Gerhard A. Ritter zeigt, an welche unterschiedlichen Traditionslinien die beiden deutschen Staaten nach Kriegsende anknüpften und wie verschieden die grundlegenden Wandlungsprozesse in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft ausfielen. Er lotet das Ausmaß der Amerikanisierung der Bundesrepublik und der Sowjetisierung der DDR aus und zeigt, wie die unterschiedlichen Orientierungsmuster die Schaffung einer inneren Einheit nach 1989 erschwerten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.05.1999Ein feingezeichnetes, gedrängtes Bild
Gerhard A. Ritter über Deutschland
Gerhard A. Ritter: Über Deutschland. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte. C. H. Beck Verlag, München 1998. 303 Seiten, 39,80 Mark.
Auch fast zehn Jahre nach Wiederherstellung der nationalstaatlichen Einheit sind informative und erhellende Bücher über Deutschland eine Seltenheit. Schon deshalb nimmt man Gerhard A. Ritters "Über Deutschland" erwartungsvoll zur Hand. Der Titel erinnert an die wenigen epochenübergreifenden Darstellungen Nachkriegsdeutschlands, wie sie Karl Dietrich Bracher, Ralf Dahrendorf, Norbert Elias und Christian Graf von Krockow in früheren Jahren vorgelegt haben. Aber es geht Ritter nicht um eine übergreifende, gar theoretische Problemsicht.
Zunächst wendet er sich den Institutionen der alten Bundesrepublik zu, dann denen der DDR, um am Ende den Blick auf die wiedergewonnene staatliche Einheit und die Überwindung der sozialen und ökonomischen Ost-West-Teilung zu lenken. Die viel zitierte Zäsur des Jahres 1945 erweist sich im Rückblick als Produkt von Wunschdenken und polemischer Überzeichnung. Weder haben jene recht behalten, die an eine Stunde Null glaubten, noch erfüllten sich die Prophezeiungen einer Wiederherstellung vordemokratischer Verhältnisse. Der "Neuaufbau", so faßt Ritter die inzwischen umfangreiche Literatur zur Modernisierung im Wiederaufbau treffend und mehrdeutig zusammen, war "doppelbödig". Kennzeichnend war "das Nebeneinander von Altem und Neuem". Dabei erscheinen ihm die Veränderungen auffälliger und aufs Ganze gesehen ausschlaggebend: In der Bundesrepublik konnten die überkommenen Klassengegensätze überwunden werden zugunsten einer größeren Angleichung der sozialen Verhältnisse, verloren die ostelbischen Eliten ebenso ihre Macht wie der deutsche Militarismus seine politische Vormachtstellung und soziale Geltung.
Grundgesetz aus Erfahrung.
Darüber hinaus gelang es, die konfessionelle Spaltung zu überwinden, und an die Stelle der Ostwest-Mittellage trat die Anbindung des westdeutschen Teilstaates an die atlantische Allianz und die westeuropäische Integration. Vor diesem Hintergrund gewann die Verarbeitung historischer Erfahrung im Grundgesetz erhebliche Bedeutung: der Weimarer Gegensatz von präsidentieller und parlamentarischer Regierungsform wurde beseitigt, die politischen Parteien ebenso aufgewertet wie die Grundrechte. Sie stehen nun am Anfang der Verfassung und sind für den Gesetzgeber, die Exekutive und die Gerichte unmittelbar geltendes Recht. Eine weitere Konsequenz war die Errichtung eines Bundesverfassungsgerichts. Dessen große Bedeutung wird ebenso gewürdigt wie die politischen Kosten des Verfassungshüters nicht verschwiegen werden.
Die großen politischen Veränderungen und sozialen Integrationsleistungen nehmen in dieser Bilanz zu Recht einen herausgehobenen Platz ein: die Aufwertung und Entfaltung föderativer Strukturen; die Entstehung einer überkonfessionell-christlichen Volkspartei und die Umwandlung der SPD von einer Arbeiter-Klassenpartei in eine Arbeitnehmer-Volkspartei. Der Herausbildung von zwei großen Volksparteien ist es im übrigen zu danken, daß das links- und rechtsextremistische Wählerpotential integriert oder an den Rand des politischen Spektrums gedrängt werden konnte. Beachtlich war die Integration der etwa 12 Millionen Flüchtlinge. Der Mitte der fünfziger Jahre beginnende Zustrom von ausländischen Arbeitskräften machte die Bundesrepublik zu einem der größten Einwanderungsländer und konfrontiert sie bis heute mit erheblichen Problemen. Einschneidend war der Wandel der Mentalitäten, Lebensstile und Wertorientierungen und nicht zuletzt die Auseinandersetzung um die faktische Gleichberechtigung von Frauen und Männern, die 1994 in Art. 3.2 GG zur Staatsaufgabe gemacht wurde. Tendenzen der "Amerikanisierung" der Bundesrepublik werden ebenso angedeutet wie solche der "Sowjetisierung" in der DDR.
Auch von der inneren Entwicklung des ostdeutschen Teilstaates gibt Ritter ein differenziertes, wenn auch gedrängtes Bild. Im Vergleich zur Bundesrepublik erscheint einerseits der Bruch mit den ökonomischen Verhältnissen des Dritten Reiches sehr viel größer, andererseits ist aber auch der Fortbestand älterer autoritärer Traditionen und kleinbürgerlicher Lebensformen und Wertmuster nicht zu übersehen, wie er insbesondere für die DDR-Elite charakteristisch war. Seit den sechziger Jahren suchte sich die DDR mit einer "sozialistischen" Sozialpolitik zu legitimieren und mit dem obrigkeitsstaatlichen Konzept der "sozialen Geborgenheit" gegenüber dem Westen zugleich ihre Überlegenheit zu beweisen. Sosehr sich die DDR-Bevölkerung auch mit den "sozialen Errungenschaften", mit medizinischer Grundversorgung, Recht auf Arbeit und Bildungsangeboten identifiziert hat, so wenig ist zu bestreiten, daß sie zur Stagnation und zum Ende der DDR beigetragen haben.
Der Zusammenbruch und die dramatische politische Entwicklung des Jahres 1989/90 bleiben allerdings außer Betracht. Dabei widmet Ritter sein Buch ausdrücklich den Demonstranten, "die eine Diktatur zum Einsturz brachten". Die Grenzen der Konzeption dieses sehr gestrafften sozialgeschichtlichen Überblicks über die Nachkriegszeit zeigen sich aber vor allem dort, wo der Verfasser auf drei, vier Seiten auch noch die politische und ästhetische Kultur beider deutscher Staaten vorstellen möchte.
Umwälzung in Zahlen.
Zum Schluß wird das Profil der beiden deutschen Gesellschaften nach der Wiedergewinnung der staatlichen Einheit skizziert, werden die sozialwissenschaftlichen Forschungsergebnisse emotionslos zusammengefaßt. Die Dramatik des Zusammenbruchs der DDR und die außerordentliche Umwälzung, die sich in den neuen Bundesländern innerhalb weniger Jahre vollzogen hat, verlieren sich in spröden Zahlenangaben: Elitenaustausch auf regionaler und kommunaler Ebene, der Umbau des Rechts- und Bildungssystems, der Verlust von etwa vier Millionen Arbeitsplätzen im industriellen Sektor, die hohe Frauenarbeitslosigkeit und die große Bedeutung des zweiten Arbeitsmarktes einerseits, die Neugründung von einer halben Million mittelständischer Unternehmen mit mehr als drei Millionen Beschäftigten, der Angleichung der Wirtschafts- und Sozialstruktur beider deutscher Staaten und die gewaltigen Transferleistungen anderer.
Nach diesem dichten, material- und überaus kenntnisreichen Überblick über die sozialgeschichtlichen Brüche und Kontinuitäten der jüngeren und jüngsten deutschen Geschichte ist man über Deutschland belehrt und gut informiert. Und doch legt man das Buch, das doch die neue Bundesrepublik in der deutschen Geschichte einen Platz anweisen wollte, etwas unbefriedigt aus der Hand: Ein Versuch, das wiedervereinte Deutschland mit seinen widersprüchlichen historischen Erfahrungen und zukünftigen politischen Erwartungen zu verorten, wird nicht unternommen. Die aktuellen Debatten um die "postnationale Demokratie" (Jürgen Habermas) oder das "unglückliche nationalstaatliche Bewußtsein" (Hans-Peter Schwarz) werden mit keinem Wort erwähnt.
PETER REICHEL
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gerhard A. Ritter über Deutschland
Gerhard A. Ritter: Über Deutschland. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte. C. H. Beck Verlag, München 1998. 303 Seiten, 39,80 Mark.
Auch fast zehn Jahre nach Wiederherstellung der nationalstaatlichen Einheit sind informative und erhellende Bücher über Deutschland eine Seltenheit. Schon deshalb nimmt man Gerhard A. Ritters "Über Deutschland" erwartungsvoll zur Hand. Der Titel erinnert an die wenigen epochenübergreifenden Darstellungen Nachkriegsdeutschlands, wie sie Karl Dietrich Bracher, Ralf Dahrendorf, Norbert Elias und Christian Graf von Krockow in früheren Jahren vorgelegt haben. Aber es geht Ritter nicht um eine übergreifende, gar theoretische Problemsicht.
Zunächst wendet er sich den Institutionen der alten Bundesrepublik zu, dann denen der DDR, um am Ende den Blick auf die wiedergewonnene staatliche Einheit und die Überwindung der sozialen und ökonomischen Ost-West-Teilung zu lenken. Die viel zitierte Zäsur des Jahres 1945 erweist sich im Rückblick als Produkt von Wunschdenken und polemischer Überzeichnung. Weder haben jene recht behalten, die an eine Stunde Null glaubten, noch erfüllten sich die Prophezeiungen einer Wiederherstellung vordemokratischer Verhältnisse. Der "Neuaufbau", so faßt Ritter die inzwischen umfangreiche Literatur zur Modernisierung im Wiederaufbau treffend und mehrdeutig zusammen, war "doppelbödig". Kennzeichnend war "das Nebeneinander von Altem und Neuem". Dabei erscheinen ihm die Veränderungen auffälliger und aufs Ganze gesehen ausschlaggebend: In der Bundesrepublik konnten die überkommenen Klassengegensätze überwunden werden zugunsten einer größeren Angleichung der sozialen Verhältnisse, verloren die ostelbischen Eliten ebenso ihre Macht wie der deutsche Militarismus seine politische Vormachtstellung und soziale Geltung.
Grundgesetz aus Erfahrung.
Darüber hinaus gelang es, die konfessionelle Spaltung zu überwinden, und an die Stelle der Ostwest-Mittellage trat die Anbindung des westdeutschen Teilstaates an die atlantische Allianz und die westeuropäische Integration. Vor diesem Hintergrund gewann die Verarbeitung historischer Erfahrung im Grundgesetz erhebliche Bedeutung: der Weimarer Gegensatz von präsidentieller und parlamentarischer Regierungsform wurde beseitigt, die politischen Parteien ebenso aufgewertet wie die Grundrechte. Sie stehen nun am Anfang der Verfassung und sind für den Gesetzgeber, die Exekutive und die Gerichte unmittelbar geltendes Recht. Eine weitere Konsequenz war die Errichtung eines Bundesverfassungsgerichts. Dessen große Bedeutung wird ebenso gewürdigt wie die politischen Kosten des Verfassungshüters nicht verschwiegen werden.
Die großen politischen Veränderungen und sozialen Integrationsleistungen nehmen in dieser Bilanz zu Recht einen herausgehobenen Platz ein: die Aufwertung und Entfaltung föderativer Strukturen; die Entstehung einer überkonfessionell-christlichen Volkspartei und die Umwandlung der SPD von einer Arbeiter-Klassenpartei in eine Arbeitnehmer-Volkspartei. Der Herausbildung von zwei großen Volksparteien ist es im übrigen zu danken, daß das links- und rechtsextremistische Wählerpotential integriert oder an den Rand des politischen Spektrums gedrängt werden konnte. Beachtlich war die Integration der etwa 12 Millionen Flüchtlinge. Der Mitte der fünfziger Jahre beginnende Zustrom von ausländischen Arbeitskräften machte die Bundesrepublik zu einem der größten Einwanderungsländer und konfrontiert sie bis heute mit erheblichen Problemen. Einschneidend war der Wandel der Mentalitäten, Lebensstile und Wertorientierungen und nicht zuletzt die Auseinandersetzung um die faktische Gleichberechtigung von Frauen und Männern, die 1994 in Art. 3.2 GG zur Staatsaufgabe gemacht wurde. Tendenzen der "Amerikanisierung" der Bundesrepublik werden ebenso angedeutet wie solche der "Sowjetisierung" in der DDR.
Auch von der inneren Entwicklung des ostdeutschen Teilstaates gibt Ritter ein differenziertes, wenn auch gedrängtes Bild. Im Vergleich zur Bundesrepublik erscheint einerseits der Bruch mit den ökonomischen Verhältnissen des Dritten Reiches sehr viel größer, andererseits ist aber auch der Fortbestand älterer autoritärer Traditionen und kleinbürgerlicher Lebensformen und Wertmuster nicht zu übersehen, wie er insbesondere für die DDR-Elite charakteristisch war. Seit den sechziger Jahren suchte sich die DDR mit einer "sozialistischen" Sozialpolitik zu legitimieren und mit dem obrigkeitsstaatlichen Konzept der "sozialen Geborgenheit" gegenüber dem Westen zugleich ihre Überlegenheit zu beweisen. Sosehr sich die DDR-Bevölkerung auch mit den "sozialen Errungenschaften", mit medizinischer Grundversorgung, Recht auf Arbeit und Bildungsangeboten identifiziert hat, so wenig ist zu bestreiten, daß sie zur Stagnation und zum Ende der DDR beigetragen haben.
Der Zusammenbruch und die dramatische politische Entwicklung des Jahres 1989/90 bleiben allerdings außer Betracht. Dabei widmet Ritter sein Buch ausdrücklich den Demonstranten, "die eine Diktatur zum Einsturz brachten". Die Grenzen der Konzeption dieses sehr gestrafften sozialgeschichtlichen Überblicks über die Nachkriegszeit zeigen sich aber vor allem dort, wo der Verfasser auf drei, vier Seiten auch noch die politische und ästhetische Kultur beider deutscher Staaten vorstellen möchte.
Umwälzung in Zahlen.
Zum Schluß wird das Profil der beiden deutschen Gesellschaften nach der Wiedergewinnung der staatlichen Einheit skizziert, werden die sozialwissenschaftlichen Forschungsergebnisse emotionslos zusammengefaßt. Die Dramatik des Zusammenbruchs der DDR und die außerordentliche Umwälzung, die sich in den neuen Bundesländern innerhalb weniger Jahre vollzogen hat, verlieren sich in spröden Zahlenangaben: Elitenaustausch auf regionaler und kommunaler Ebene, der Umbau des Rechts- und Bildungssystems, der Verlust von etwa vier Millionen Arbeitsplätzen im industriellen Sektor, die hohe Frauenarbeitslosigkeit und die große Bedeutung des zweiten Arbeitsmarktes einerseits, die Neugründung von einer halben Million mittelständischer Unternehmen mit mehr als drei Millionen Beschäftigten, der Angleichung der Wirtschafts- und Sozialstruktur beider deutscher Staaten und die gewaltigen Transferleistungen anderer.
Nach diesem dichten, material- und überaus kenntnisreichen Überblick über die sozialgeschichtlichen Brüche und Kontinuitäten der jüngeren und jüngsten deutschen Geschichte ist man über Deutschland belehrt und gut informiert. Und doch legt man das Buch, das doch die neue Bundesrepublik in der deutschen Geschichte einen Platz anweisen wollte, etwas unbefriedigt aus der Hand: Ein Versuch, das wiedervereinte Deutschland mit seinen widersprüchlichen historischen Erfahrungen und zukünftigen politischen Erwartungen zu verorten, wird nicht unternommen. Die aktuellen Debatten um die "postnationale Demokratie" (Jürgen Habermas) oder das "unglückliche nationalstaatliche Bewußtsein" (Hans-Peter Schwarz) werden mit keinem Wort erwähnt.
PETER REICHEL
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"... ersetzt ein ganzes Schulbuch zur neueren Geschichte Deutschlands einschließlich Sozial- und Gesellschaftsgeschichte." (Der Tagesspiegel)