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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.08.2017

Ist das Erbe geregelt, steht der Umtrunk an
Erstrangig: Heiner Lück macht eingängig und ganz ohne Fachjargon mit dem "Sachsenspiegel" bekannt

Der Sachsenspiegel, "das bedeutendste deutsche Rechtsbuch und zugleich eines der ersten großen Prosawerke in deutscher Sprache", so Heiner Lück, ist im fiktiven zeitgenössischen Wissenskanon nahezu verschwunden. Dieses Buch, niedergeschrieben vor etwa siebenhundert Jahren im östlichen Harzvorland von einem urkundlich nachgewiesenen Eike von Repgow (geboren um 1180/90, gestorben nach 1232), hat das Rechtsleben des nördlichen und mittleren Deutschlands, aber auch dasjenige Osteuropas jahrhundertelang beeinflusst, vor allem in der Kombination mit dem Magdeburger Stadtrecht. Letzte Reste seiner Geltung sind in Deutschland mit Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs 1900 verschwunden.

Heute gibt es, dank einer ausgebreiteten rechtshistorischen Forschung seit dem neunzehnten Jahrhundert, eine intensive Detailforschung, wohlfeile Textausgaben, neuhochdeutsche Übersetzungen und ausgezeichnete Faksimileausgaben der vier erhaltenen illustrierten Handschriften (Oldenburg, Wolfenbüttel, Heidelberg, Dresden). Ein großes Forschungsprojekt der Leipziger Akademie der Wissenschaften widmet sich der Rekonstruktion der Ausbreitung nach Polen und in die Ukraine durch modifizierende Bearbeitungen und Übersetzungen. Dort werden in transnationaler Zusammenarbeit die nationalistisch-kolonialistischen und nationalsozialistischen Übermalungen und Legenden entfernt, um ein realistischeres Bild vom Rechtsleben vom frühen dreizehnten Jahrhundert bis in das achtzehnte Jahrhundert zu gewinnen.

Auch dieses Projekt wurde nur möglich durch die jedenfalls wissenschaftsinterne Überwindung des Ost-West-Gegensatzes. Der Rechtshistoriker Heiner Lück an der Universität Halle-Wittenberg, ein Schüler von Rolf Lieberwirth, ist hierbei die maßgebliche Figur. Natürlich, das ist eine Sache der Spezialisten der Rechts- und Kulturgeschichte sowie der Sprachwissenschaften. Wer sich nicht zu ihnen zählt, könnte dennoch große Freude an dem hier vorgestellten Werk haben. In dem opulent mit Abbildungen ausgestatteten Werk erklärt Heiner Lück präzise, aber ohne jeden Fachjargon, warum seit dem späten zwölften Jahrhundert in ganz Europa Rechtsbücher aufgezeichnet wurden und wie sich diese Rechtsbücher zu dem seit 1140 wiederentdeckten spätantiken römischen Recht sowie dem nun ebenfalls erstmals in geordneter Form aufgezeichneten Kirchenrecht verhielten.

Nacheinander wird vorgeführt, was es mit den Unterscheidungen von Landrecht, Lehenrecht und Stadtrecht auf sich hat, wer jener Eike und sein Lehensherr Graf Hoyer II. von Falkenstein waren, wo das Werk entstanden ist und ob es eine lateinische Urfassung gegeben habe. Lück beschreibt die mittelalterliche Weltsicht mit ihrer Doppelspitze von Kaiser und Papst, die Reichsverfassung als Wahlmonarchie mit erbrechtlichen Elementen, das Lehenwesen mit seiner Doppelfunktion von Heeresverfassung und Bodenordnung, weiter die Vielfalt von Rechten für verschiedene Ethnien, ebenso für Adel und Stadtbürgertum, Laien und Kleriker, Grundherren und Bauern, Handwerker, Dienstmannen und fahrendes Volk. Die Illustrationen zeigen die Rechtsfragen des Alltags, die Früchte von Nachbars Baum, die vom eigenen Feld verjagten Gänse, Ziegen und Schweine, das versehentlich aus dem Gemeinschaftsbad mitgenommene Handtuch, die Morgengabe nach der Hochzeit, die Versorgung der Witwe samt Umtrunk nach geglückter Erbauseinandersetzung, aber natürlich auch Gewalttat, Ehebruch, Ketzerei und Hexerei, grausame und blutige Strafen.

Eingeschoben sind "Porträts" der für den Sachsenspiegel wichtigsten Personen. Allen voran natürlich Eike von Repgow, aber auch ein Stammesporträt der "Sachsen", dann des im dreizehnten Jahrhundert schon legendären Karl d. Großen und des zu Eikes Zeit regierenden Friedrich II. von Hohenstaufen. Als entscheidend für das Fortleben des Sachsenspiegels wird der Jurist Johann von Buch hervorgehoben, dem es gelang, die Regeln des Sachsenrechts (Landrecht) mit dem nun gelehrten römisch-italienischen und kanonischen Recht zu harmonisieren. Schließlich wird des Leipziger Rechtsprofessors Christoph Zobel (1499 bis 1560) gedacht, der für brauchbare, sprachlich modernisierte Druckausgaben des Sachsenspiegels und damit für die weitere Popularisierung des Rechtsbuchs gesorgt hat.

Tatsächlich ist die vormoderne Rechtsgeschichte Ostmitteleuropas ohne die Übernahme und Umformung von Sachsenspiegel und Magdeburger Recht nicht zu verstehen. Das Gleiche gilt für das Lübecker ("lübische") Recht im Ostseeraum. Schon längst ist es heute möglich, diesen Transferprozess ohne kolonialistische oder gar rassistische Prämissen zu erforschen und in seiner Funktion in einer ständischen, multinormativen Gesellschaft zu verstehen. Dazu bedarf es internationaler Zusammenarbeit, wie sie in dem erwähnten Leipziger Akademieprojekt auch stattfindet. Was Heiner Lück hier vorlegt, sollte man keineswegs als Coffeetable-Book abtun, weil es eingängig geschrieben und ausgezeichnet illustriert ist. In Wirklichkeit ist es eine Summe des heutigen Wissensstandes über ein europäisches Kulturdokument ersten Ranges.

MICHAEL STOLLEIS

Heiner Lück: "Der Sachsenspiegel". Das berühmteste deutsche Rechtsbuch des Mittelalters.

Lambert Schneider Verlag, Darmstadt 2017. 176 S., Abb., geb., 49,95 [Euro] (bis 1.2.2018), danach 69,95 [Euro].

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