In seinen Reden und Aufsätzen hat sich Siegfried Lenz immer wieder mit einer Vielfalt von Themen und Fragen auseinandergesetzt - mit Themen der Literatur, aber auch mit politischen Problemen und mit Fragen des gesellschaftlichen Lebens. Seine Betrachtungen zeugen nicht nur von fundierter Sachkenntnis, sondern auch von einem tiefen persönlichen Engagement. Die in diesem Band versammelten Essays und Reden sind zumeist aus gegebenem Anlaß entstanden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.03.1998Fort aus allen Behausungen
Der Essayist Siegfried Lenz erkundet den Schmerz / Von Walter Hinck
In einem der Essays seines neuen Bandes "Über den Schmerz" beklagt Siegfried Lenz die Vergeblichkeit der "Hoffnung des Schriftstellers, von seinem Kritiker allumfassend verstanden zu werden". Will Lenz als Essayist etwa die Voraussetzungen für das Verständnis seiner eigenen Erzählprosa verbessern, um doch ein Recht auf Hoffnung zurückzugewinnen? Kaum. Nicht in einem einzigen der Texte kommentiert Lenz seine Romane, Erzählungen und Schau- oder Hörspiele. Und doch dürfen wir seinen Essayband auch als einen Selbstkommentar lesen. Im Nachdenken und Sprechen über jene Literatur, deren Leser er war, offenbaren sich zugleich Grundfragen seines eigenen Schreibens.
Wie Lenz seine Reflexionen begründet, ohne doch den Ehrgeiz wissenschaftlicher Systematik zu entwickeln oder vorzutäuschen, zeigt gleich der Titelessay "Über den Schmerz", der mit einer Deutung von Edvard Munchs bekanntem Gemälde "Der Schrei" beginnt. Lenz hat sich in der "Schmerzforschung", der medizinischen wie der psychologischen, kundig gemacht. Er erinnert auch an Lessings "Laokoon", an die Überlegungen zur Darstellung des Schmerzes in der Antike, in der Literatur, im Theater und in der bildenden Kunst. Aber er verheddert sich nicht im Gestrüpp von Begriffsbestimmungen und wissenschaftlichen Hypothesen. Er kommt zu seiner Sache, zum Schmerz, der aus Sprach- und Verständigungsnot entsteht, zur "Bitternis des Exils", zum Leiden, das die Untaten politischer Verblendung verursachen, und zur Wirkung des Wissens vom Ungeheuerlichen auf uns selbst: "Wir bemerken, daß es ein Schmerz über uns selbst ist, ein Schmerz der Enttäuschung über den Menschen."
Die Naturlandschaft bewegt das Denken nicht erst, seitdem sie uns abhanden zu kommen droht. Seit undenklichen Zeiten entdeckt der Mensch in ihr "Chiffren menschlichen Daseins". Nach Goethe ist sie "der eigentliche Ort, wo wir hingehören". Ihre Wirkungen auf den Menschen, "Andacht und Ängstigung, Staunen und Schwermut, Glücksempfinden und Ewigkeitsschauer", beschreibt Lenz am Beispiel der Dichtungen Jean Pauls oder Adalbert Stifters, Theodor Storms oder Johannes Bobrowskis - verwunderlich, daß ihm nicht die Erlebnis-Stereotypen der Rhein-Romantik oder der Landschaft Eichendorffs einfallen. Es kann heute, bei allem "Mitleid mit der gefährdeten Landschaft", keine Rückkehr zur Idylle und zur Naturseligkeit vergangener Jahrhunderte geben.
Zu den Arbeiten, die dem späten Gottfried Benn nach dem Kriege zu einer glanzvollen Rückkehr ins literarische Leben verhalfen, gehört der zwei Jahre vor seinem Tod erschienene Essay "Altern als Problem für Künstler" (1954). Nicht unmittelbar zu tun mit diesem Thema, zu dem Lenz inzwischen selbst einiges zu sagen wüßte, hat sein Essay "Die Darstellung des Alters in der Literatur". Protokolle des Verfalls findet er vor allem in Shakespeares "König Lear", vielfach bei Samuel Beckett, auch in Simone de Beauvoirs Bericht über ihr Wiedersehen mit der altgewordenen Mutter, die alle Scham verloren hat. Schönstes Beispiel eines souveränen Altwerdens ist ihm immer noch Fontanes Dubslav von Stechlin, Modelle für den Protest gegen das Entsagungsgebot, für den Ausbruch aus dem gesellschaftlichen Zwang sind ihm Miss Crawley in Thackerays "Jahrmarkt der Eitelkeiten" und Brechts "Unwürdige Greisin". "Zeit ist nur Einbildung. Aber das Altern ist real", notierte Arthur Schnitzler. Und zur Realität des Alters gehört die Nähe des Todes. Allzu rechtschaffen schließt Lenz mit dem Appell, dem Alter mit Zuneigung und Erbarmen zu begegnen.
An den Schnittpunkt von Literatur und Politik begibt sich Lenz zweimal: mit der Laudatio auf Amos Oz (Friedenspreis des deutschen Buchhandels 1992) und mit dem Essay über das Bild des Politikers in der deutschen Nachkriegsliteratur. Die Hoffnungen, die sich noch 1992 die von Amos Oz in Israel gegründete "Peace now"-Bewegung machen durfte, sind nach einem Zwischenhoch durch die Verhärtung der Beziehungen zwischen Israelis und Palästinensern wieder in ein Tief gefallen - so hat die Ermutigung, die der Friedenspreis geben sollte, immer noch eine Aktualität, die man eigentlich nicht wünschen kann.
Bekannt ist Bismarcks Urteil, Literaten seien "unfähig zum Elementarschullehrer und zu arbeitsscheu zum Postsekretär". Solcher Geringschätzung etwa mit dem Einwand zu begegnen, daß sich ihr Ehrgeiz ja auch auf diese Berufe nicht richte, genügte den Nachkriegsschriftstellern nicht. Sie rüsteten zur Gegenoffensive. Lenz schreitet die lange Reihe der literarischen Politiker-Entlarvungen ab: von Wolfgang Koeppens "Treibhaus" über Wolfgang Hildesheimers "Tynset", Heinrich Bölls "Frauen vor Flußlandschaft" und Uwe Johnsons "Das dritte Buch über Arnim" bis zu Hans Joachim Schädlichs Parabelerzählung "Besuch des Kaisers von Rußland bei dem Kaiser von Deutschland". Ein Äußerstes an schriftstellerischer Einmischung in die Politik war zweifellos die Gründung des Wahlkontors und Günter Grass' Wahlkampfreise für Willy Brandt und die SPD im Jahre 1969. Trotz seines eigenen Engagements ist Lenz weit davon entfernt, die Abgrenzung zwischen Kunst und Politik zu übersehen: Auf die Politik sind die Kompromißlosigkeit und der moralische Rigorismus der Literatur nicht einfach zu übertragen; aber sie muß sich an die Maßstäbe erinnern lassen.
Auch wo sich Siegfried Lenz den Widersprüchen konkreten geschichtlichen Daseins zuwendet, bleibt die Frage nach den Grundbedingungen menschlichen Empfindens, Denkens und Handelns erkennbar. Die Perspektive des Titelessays "Über den Schmerz" wirft ihre Leuchtspur auch in die anderen Texte. Was hervortritt, sind Konstanten der Verwirklichung oder Verfehlung menschlicher Möglichkeiten. Es sind Bausteine einer literarischen Anthropologie.
Siegfried Lenz: "Über den Schmerz". Essays. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1998. 166 S., geb., 36,- DM.
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Der Essayist Siegfried Lenz erkundet den Schmerz / Von Walter Hinck
In einem der Essays seines neuen Bandes "Über den Schmerz" beklagt Siegfried Lenz die Vergeblichkeit der "Hoffnung des Schriftstellers, von seinem Kritiker allumfassend verstanden zu werden". Will Lenz als Essayist etwa die Voraussetzungen für das Verständnis seiner eigenen Erzählprosa verbessern, um doch ein Recht auf Hoffnung zurückzugewinnen? Kaum. Nicht in einem einzigen der Texte kommentiert Lenz seine Romane, Erzählungen und Schau- oder Hörspiele. Und doch dürfen wir seinen Essayband auch als einen Selbstkommentar lesen. Im Nachdenken und Sprechen über jene Literatur, deren Leser er war, offenbaren sich zugleich Grundfragen seines eigenen Schreibens.
Wie Lenz seine Reflexionen begründet, ohne doch den Ehrgeiz wissenschaftlicher Systematik zu entwickeln oder vorzutäuschen, zeigt gleich der Titelessay "Über den Schmerz", der mit einer Deutung von Edvard Munchs bekanntem Gemälde "Der Schrei" beginnt. Lenz hat sich in der "Schmerzforschung", der medizinischen wie der psychologischen, kundig gemacht. Er erinnert auch an Lessings "Laokoon", an die Überlegungen zur Darstellung des Schmerzes in der Antike, in der Literatur, im Theater und in der bildenden Kunst. Aber er verheddert sich nicht im Gestrüpp von Begriffsbestimmungen und wissenschaftlichen Hypothesen. Er kommt zu seiner Sache, zum Schmerz, der aus Sprach- und Verständigungsnot entsteht, zur "Bitternis des Exils", zum Leiden, das die Untaten politischer Verblendung verursachen, und zur Wirkung des Wissens vom Ungeheuerlichen auf uns selbst: "Wir bemerken, daß es ein Schmerz über uns selbst ist, ein Schmerz der Enttäuschung über den Menschen."
Die Naturlandschaft bewegt das Denken nicht erst, seitdem sie uns abhanden zu kommen droht. Seit undenklichen Zeiten entdeckt der Mensch in ihr "Chiffren menschlichen Daseins". Nach Goethe ist sie "der eigentliche Ort, wo wir hingehören". Ihre Wirkungen auf den Menschen, "Andacht und Ängstigung, Staunen und Schwermut, Glücksempfinden und Ewigkeitsschauer", beschreibt Lenz am Beispiel der Dichtungen Jean Pauls oder Adalbert Stifters, Theodor Storms oder Johannes Bobrowskis - verwunderlich, daß ihm nicht die Erlebnis-Stereotypen der Rhein-Romantik oder der Landschaft Eichendorffs einfallen. Es kann heute, bei allem "Mitleid mit der gefährdeten Landschaft", keine Rückkehr zur Idylle und zur Naturseligkeit vergangener Jahrhunderte geben.
Zu den Arbeiten, die dem späten Gottfried Benn nach dem Kriege zu einer glanzvollen Rückkehr ins literarische Leben verhalfen, gehört der zwei Jahre vor seinem Tod erschienene Essay "Altern als Problem für Künstler" (1954). Nicht unmittelbar zu tun mit diesem Thema, zu dem Lenz inzwischen selbst einiges zu sagen wüßte, hat sein Essay "Die Darstellung des Alters in der Literatur". Protokolle des Verfalls findet er vor allem in Shakespeares "König Lear", vielfach bei Samuel Beckett, auch in Simone de Beauvoirs Bericht über ihr Wiedersehen mit der altgewordenen Mutter, die alle Scham verloren hat. Schönstes Beispiel eines souveränen Altwerdens ist ihm immer noch Fontanes Dubslav von Stechlin, Modelle für den Protest gegen das Entsagungsgebot, für den Ausbruch aus dem gesellschaftlichen Zwang sind ihm Miss Crawley in Thackerays "Jahrmarkt der Eitelkeiten" und Brechts "Unwürdige Greisin". "Zeit ist nur Einbildung. Aber das Altern ist real", notierte Arthur Schnitzler. Und zur Realität des Alters gehört die Nähe des Todes. Allzu rechtschaffen schließt Lenz mit dem Appell, dem Alter mit Zuneigung und Erbarmen zu begegnen.
An den Schnittpunkt von Literatur und Politik begibt sich Lenz zweimal: mit der Laudatio auf Amos Oz (Friedenspreis des deutschen Buchhandels 1992) und mit dem Essay über das Bild des Politikers in der deutschen Nachkriegsliteratur. Die Hoffnungen, die sich noch 1992 die von Amos Oz in Israel gegründete "Peace now"-Bewegung machen durfte, sind nach einem Zwischenhoch durch die Verhärtung der Beziehungen zwischen Israelis und Palästinensern wieder in ein Tief gefallen - so hat die Ermutigung, die der Friedenspreis geben sollte, immer noch eine Aktualität, die man eigentlich nicht wünschen kann.
Bekannt ist Bismarcks Urteil, Literaten seien "unfähig zum Elementarschullehrer und zu arbeitsscheu zum Postsekretär". Solcher Geringschätzung etwa mit dem Einwand zu begegnen, daß sich ihr Ehrgeiz ja auch auf diese Berufe nicht richte, genügte den Nachkriegsschriftstellern nicht. Sie rüsteten zur Gegenoffensive. Lenz schreitet die lange Reihe der literarischen Politiker-Entlarvungen ab: von Wolfgang Koeppens "Treibhaus" über Wolfgang Hildesheimers "Tynset", Heinrich Bölls "Frauen vor Flußlandschaft" und Uwe Johnsons "Das dritte Buch über Arnim" bis zu Hans Joachim Schädlichs Parabelerzählung "Besuch des Kaisers von Rußland bei dem Kaiser von Deutschland". Ein Äußerstes an schriftstellerischer Einmischung in die Politik war zweifellos die Gründung des Wahlkontors und Günter Grass' Wahlkampfreise für Willy Brandt und die SPD im Jahre 1969. Trotz seines eigenen Engagements ist Lenz weit davon entfernt, die Abgrenzung zwischen Kunst und Politik zu übersehen: Auf die Politik sind die Kompromißlosigkeit und der moralische Rigorismus der Literatur nicht einfach zu übertragen; aber sie muß sich an die Maßstäbe erinnern lassen.
Auch wo sich Siegfried Lenz den Widersprüchen konkreten geschichtlichen Daseins zuwendet, bleibt die Frage nach den Grundbedingungen menschlichen Empfindens, Denkens und Handelns erkennbar. Die Perspektive des Titelessays "Über den Schmerz" wirft ihre Leuchtspur auch in die anderen Texte. Was hervortritt, sind Konstanten der Verwirklichung oder Verfehlung menschlicher Möglichkeiten. Es sind Bausteine einer literarischen Anthropologie.
Siegfried Lenz: "Über den Schmerz". Essays. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1998. 166 S., geb., 36,- DM.
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