Was ist eine gerechte Strafe? Gibt es sie überhaupt? Für den leidenschaftlichen und wortmächtigen Strafjuristen Thomas Fischer geht es um das, was unsere Gesellschaft zusammenhält: Ein selbstgegebenes Regelwerk, unser Rechtssystem, das von vielen Bedingungen abhängt und in ständiger Bewegung ist. Wie kein anderes Rechtsgebiet steht das Strafrecht im Fokus öffentlichen Interesses. Als Grundlage staatlichen Handelns verspricht es Sicherheit; aber es ist auch ein Ort, an dem grundlegende Fragen des gesellschaftlichen Lebens, der Freiheitsspielräume und der Verantwortung verhandelt und besprochen werden. Fischers These: Strafrecht ist Kommunikation und Gewalt. Keiner kennt seine Entwicklung besser als der weit über seine Fachkreise hinaus bekannte frühere Bundesrichter.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.11.2018Der Staat tut so, als stünde er im Krieg
Die Justiz bekämpft, anstatt zu verfolgen: Thomas Fischer will das Strafrecht vor dem Populismus schützen.
Unter den großen Rechtsgebieten weist das Strafrecht die archaischsten Züge auf. Zwar leuchtet es ohne weiteres ein, dass ein Autofahrer, der auf der Heimfahrt von einer feuchtfröhlichen Weihnachtsfeier einen Fußgänger angefahren und schwer verletzt hat, diesem Schadenersatz und Schmerzensgeld zahlen muss und zur Verhinderung künftiger Trunkenheitsfahrten die Fahrerlaubnis entzogen bekommt. Welchem Zweck dient es aber, ihn darüber hinaus noch zu bestrafen?
Die Berufung auf den Vergeltungsgedanken läuft nach Auffassung vieler Strafrechtswissenschaftler auf den Wunsch nach Rache hinaus und sei deshalb normativ inakzeptabel. Das Ziel der Verbrechensvorbeugung, der Prävention, fügt sich zwar nahtlos in das Sicherheitsdenken ein, das seit Hobbes die Diskussion über die Aufgaben des Staats beherrscht. Auf den Akt der Bestrafung passt diese Zwecksetzung jedoch nicht unmittelbar.
Thomas Fischer, als langjähriger Richter am Bundesgerichtshof, Verfasser des einflussreichsten Kommentars zum Strafgesetzbuch und fleißiger Kolumnenschreiber einer der bekanntesten deutschen Strafjuristen, weist zu Recht darauf hin, dass das Strafen im Unterschied zu den präventiv-polizeilichen Maßnahmen "seiner Natur nach rückwärtsgerichtet" ist. Bestraft wird jemand, weil er allen abhaltenden Faktoren zum Trotz eine Straftat verübt hat. Insofern bezeugt jede Bestrafung, dass zumindest in diesem konkreten Fall das Präventionsziel verfehlt wurde.
Will man das Strafrecht dennoch durch seinen Beitrag zur Wahrung der innerstaatlichen Sicherheit legitimieren, muss man deshalb auf seine indirekten Präventionswirkungen zurückgreifen. Fischer weist jedoch darauf hin, dass auch diese Konstruktion mit erheblichen Problemen zu kämpfen hat. Zwar seien während der Zeit, die ein verurteilter Straftäter im Gefängnis zubringen muss, die Bürger außerhalb der Anstalt vor ihm sicher. Dieser Vorteil wiege jedoch nicht sonderlich schwer, weil in der Regel rasch andere Delinquenten an die Stelle des Weggesperrten träten und ein längerer Aufenthalt im Gefängnis sich zumeist nicht resozialisierend auswirke, sondern bestehende kriminogene Neigungen und Strukturen im Gegenteil noch verstärke.
Auch der von der Existenz und Anwendung strafrechtlicher Normen ausgehende Abschreckungseffekt sollte Fischer zufolge nicht überschätzt werden, vor allem dann nicht, wenn er nach dem Motto "Viel hilft viel" zur Untermauerung der Forderung nach einer Erhöhung der gesetzlichen Strafrahmen herangezogen werde. Wichtiger als die etwaige Strafhöhe sei für die meisten Täter die Verurteilungswahrscheinlichkeit.
Außerdem sei der Nutzen und Kosten einer geplanten Straftat akribisch abwägende Täter allenfalls im Wirtschaftsstrafrecht zu finden, aber kaum im Bereich höchstpersönlich-individuell motivierter Handlungen - etwa bei Rache-, Eifersuchts- oder Sexualstraftaten. Gänzlich außer Acht lasse das Abschreckungsmodell schließlich den Einfluss von Schichtzugehörigkeit, Erziehung oder Peergroups auf das Ausmaß der individuellen Normbefolgungsbereitschaft; in seinem ökonomisierenden Gebaren sei es soziologisch naiv.
Weitaus schwerer als diese Einwände wiegt für Fischer jedoch die Maßlosigkeit, die dem Sicherheits- und Präventionsmodell eigen ist. Es gebe keine natürliche Obergrenze von Sicherheit, so wie es auch keine natürliche Untergrenze von Freiheit gebe. Die Zielgröße Sicherheit sei ihrer Natur und Aufgabe nach vielmehr offen, unbegrenzt und daher tendenziell auch totalitär. Nicht von ungefähr etabliere sich kein autoritärer Staat mit dem Versprechen, seine Bürger zu bedrücken; vielmehr gehe es ihm seinem Bekunden nach stets um die Sicherheit und Wohlfahrt der Gutwilligen. Aber auch unter den Bedingungen einer modernen Demokratie führt die Steigerungslogik des Sicherheitsdenkens nach Fischers Analyse zu einer klassischen Hase-und-Igel-Konstellation, zumal wenn sie sich mit dem Interesse der Massenmedien an der Dramatisierung einzelner Verbrechensfälle und dem Bestreben von Rechtspolitikern zur persönlichen Profilierung verbinde. "Da die Polizei niemals sämtliche Straftaten wird verhindern können, nachträglich jedoch immer ein allgemein kausaler Zusammenhang zwischen der Begehung jeder einzelnen Tat und einem zu ,laschen' Recht hergestellt werden kann, bleiben Forderungen nach ,Lückenfüllung' und Strafrechtsverschärfung umso wohlfeiler, je vager und inhaltlich einseitiger sie sind."
Angesichts der Interessenlage der Beteiligten ist es wenig verwunderlich, dass die Kriminalitätsbereiche, die für derartige Forderungen ausgewählt werden, nach Fischers Diagnose nicht inhaltlich, sondern eher strategisch bestimmt sind: "meist Kriminalität von Fremden und Außenseitern, bevorzugt Migranten; Kriminalität mit Wirkung nach außen und auf das spontane Sicherheitsgefühl der Bevölkerung; Kriminalität mit ideologisch definierbaren Bedingungen und Formen".
In der Tat dreht sich die gegenwärtige rechtspolitische Debatte hauptsächlich um Ausländer- und Immigrantenkriminalität, Sexualdelinquenz, terroristische Taten sowie Gewalt- und Gruppenkriminalität von Jugendlichen. Dagegen finden Kriminalitätsbereiche wie Umweltkriminalität, Kriegsverbrechen, Korruption oder Betrug, auch wenn sie hohe und gravierende Schäden zur Folge haben, nur vergleichsweise geringe Beachtung.
Dass die Bevölkerung, deren Bild krimineller Handlungen heute in aller Regel kommunikativ und nicht durch eigenes Erleben bestimmt sei, diese selektiven Problemanzeigen zumeist widerspruchslos hinnimmt, deutet nach Fischer darauf hin, "dass ,Sicherheit vor Straftaten' und ,Bestrafen von Verbrechern' in einem noch viel höheren Maß allein symbolische, auf Genauigkeit gar nicht angewiesene Systeme der Kommunikation sind, als gemeinhin angenommen wird".
Die sorgfältig ausgetüftelten Konstruktionen von Strafrechtsprofessoren über die Grenzen strafwürdigen Verhaltens stoßen dementsprechend in der Gesetzgebungspraxis nicht einmal auf Ablehnung, sondern zumeist auf komplettes Desinteresse.
Wie weit die unter dem Schlagwort der Schließung von Sicherheitslücken operierende neuere deutsche Rechtspolitik sich inzwischen schon vom klassisch-liberalen Strafrechtsmodell entfernt und das Strafrecht zu einer Unterabteilung des Gefahrenabwehrrechts umgestaltet hat, verdeutlicht Fischer an einer Reihe eindrucksvoller Beispiele. Verräterisch sind schon die Namen zahlreicher strafrechtlicher Änderungsgesetze. Statt der "Verfolgung" bestimmter Taten kündigen sie deren "Bekämpfung" an, so als stünde der Staat in einem Krieg gegen die von ihm zu Straftätern erklärten Personen, deren Unschädlichmachung daher sein oberstes Ziel sein müsse.
Entsprechend rücksichtslos fallen die betreffenden Tatbestände denn auch häufig aus. Strafbar macht sich danach beispielsweise schon, wer in der Absicht aus der Bundesrepublik auszureisen versucht, sich im Ausland in der Methode zur Begehung bestimmter schwerer Straftaten unterweisen zu lassen. Zwar wird fast nie jemand nach diesem Tatbestand verurteilt. Gern nutzen die Ermittlungsbehörden aber die äußerst weitreichenden prozessualen Eingriffsbefugnisse, die ihnen der Verdacht seiner Begehung eröffnet. Die Unterscheidung zwischen präventiver und repressiver Ermittlungstätigkeit, Polizeirecht und Strafverfahrensrecht, wird angesichts eines derart reich bestückten strafprozessualen Instrumentenkastens praktisch bedeutungslos.
Zwar ist nichts von dem, was Fischer in seinem Buch vorträgt, wirklich neu. Auch lässt er weitgehend offen, wie ein besseres, seiner Eigenständigkeit bewusstes Strafrechtsdenken aussehen könnte. Dass das Strafrecht "ein in den Tiefen der Gesellschaft verankertes System zur Abgrenzung von ,Richtig' und ,Falsch' unter Abstraktion von individuell-höchstpersönlichen Interessen" und "eine der wichtigsten Institutionen für die Herstellung gesellschaftlicher Rationalität" sei, klingt zwar gut, bleibt aber so unbestimmt, dass sich daraus alles und nichts ableiten lässt.
Dessen ungeachtet, ist das Buch Fischers wichtig, denn nicht irgendein weltfremder Professor liest in ihm dem heutigen Umgang mit dem Strafrecht die Leviten, sondern einer der führenden und intellektuell brillantesten Repräsentanten der Strafrechtspraxis. Bleibt auch Fischers Wort ungehört, so dringt niemand mehr durch, und die Zukunft gehört endgültig dem Strafrechtspopulismus.
MICHAEL PAWLIK
Thomas Fischer: "Über
das Strafen". Recht und
Sicherheit in der demokratischen Gesellschaft.
Droemer Verlag, München 2018. 384 S., geb., 22,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Justiz bekämpft, anstatt zu verfolgen: Thomas Fischer will das Strafrecht vor dem Populismus schützen.
Unter den großen Rechtsgebieten weist das Strafrecht die archaischsten Züge auf. Zwar leuchtet es ohne weiteres ein, dass ein Autofahrer, der auf der Heimfahrt von einer feuchtfröhlichen Weihnachtsfeier einen Fußgänger angefahren und schwer verletzt hat, diesem Schadenersatz und Schmerzensgeld zahlen muss und zur Verhinderung künftiger Trunkenheitsfahrten die Fahrerlaubnis entzogen bekommt. Welchem Zweck dient es aber, ihn darüber hinaus noch zu bestrafen?
Die Berufung auf den Vergeltungsgedanken läuft nach Auffassung vieler Strafrechtswissenschaftler auf den Wunsch nach Rache hinaus und sei deshalb normativ inakzeptabel. Das Ziel der Verbrechensvorbeugung, der Prävention, fügt sich zwar nahtlos in das Sicherheitsdenken ein, das seit Hobbes die Diskussion über die Aufgaben des Staats beherrscht. Auf den Akt der Bestrafung passt diese Zwecksetzung jedoch nicht unmittelbar.
Thomas Fischer, als langjähriger Richter am Bundesgerichtshof, Verfasser des einflussreichsten Kommentars zum Strafgesetzbuch und fleißiger Kolumnenschreiber einer der bekanntesten deutschen Strafjuristen, weist zu Recht darauf hin, dass das Strafen im Unterschied zu den präventiv-polizeilichen Maßnahmen "seiner Natur nach rückwärtsgerichtet" ist. Bestraft wird jemand, weil er allen abhaltenden Faktoren zum Trotz eine Straftat verübt hat. Insofern bezeugt jede Bestrafung, dass zumindest in diesem konkreten Fall das Präventionsziel verfehlt wurde.
Will man das Strafrecht dennoch durch seinen Beitrag zur Wahrung der innerstaatlichen Sicherheit legitimieren, muss man deshalb auf seine indirekten Präventionswirkungen zurückgreifen. Fischer weist jedoch darauf hin, dass auch diese Konstruktion mit erheblichen Problemen zu kämpfen hat. Zwar seien während der Zeit, die ein verurteilter Straftäter im Gefängnis zubringen muss, die Bürger außerhalb der Anstalt vor ihm sicher. Dieser Vorteil wiege jedoch nicht sonderlich schwer, weil in der Regel rasch andere Delinquenten an die Stelle des Weggesperrten träten und ein längerer Aufenthalt im Gefängnis sich zumeist nicht resozialisierend auswirke, sondern bestehende kriminogene Neigungen und Strukturen im Gegenteil noch verstärke.
Auch der von der Existenz und Anwendung strafrechtlicher Normen ausgehende Abschreckungseffekt sollte Fischer zufolge nicht überschätzt werden, vor allem dann nicht, wenn er nach dem Motto "Viel hilft viel" zur Untermauerung der Forderung nach einer Erhöhung der gesetzlichen Strafrahmen herangezogen werde. Wichtiger als die etwaige Strafhöhe sei für die meisten Täter die Verurteilungswahrscheinlichkeit.
Außerdem sei der Nutzen und Kosten einer geplanten Straftat akribisch abwägende Täter allenfalls im Wirtschaftsstrafrecht zu finden, aber kaum im Bereich höchstpersönlich-individuell motivierter Handlungen - etwa bei Rache-, Eifersuchts- oder Sexualstraftaten. Gänzlich außer Acht lasse das Abschreckungsmodell schließlich den Einfluss von Schichtzugehörigkeit, Erziehung oder Peergroups auf das Ausmaß der individuellen Normbefolgungsbereitschaft; in seinem ökonomisierenden Gebaren sei es soziologisch naiv.
Weitaus schwerer als diese Einwände wiegt für Fischer jedoch die Maßlosigkeit, die dem Sicherheits- und Präventionsmodell eigen ist. Es gebe keine natürliche Obergrenze von Sicherheit, so wie es auch keine natürliche Untergrenze von Freiheit gebe. Die Zielgröße Sicherheit sei ihrer Natur und Aufgabe nach vielmehr offen, unbegrenzt und daher tendenziell auch totalitär. Nicht von ungefähr etabliere sich kein autoritärer Staat mit dem Versprechen, seine Bürger zu bedrücken; vielmehr gehe es ihm seinem Bekunden nach stets um die Sicherheit und Wohlfahrt der Gutwilligen. Aber auch unter den Bedingungen einer modernen Demokratie führt die Steigerungslogik des Sicherheitsdenkens nach Fischers Analyse zu einer klassischen Hase-und-Igel-Konstellation, zumal wenn sie sich mit dem Interesse der Massenmedien an der Dramatisierung einzelner Verbrechensfälle und dem Bestreben von Rechtspolitikern zur persönlichen Profilierung verbinde. "Da die Polizei niemals sämtliche Straftaten wird verhindern können, nachträglich jedoch immer ein allgemein kausaler Zusammenhang zwischen der Begehung jeder einzelnen Tat und einem zu ,laschen' Recht hergestellt werden kann, bleiben Forderungen nach ,Lückenfüllung' und Strafrechtsverschärfung umso wohlfeiler, je vager und inhaltlich einseitiger sie sind."
Angesichts der Interessenlage der Beteiligten ist es wenig verwunderlich, dass die Kriminalitätsbereiche, die für derartige Forderungen ausgewählt werden, nach Fischers Diagnose nicht inhaltlich, sondern eher strategisch bestimmt sind: "meist Kriminalität von Fremden und Außenseitern, bevorzugt Migranten; Kriminalität mit Wirkung nach außen und auf das spontane Sicherheitsgefühl der Bevölkerung; Kriminalität mit ideologisch definierbaren Bedingungen und Formen".
In der Tat dreht sich die gegenwärtige rechtspolitische Debatte hauptsächlich um Ausländer- und Immigrantenkriminalität, Sexualdelinquenz, terroristische Taten sowie Gewalt- und Gruppenkriminalität von Jugendlichen. Dagegen finden Kriminalitätsbereiche wie Umweltkriminalität, Kriegsverbrechen, Korruption oder Betrug, auch wenn sie hohe und gravierende Schäden zur Folge haben, nur vergleichsweise geringe Beachtung.
Dass die Bevölkerung, deren Bild krimineller Handlungen heute in aller Regel kommunikativ und nicht durch eigenes Erleben bestimmt sei, diese selektiven Problemanzeigen zumeist widerspruchslos hinnimmt, deutet nach Fischer darauf hin, "dass ,Sicherheit vor Straftaten' und ,Bestrafen von Verbrechern' in einem noch viel höheren Maß allein symbolische, auf Genauigkeit gar nicht angewiesene Systeme der Kommunikation sind, als gemeinhin angenommen wird".
Die sorgfältig ausgetüftelten Konstruktionen von Strafrechtsprofessoren über die Grenzen strafwürdigen Verhaltens stoßen dementsprechend in der Gesetzgebungspraxis nicht einmal auf Ablehnung, sondern zumeist auf komplettes Desinteresse.
Wie weit die unter dem Schlagwort der Schließung von Sicherheitslücken operierende neuere deutsche Rechtspolitik sich inzwischen schon vom klassisch-liberalen Strafrechtsmodell entfernt und das Strafrecht zu einer Unterabteilung des Gefahrenabwehrrechts umgestaltet hat, verdeutlicht Fischer an einer Reihe eindrucksvoller Beispiele. Verräterisch sind schon die Namen zahlreicher strafrechtlicher Änderungsgesetze. Statt der "Verfolgung" bestimmter Taten kündigen sie deren "Bekämpfung" an, so als stünde der Staat in einem Krieg gegen die von ihm zu Straftätern erklärten Personen, deren Unschädlichmachung daher sein oberstes Ziel sein müsse.
Entsprechend rücksichtslos fallen die betreffenden Tatbestände denn auch häufig aus. Strafbar macht sich danach beispielsweise schon, wer in der Absicht aus der Bundesrepublik auszureisen versucht, sich im Ausland in der Methode zur Begehung bestimmter schwerer Straftaten unterweisen zu lassen. Zwar wird fast nie jemand nach diesem Tatbestand verurteilt. Gern nutzen die Ermittlungsbehörden aber die äußerst weitreichenden prozessualen Eingriffsbefugnisse, die ihnen der Verdacht seiner Begehung eröffnet. Die Unterscheidung zwischen präventiver und repressiver Ermittlungstätigkeit, Polizeirecht und Strafverfahrensrecht, wird angesichts eines derart reich bestückten strafprozessualen Instrumentenkastens praktisch bedeutungslos.
Zwar ist nichts von dem, was Fischer in seinem Buch vorträgt, wirklich neu. Auch lässt er weitgehend offen, wie ein besseres, seiner Eigenständigkeit bewusstes Strafrechtsdenken aussehen könnte. Dass das Strafrecht "ein in den Tiefen der Gesellschaft verankertes System zur Abgrenzung von ,Richtig' und ,Falsch' unter Abstraktion von individuell-höchstpersönlichen Interessen" und "eine der wichtigsten Institutionen für die Herstellung gesellschaftlicher Rationalität" sei, klingt zwar gut, bleibt aber so unbestimmt, dass sich daraus alles und nichts ableiten lässt.
Dessen ungeachtet, ist das Buch Fischers wichtig, denn nicht irgendein weltfremder Professor liest in ihm dem heutigen Umgang mit dem Strafrecht die Leviten, sondern einer der führenden und intellektuell brillantesten Repräsentanten der Strafrechtspraxis. Bleibt auch Fischers Wort ungehört, so dringt niemand mehr durch, und die Zukunft gehört endgültig dem Strafrechtspopulismus.
MICHAEL PAWLIK
Thomas Fischer: "Über
das Strafen". Recht und
Sicherheit in der demokratischen Gesellschaft.
Droemer Verlag, München 2018. 384 S., geb., 22,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Fischers These: Strafrecht ist Kommunikation und Gewalt. Keiner kennt seine Entwicklung besser als der weit über seine Fachkreise hinaus bekannte frühere Bundesrichter." Gaggenauer Woche 20181108