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Produktdetails
  • Bibliothek der Erinnerung
  • Verlag: Metropol
  • Seitenzahl: 211
  • Abmessung: 205mm
  • Gewicht: 320g
  • ISBN-13: 9783926893376
  • Artikelnr.: 25020219
  • Herstellerkennzeichnung
  • Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.09.1997

Liebes- und Weltgeschichte
Zweierlei Blick auf jüdisches Leben und Überleben

Herbert A. Strauss: Über dem Abgrund. Eine jüdische Jugend in Deutschland 1918-1943. Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell. Campus Verlag, Frankfurt am Main und New York 1997. 309 Seiten, 48,- Mark.

Lotte Strauss: Über den grünen Hügel. Erinnerungen an Deutschland. Bibliothek der Erinnerung, herausgegeben von Wolfgang Benz, Band 2. Aus dem Amerikanischen von Irmtrud Wojak und Irmhild Wojak. Metropol Verlag, Berlin 1997. 211 Seiten, 36,- Mark.

Zwei Menschen, zwei Bücher - ein Paar, eine Geschichte: eine Liebesgeschichte in der Weltgeschichte. Ein Mann und eine Frau beschreiben den eigenen Lebenslauf, die gemeinsame Biographie und die Zeit, in die sie hineingestoßen wurden. Er ist Historiker und Judaist, sie Ehefrau, Hausfrau und Mutter. Er verfaßt der Nachwelt eine Gelehrtenbiographie, sie müht sich 20 Jahre lang mit dem Brief an die Tochter, der das Unsagbare endlich erzählen soll.

Herbert aus Würzburg, Lotte aus Wolfenbüttel treffen sich im Berlin der Hochnazizeit. Das Leben ist den Juden längst unerträglich gemacht worden, Deportationen sind längst Alltag geworden, ihr Rhythmus wird so schnell, "daß die Gefühle abstumpfen", wie der spätere Direktor des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung im Rückblick schreibt: "Wirklich tief ging der Schmerz erst, wenn Freunde, Verwandte und Menschen, die uns in irgendeiner Weise nahestanden, aus unserer Mitte gerissen wurden." Und dennoch studiert der junge Intellektuelle im Umkreis von Leo Baeck an der Jüdischen Hochschule begierig Talmudwissenschaft, Geschichte, Literatur, Philosophie und flieht in die Exegese assyrischer Keilschriften: "ein Beruhigungsmittel"? Zu den anrührendsten Passagen von Herbert Strauss' Buch "Über dem Abgrund" gehört das durchgängige ungläubige Staunen des professionellen Historikers heute, wie damals aus der Geschichte gerade nicht für das Leben gelernt wurde, wie vielmehr der partiarchalische "Quietismus der jüdischen Autoritätspersonen" sich weigerte, "auch nur zu konzedieren, daß unsere Welt in Unordnung geraten war". Für Herbert war "das Wort ,Holocaust' . . . damals nur ein Eintrag unter vielen in meinem ,Concise Oxford Dictionary'".

Lotte dagegen ganz nah am Leben: Ehescheidung, Schneiderlehre - obwohl sie aus einer ebenso behüteten und liebevoll beschirmten jüdischen Kindheits-und Jugendwelt kommt, flieht sie nicht. Sie bereitet die Flucht vor. Und organisiert das Überleben des Liebespaares im Untergrund. Ihr Herz ist erfüllt von trauervoller Einsicht. Ab sofort begleitet ihr Leben das Bild des unumkehrbaren Zugs der auf immer Verschwundenen, die "über den grünen Hügel hinauf" laufen und hinter dem Kamm nie mehr sichtbar werden. Die Flucht gelingt, das Leben geht weiter, aus dem Liebespaar wird ein Ehepaar, der Mann macht Karriere, der Nachwuchs wird amerikanisch. Zu den ergreifendsten Episoden gehört Lottes Schilderung ihres Besuchs in der alten Heimatstadt. Sie trifft die Schulfreundinnen wieder, die sie einst aus ihrer Gemeinschaft ausgemerzt hatten, und entdeckt beim Besuch des alten Hausmeisters die elterlichen Möbel in seinem Wohnzimmer.

Zwei Blickwinkel auf eine Geschichte - der Reiz dieser Doppelspiegelung verdankt sich nicht zuletzt dem Unterschied zwischen männlichem Bildungsroman und weiblicher éducation sentimentale:sie schreibt mit dem Herzen, kompromißlos und unverstellt, er erörtert mit Berufsverstand, demonstriert die Bedeutung seiner wissenschaftlichen Vita und belehrt taktisch und mit Strategie über Interna aus dem Wissenschaftsbetrieb.

Beiden Büchern hätte es gut getan, den jeweils unverwechselbar eigenen anrührenden wie analytischen Ton in Schutz zu nehmen vor den Unvollkommenheiten ihrer Autoren. Bei Lotte Strauss verwirrt das Gewirr der Sprünge vom Gestern ins Heute, die unbeholfene Einfügung historischer Allgemeinplätze und die stilistische Unberatenheit. Bei Herbert Strauss irritieren unnötige Gespreiztheiten und professorale Bedeutsamkeitserweise. Eine sorgsamere Betreuung hätte auch jene Stellen geklärt, an denen der Verfasser mit Gerüchten arbeitet oder mit anmaßender Kritik. So erscheint seine ehemalige Fluchthelferin, die mittlerweile in der NS-Forschung bekannte Ilse Totzke, in inadäquater Weise als leichtsinnig, unvernünftig und selbstmörderisch.

Beide Bände legen Rechenschaft darüber ab, wie während der Hitlerherrschaft gefühlt, geliebt und gedacht wurde. Wie gehaßt und verraten wurde auf deutscher und jüdischer Seite, wie mit der Preisgabe von Informationen an die Gestapo intrigiert wurde und welchen Aufruhr der rechtlose jüdische Gast in einer Familie, die ihm Unterschlupf gewährte, zu spüren bekommt. Vor allem aber eröffnen die beiden Bände die Einsicht, wie unendlich zäh das Erleben einer historisch unerhörten Katastrophe sich seinen Weg bahnt ins Begreifen, in den Verstand und ins Handeln. PETER ROOS

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