Der Wille zum Wissen, die Sorge des Subjekts um sich selbst und die Selbsttechnologien schienen bisher erst im Spätwerk Michel Foucaults zentrale Themen zu sein. Umso überraschender ist daher die Entdeckung, dass bereits die ersten Vorlesungen Foucaults am Collège de France aus den Jahren 1970 und 1971 um diese Fragen kreisen. Die gängige Dreiteilung der Werkphasen Foucaults in eine frühe »Archäologie des Wissens«, eine mittlere »Genealogie der Disziplinargesellschaft« und schließlich eine späte Geschichte der »Selbsttechnologien« und der »Gouvernementalität« erweist sich somit als zumindest fragwürdig. Die Vorlesungen zeigen bereits erhebliche Spuren der späteren Gedanken zu den Selbsttechnologien, während zugleich Motive der Archäologie des Wissens noch deutlich erkennbar sind, ebenso wie die gerade im Entstehen begriffene Genealogie der Disziplinargesellschaft. Foucault beschäftigt vor allem die Frage, wie eine Geschichte der Wahrheit beziehungsweise eine Geschichte der Diskurse über die Wahrheit zu schreiben ist. Er setzt schon zu dieser Zeit in der griechischen Antike an und verfolgt das Thema bis zu Nietzsche - einem für Foucaults Werk eminent wichtigen Autor. In der Frage nach der Wahrheit und ihrer Geschichte scheinen daher wie unter einem Brennglas alle Motive des Foucaultschen uvre schon Anfang der 1970er Jahre zusammenzulaufen. Ein erstaunliches Dokument, nicht nur für Foucault-Kenner, sondern auch für alle, die es werden wollen.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Schmerzlich vermisst Rezensent Martin Stingelin Michel Foucaults Duktus in diesen aus Karteikarten rekonstruierten Vorlesungen, die Foucault 1971 am College de France gehalten und in denen er, wie Stingelin erläutert, sich mit Nietzsche der Antike annähert, Aristoteles und den Sophisten vor dem Background eines Umbruchs zwischen archaischer und neuer Rechtssprechung und weiterer politischer Veränderungen im 7. und 6. vorchristlichen Jahrhundert. Die Warnung an den Leser mildert der vom Rezensenten erwähnte Umstand, dass auch die Vorträge über die Tragödie bei Sophokles und zur Erkenntniskritik Nietzsches im Band enthalten sind - beides gut ausformulierte Arbeiten Foucaults.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.08.2013Nietzsche und die Antike sind immer modern
Michel Foucaults erstes Jahr am Collège de France
Wie mögen die 17 000 - von etwa 40 000 - athenischen Bürger, die 430 v. Chr. der Uraufführung von Sophokles' "König Ödipus" im Rahmen der Großen Dionysien beigewohnt haben, dieses Schauspiel gesehen haben? Es stand in ihm Politisches, das heißt für die Frage ihres Zusammenlebens Entscheidendes auf dem Spiel. Doch was genau? Michel Foucaults 1971 im Rahmen seiner ersten Vorlesung am Collège de France in Paris gegebene Antwort: Wo erst Hören und Sehen, Orakelweissagung und Augenzeugenschaft, Prophezeiung und Verhör, Herrscherweisheit und Sklavenverstand, Arkanum und Verschweigen gemeinsam die Wahrheit symbolisch hervorbringen, entstehe eine moderne, bis heute wirkungsmächtige Vereinigung von Wissen und Macht, über die sich Ödipus in seinen Allmachtsphantasien nicht ungestraft hinwegsetzen durfte.
Foucault hatte gerade erst in seiner Antrittsvorlesung über "Die Ordnung des Diskurses" ein Programm formuliert: Zu untersuchen galt es die Prozeduren, durch die eine Gesellschaft ihre Diskurse, das heißt dasjenige, was überhaupt gesagt werden kann und darf, kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert. Doch kaum hatte Foucault dieses Programm skizziert, wandte er sich selbst beim Versuch, die Frage zu beantworten, woher unser im Grunde genommen überraschender Wahrheitswille rührt, der Antike zu: dem Verhältnis von Streben nach Wissen und Lust bei Aristoteles einerseits, dem trickreichen Spiel mit der Materialität der Sprache bei den Sophisten andrerseits. Aristoteles und die Sophisten werden von Foucault dabei vor dem Hintergrund des Umbruchs zwischen der archaischen und der neuen Rechtsprechung, der Agrarkrise und politischer Veränderungen im siebten und sechsten Jahrhundert vor Christus erörtert.
Doch keine moderne Antike ohne Nietzsche, dem eine ebenfalls aus diesem Zyklus hervorgegangene, mehrfach wiederholte Vorlesung Foucaults gilt, die schließlich in den wichtigen Beitrag "Nietzsche, die Genealogie, die Historie" zur Gedenkschrift für seinen Vorgänger Jean Hyppolite mündet: "Nietzsche verlegt die Wurzel und die raison d'être der Wahrheit in den Willen."
Man kann den Leser allerdings nur warnen: Es handelt sich - bis auf die beiden wiederholten und entschieden ausformulierteren Vorträge über Sophokles' Tragödie "König Ödipus" und die Erkenntniskritik Friedrich Nietzsches, die das Buch zusätzlich enthält - um die einzigen nicht auf Tonband mitgeschnittenen Vorlesungszyklen Foucaults am Collège. Der Text wurde nach Foucaults Karteikarten rekonstruiert. Als gewundenes Flickwerk hat "Libération" diese Vorlesungen, als sie vor zwei Jahren im französischen Original erschienen sind, bezeichnet; "Le Monde" war zwar milder im Urteil, Elisabeth Roudinesco konnte aber trotzdem nur eine "metallische Stimme" vernehmen, die tatsächlich den Duktus von Foucault, wie ihn die dokumentierten Vorlesungen vorführen, schmerzlich vermissen lässt.
MARTIN STINGELIN
Michel Foucault: "Über den Willen zum Wissen". Vorlesungen am Collège de France 1970-1971.
Aus dem Französischen von Michael Bischoff. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 394 S., geb., 42,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Michel Foucaults erstes Jahr am Collège de France
Wie mögen die 17 000 - von etwa 40 000 - athenischen Bürger, die 430 v. Chr. der Uraufführung von Sophokles' "König Ödipus" im Rahmen der Großen Dionysien beigewohnt haben, dieses Schauspiel gesehen haben? Es stand in ihm Politisches, das heißt für die Frage ihres Zusammenlebens Entscheidendes auf dem Spiel. Doch was genau? Michel Foucaults 1971 im Rahmen seiner ersten Vorlesung am Collège de France in Paris gegebene Antwort: Wo erst Hören und Sehen, Orakelweissagung und Augenzeugenschaft, Prophezeiung und Verhör, Herrscherweisheit und Sklavenverstand, Arkanum und Verschweigen gemeinsam die Wahrheit symbolisch hervorbringen, entstehe eine moderne, bis heute wirkungsmächtige Vereinigung von Wissen und Macht, über die sich Ödipus in seinen Allmachtsphantasien nicht ungestraft hinwegsetzen durfte.
Foucault hatte gerade erst in seiner Antrittsvorlesung über "Die Ordnung des Diskurses" ein Programm formuliert: Zu untersuchen galt es die Prozeduren, durch die eine Gesellschaft ihre Diskurse, das heißt dasjenige, was überhaupt gesagt werden kann und darf, kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert. Doch kaum hatte Foucault dieses Programm skizziert, wandte er sich selbst beim Versuch, die Frage zu beantworten, woher unser im Grunde genommen überraschender Wahrheitswille rührt, der Antike zu: dem Verhältnis von Streben nach Wissen und Lust bei Aristoteles einerseits, dem trickreichen Spiel mit der Materialität der Sprache bei den Sophisten andrerseits. Aristoteles und die Sophisten werden von Foucault dabei vor dem Hintergrund des Umbruchs zwischen der archaischen und der neuen Rechtsprechung, der Agrarkrise und politischer Veränderungen im siebten und sechsten Jahrhundert vor Christus erörtert.
Doch keine moderne Antike ohne Nietzsche, dem eine ebenfalls aus diesem Zyklus hervorgegangene, mehrfach wiederholte Vorlesung Foucaults gilt, die schließlich in den wichtigen Beitrag "Nietzsche, die Genealogie, die Historie" zur Gedenkschrift für seinen Vorgänger Jean Hyppolite mündet: "Nietzsche verlegt die Wurzel und die raison d'être der Wahrheit in den Willen."
Man kann den Leser allerdings nur warnen: Es handelt sich - bis auf die beiden wiederholten und entschieden ausformulierteren Vorträge über Sophokles' Tragödie "König Ödipus" und die Erkenntniskritik Friedrich Nietzsches, die das Buch zusätzlich enthält - um die einzigen nicht auf Tonband mitgeschnittenen Vorlesungszyklen Foucaults am Collège. Der Text wurde nach Foucaults Karteikarten rekonstruiert. Als gewundenes Flickwerk hat "Libération" diese Vorlesungen, als sie vor zwei Jahren im französischen Original erschienen sind, bezeichnet; "Le Monde" war zwar milder im Urteil, Elisabeth Roudinesco konnte aber trotzdem nur eine "metallische Stimme" vernehmen, die tatsächlich den Duktus von Foucault, wie ihn die dokumentierten Vorlesungen vorführen, schmerzlich vermissen lässt.
MARTIN STINGELIN
Michel Foucault: "Über den Willen zum Wissen". Vorlesungen am Collège de France 1970-1971.
Aus dem Französischen von Michael Bischoff. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 394 S., geb., 42,95 [Euro].
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