Vorlesung ist letztlich sehr amüsantes Geschwafel, jeder Absatz kommt mit einer neuen Wendung daher, es bleibt schleierhaft, was die Mäzenin Anna da von sich gibt und wer sie überhaupt ist.
Die Autorin gibt im ganzen Buch immer wieder Leerstellen vor, umschreibt sie, lässt sie übergroß erscheinen, gibt den Lesenden so wenig Halt wie möglich. Ein ewiges Kreisen, ohne sichtbares Ende, dafür mit vielen rätselhaften Hinweisen, die kein einheitliches Bild ergeben. Nicht einmal der letzte Satz des Buches darf ein Ende finden.
Unzuverlässiger kann man kaum erzählen. Die kurzen Texte geben sich mal als Vortrag aus, mal als stenografierte Mitschrift, mal als wörtliche Rede. Und es gibt gleich drei Texte, die „Anfang“ heißen. Manchmal werden die Lesenden direkt angesprochen und es stellt sich die Frage: Spricht da jedes Mal wer anders oder immer die gleiche Stimme? Wenn mal ein Ich auftaucht, dann kann man sich sicher sein, dass es ein paar Seiten später nicht mehr dasselbe sein wird. Und wer garantiert eigentlich, dass die Erzählerstimme nicht einer Katze oder einem Hund gehört? Schließlich offenbart sie sich auch mal als „riesiges Nilpferd-Nashorn“.
In einer Geschichte geht es um ein Huhn, das zum Träger einer Seele wurde, weil der Körper der ursprünglichen Besitzerin verstorben ist. Aber seine eigene Seele hat das Huhn ja auch noch. Also wird es ein Huhn mit zwei Seelen, Mensch und Tier vereint. Und am Ende der sechsseitigen Geschichte formuliert die Autorin den Satz „Ich hoffe, dass diese Geschichte klar ist und keine Fragen aufwirft.“ Ein Hohn! Es gibt tausende Fragen. Dieses Spiel, das Belorusets da mit den Lesenden treibt, es könnte glatt wütend machen.
Aber es macht auch Spaß, und vor allem: Es macht nachdenklich. Und während man beim Lesen über das Tierische im Menschlichen sinniert, schaut sich Yevgenia Belorusets die Tiere noch etwas grundlegender an. Es wird magisch, ihre Tiere können reden, sich erinnern, träumen, trauern, sich nach etwas sehnen, sich verlieben. Bei der Lektüre drängt sich immer wieder eine Frage auf: Sind Tiere eigentlich die besseren Menschen? Wenn das Leben der Tiere modern geworden ist, wie der Buchtitel vorgibt, ist das Leben der Menschen vielleicht archaisch geworden. Vielleicht, wenn man durch den Krieg schon zum Tier wird, kann man auch lernen, die friedfertigen Seiten des Tierischen anzunehmen.
Ja, das Buch funktioniert auch noch nach dem Invasionskrieg. Die Atmosphäre eines tristen Abends mit vernebeltem Horizont, die die Texte herstellen, ist nur noch dringlicher geworden. Die daraus fast unweigerlich resultierenden irrwitzigen Gedankenspiele, versetzt mit etwas magischer Folklore, sie halten die Zeuginnen und Zeugen am Leben.
EKATERINA KEL
„Ich hoffe, dass diese
Geschichte klar ist und
keine Fragen aufwirft.“
Yevgenia Belorusets: Über das moderne Leben der Tiere. Roman.
Aus dem Russischen und Ukrainischen von Claudia Dathe. Matthes & Seitz, Berlin 2024.
209 Seiten, 22 Euro.
Die Atmosphäre eines tristen Abends mit vernebeltem Horizont – die ukrainische Schriftstellerin Yevgenia Belorusets, 1980 in Kiew geboren.
Foto: Olga Tsybulska
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