Wie erfolgreich Knigges berühmtes Buch und seine vernunftgeleiteten Bemühungen um die Durchsetzung von Moral, um überzeugende und vor allem praktikable Antworten auf die Fragen menschlichen Zusammenlebens waren, lässt sich schon daran ablesen, dass Autorenname und Titel geradezu zum geflügelten Wort geworden sind.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.03.2003Es geht selten gut im Hause
Kapaune braten ist nicht alles: Baron Knigge predigt Herzenstakt
Hätte es doch 1788 schon ordentliche Gesetze in Sachen Urheberrecht und Titelschutz gegeben. Alles wäre gut geworden, dem armen Adolph Freiherrn von Knigge das Mißverständnis, das entsetzliche Rezeptionsschicksal erspart geblieben. Eine kurze Visite beim hannoverschen Oberhofamtskämmerer, und schon hätte dieser mit Brief und Siegel bewirkt, daß von dem Namen Knigge nur Gebrauch machen darf, wer einen Obolus an den Autor und seine Nachfahren entrichtet. Auf diese Weise wäre Knigges Bestseller "Über den Umgang mit Menschen", der schon zu Lebzeiten des Autors drei Neuauflagen erfuhr und in verschiedene Sprachen übersetzt wurde, wirksam geschützt gewesen vor jenen hergelaufenen Benimm-Reglern, die seither in seinem Namen das Publikum nasführen, wie etwa der "China-Knigge für Manager".
So aber ist es bekanntlich nicht gekommen, und daher heißt es alle paar Jahre wieder: Erbarmen mit dem alten Knigge. Wie oft ist darüber schon geklagt worden, erst vor einiger Zeit wieder, aus Anlaß seines 250. Geburtstages am 16. Oktober letzten Jahres. Daß dieser glänzende Essayist der Aufklärung mit seinem Werk ja gerade das Gegenteil der eigentlichen Absicht erreicht habe. Daß diesem Freigeist, diesem melancholischen Spötter, Romancier und Rezensenten nichts ferner lag als das dumme Etiketten-Etikett, das man ihm aufklebte. Fluch des Erfolges.
Daß er ein Vorkämpfer der Aufklärung und der bürgerlichen Freiheiten war, ist nach wie vor nur Eingeweihten bekannt; der Gedenktag ist also eine gute Gelegenheit für eine Neuausgabe, geschmückt mit einer Einleitung des Moral-Vordenkers Ulrich Wickert. Warum hat es der Ur-Knigge so schwer, sich gegen das populäre Urteil durchzusetzen? Womöglich, weil Knigges Gesinnung einfach quer zu seiner Biographie steht: das Gut der Altvorderen durch Verschwendung des Vaters verloren, verfolgt von Gläubigern, Studienjahre in Göttingen, Hofjunker beim Landgrafen in Kassel und Hanau, Aufenthalte in Frankfurt und Heidelberg.
Ganz frei von Komplikationen kann der Umgang mit dem Menschen Knigge nicht gewesen sein - am Ende war er froh, ein Auskommen als Oberhauptmann und Scholarch in Bremen gefunden zu haben, wenngleich er auch beklagte, die Gegend um die Hansestadt herum sei doch arg "platt" ausgefallen. Ach, und wie er die schönen Gärten von Hannover und Kassel vermißte. Auch kein Trost, daß er die braven Bremer selbst als fleißig loben konnte.
Fleißig war er zweifellos selbst, und sein Hang zur Vortrefflichkeit kommt mitunter ziemlich penetrant daher: "Sei streng, pünktlich, ordentlich, arbeitsam, fleißig in Deinem Berufe! Bewahre Deine Papiere, Deine Schlüssel und alles so, daß Du jedes einzelne Stück auch im Dunkeln finden könntest ..." Soviel Ermahnung war nie, noch dazu versehen mit einer durchaus redundant zu nennenden Menge an Ausrufezeichen. Vollkommen unschuldig ist der niedersächsische Edelmann wohl doch nicht, daß sein Werk als Benimmfibel mißverstanden wurde. Abgesehen von der Frage, was für den Umgang mit Menschen wohl gewonnen ist, wenn jeder seine Schlüssel im Dunkeln wiederfindet. Doch selten gibt Knigge sich so kleinlich in seinem dreiteiligen Umgangswerk. Denn viel mehr als Benimm interessiert ihn der "esprit de conduite", der den zwischenmenschlichen Ton angeben soll: Herzenstakt, Gelassenheit, Achtung und Toleranz zählen unbedingt dazu.
Das nimmt man so hin, dem schenkt man gern Glauben. Andererseits muß einmal gesagt werden, daß der hochwohllöbliche Aufklärer in seinem Standardwerk auch herzlichen Unfug verzapft hat. Als handelndes Subjekt erkennt er ausschließlich Männer, nie Frauen. Mühelos leitet er, ganz Kind seiner Zeit, derlei aus Vorgegebenem ab: "Freilich, da der Mann von der Natur bestimmt ist, der Ratgeber seines Weibes, das Haupt der Familie zu sein; da die Folgen jedes übereilten Schrittes der Gattin auf ihn fallen ..." Oder was sagt man dazu: "Es geht selten gut im Hause, wenn die Gattin für ihren Gatten die Berichte ad Serenissimum entwerfen und er dagegen, wenn Freunde eingeladen sind, die Kapaune braten, Cremes machen und die Töchter ankleiden muß ..." Mag die Freifrau Knigge auch ein rechter Besen und die Ehe der beiden nicht durchweg glücklich gewesen sein: Das knicken wir besser. Womöglich liegt in solch einem Widerspruch allerdings der Reiz dieser Lektüre: Sich nämlich entlang dieser Versuche über die menschliche Natur zu fragen, welche dieser Einsichten zeitgebunden und welche gültig blieben. Sich an dem Zeitlosen zu freuen und über das heute ziemlich abwegig Erscheinende munter aufzuregen - dieses Vergnügen bietet der "Umgang" in reichem Maß.
Er hat Fairneß verdient, der alte Knigge. Wäre sein eindrucksvoller Ausstoß an Romanen, Abhandlungen und Rezensionen wohl weniger eindrucksvoll ausgefallen, hätten ihm nicht immerfort die Gläubiger im Nacken gesessen? Vielleicht. Denkbar aber ist ebenso, daß dieser luzide Stilist am Schreiben in jedem Fall großes Vergnügen gefunden hätte, auch wenn er seine Tage als gelangweilter Guts- und Lehnsherr erlebt hätte. Niedersachsen kann, rein ländlich gesehen, schon recht fade sein. Da haben Lektüre und Literatur schon manchen auf bessere Gedanken gebracht.
Die Praxisfalle hat der lebenskluge Knigge im übrigen selbst erahnt. Und aufrichtig zu Papier gebracht: "Am Schreibtische, wo man die ruhigste Gemütsverfassung wählen kann, wenn keine stürmischen Leidenschaften unseren Geist aus seiner Fassung bringen, da lassen sich herrliche moralische Vorschriften geben, die nachher in der wirklichen Welt ... nicht so leicht zu befolgen sind." Stimmt.
ANNA VON MÜNCHHAUSEN
Adolph Freiherr von Knigge: "Über den Umgang mit Menschen". Mit einem Essay von Ulrich Wickert und Illustrationen von Horst Hussel. Edition Büchergilde, Frankfurt am Main 2002. 416 S., geb., 24,90 [Euro].
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Kapaune braten ist nicht alles: Baron Knigge predigt Herzenstakt
Hätte es doch 1788 schon ordentliche Gesetze in Sachen Urheberrecht und Titelschutz gegeben. Alles wäre gut geworden, dem armen Adolph Freiherrn von Knigge das Mißverständnis, das entsetzliche Rezeptionsschicksal erspart geblieben. Eine kurze Visite beim hannoverschen Oberhofamtskämmerer, und schon hätte dieser mit Brief und Siegel bewirkt, daß von dem Namen Knigge nur Gebrauch machen darf, wer einen Obolus an den Autor und seine Nachfahren entrichtet. Auf diese Weise wäre Knigges Bestseller "Über den Umgang mit Menschen", der schon zu Lebzeiten des Autors drei Neuauflagen erfuhr und in verschiedene Sprachen übersetzt wurde, wirksam geschützt gewesen vor jenen hergelaufenen Benimm-Reglern, die seither in seinem Namen das Publikum nasführen, wie etwa der "China-Knigge für Manager".
So aber ist es bekanntlich nicht gekommen, und daher heißt es alle paar Jahre wieder: Erbarmen mit dem alten Knigge. Wie oft ist darüber schon geklagt worden, erst vor einiger Zeit wieder, aus Anlaß seines 250. Geburtstages am 16. Oktober letzten Jahres. Daß dieser glänzende Essayist der Aufklärung mit seinem Werk ja gerade das Gegenteil der eigentlichen Absicht erreicht habe. Daß diesem Freigeist, diesem melancholischen Spötter, Romancier und Rezensenten nichts ferner lag als das dumme Etiketten-Etikett, das man ihm aufklebte. Fluch des Erfolges.
Daß er ein Vorkämpfer der Aufklärung und der bürgerlichen Freiheiten war, ist nach wie vor nur Eingeweihten bekannt; der Gedenktag ist also eine gute Gelegenheit für eine Neuausgabe, geschmückt mit einer Einleitung des Moral-Vordenkers Ulrich Wickert. Warum hat es der Ur-Knigge so schwer, sich gegen das populäre Urteil durchzusetzen? Womöglich, weil Knigges Gesinnung einfach quer zu seiner Biographie steht: das Gut der Altvorderen durch Verschwendung des Vaters verloren, verfolgt von Gläubigern, Studienjahre in Göttingen, Hofjunker beim Landgrafen in Kassel und Hanau, Aufenthalte in Frankfurt und Heidelberg.
Ganz frei von Komplikationen kann der Umgang mit dem Menschen Knigge nicht gewesen sein - am Ende war er froh, ein Auskommen als Oberhauptmann und Scholarch in Bremen gefunden zu haben, wenngleich er auch beklagte, die Gegend um die Hansestadt herum sei doch arg "platt" ausgefallen. Ach, und wie er die schönen Gärten von Hannover und Kassel vermißte. Auch kein Trost, daß er die braven Bremer selbst als fleißig loben konnte.
Fleißig war er zweifellos selbst, und sein Hang zur Vortrefflichkeit kommt mitunter ziemlich penetrant daher: "Sei streng, pünktlich, ordentlich, arbeitsam, fleißig in Deinem Berufe! Bewahre Deine Papiere, Deine Schlüssel und alles so, daß Du jedes einzelne Stück auch im Dunkeln finden könntest ..." Soviel Ermahnung war nie, noch dazu versehen mit einer durchaus redundant zu nennenden Menge an Ausrufezeichen. Vollkommen unschuldig ist der niedersächsische Edelmann wohl doch nicht, daß sein Werk als Benimmfibel mißverstanden wurde. Abgesehen von der Frage, was für den Umgang mit Menschen wohl gewonnen ist, wenn jeder seine Schlüssel im Dunkeln wiederfindet. Doch selten gibt Knigge sich so kleinlich in seinem dreiteiligen Umgangswerk. Denn viel mehr als Benimm interessiert ihn der "esprit de conduite", der den zwischenmenschlichen Ton angeben soll: Herzenstakt, Gelassenheit, Achtung und Toleranz zählen unbedingt dazu.
Das nimmt man so hin, dem schenkt man gern Glauben. Andererseits muß einmal gesagt werden, daß der hochwohllöbliche Aufklärer in seinem Standardwerk auch herzlichen Unfug verzapft hat. Als handelndes Subjekt erkennt er ausschließlich Männer, nie Frauen. Mühelos leitet er, ganz Kind seiner Zeit, derlei aus Vorgegebenem ab: "Freilich, da der Mann von der Natur bestimmt ist, der Ratgeber seines Weibes, das Haupt der Familie zu sein; da die Folgen jedes übereilten Schrittes der Gattin auf ihn fallen ..." Oder was sagt man dazu: "Es geht selten gut im Hause, wenn die Gattin für ihren Gatten die Berichte ad Serenissimum entwerfen und er dagegen, wenn Freunde eingeladen sind, die Kapaune braten, Cremes machen und die Töchter ankleiden muß ..." Mag die Freifrau Knigge auch ein rechter Besen und die Ehe der beiden nicht durchweg glücklich gewesen sein: Das knicken wir besser. Womöglich liegt in solch einem Widerspruch allerdings der Reiz dieser Lektüre: Sich nämlich entlang dieser Versuche über die menschliche Natur zu fragen, welche dieser Einsichten zeitgebunden und welche gültig blieben. Sich an dem Zeitlosen zu freuen und über das heute ziemlich abwegig Erscheinende munter aufzuregen - dieses Vergnügen bietet der "Umgang" in reichem Maß.
Er hat Fairneß verdient, der alte Knigge. Wäre sein eindrucksvoller Ausstoß an Romanen, Abhandlungen und Rezensionen wohl weniger eindrucksvoll ausgefallen, hätten ihm nicht immerfort die Gläubiger im Nacken gesessen? Vielleicht. Denkbar aber ist ebenso, daß dieser luzide Stilist am Schreiben in jedem Fall großes Vergnügen gefunden hätte, auch wenn er seine Tage als gelangweilter Guts- und Lehnsherr erlebt hätte. Niedersachsen kann, rein ländlich gesehen, schon recht fade sein. Da haben Lektüre und Literatur schon manchen auf bessere Gedanken gebracht.
Die Praxisfalle hat der lebenskluge Knigge im übrigen selbst erahnt. Und aufrichtig zu Papier gebracht: "Am Schreibtische, wo man die ruhigste Gemütsverfassung wählen kann, wenn keine stürmischen Leidenschaften unseren Geist aus seiner Fassung bringen, da lassen sich herrliche moralische Vorschriften geben, die nachher in der wirklichen Welt ... nicht so leicht zu befolgen sind." Stimmt.
ANNA VON MÜNCHHAUSEN
Adolph Freiherr von Knigge: "Über den Umgang mit Menschen". Mit einem Essay von Ulrich Wickert und Illustrationen von Horst Hussel. Edition Büchergilde, Frankfurt am Main 2002. 416 S., geb., 24,90 [Euro].
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Knigge und sein berühmtes Buch sind sprichwörtlich geworden, ohne dass man beide recht verstanden hätte. Da kann diese (...) zuverlässige Ausgabe von Karl-Heinz Göttert abhelfen! Frankfurter Neue Presse