Produktdetails
  • suhrkamp taschenbuch
  • Verlag: Suhrkamp
  • Abmessung: 176mm x 108mm x 14mm
  • Gewicht: 146g
  • ISBN-13: 9783518393536
  • Artikelnr.: 25192063
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.02.1997

Vichy, Jalta und die Wiedervereinigung
Eine einzige Rechtfertigung: François Mitterrands Memoiren "Über Deutschland"

François Mitterrand: Über Deutschland. Aus dem Französischen von Bernd Schwibs. Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig l996. 229 Seiten, 38,- Mark.

"Alles hat in Moskau begonnen", konstatiert François Mitterrand zu Beginn seiner irritierenden Memoiren. Auf der ersten Seite formuliert er einen Kommentar zur Perestrojka: "Die Urheber des gescheiterten Putschs vom August l991 hatten sich nicht getäuscht, als sie Gorbatschow absetzten: Durch ihn und mit ihm hatte der große Sturm der Freiheit siebzig Jahre Geschichte hinweggefegt."

Getäuscht hingegen hatte sich Mitterrand. Doch mit keinem Wort erwähnt der Autor, daß er damals noch während des Umsturzversuchs im Fernsehen sprach und sich mit den veränderten Machtverhältnissen arrangierte. Es war Mitterrands schwärzeste politische Stunde als Präsident. In Paris, noch war seine persönliche Vichy-Vergangenheit dem Publikum nicht bekannt, wurde er umgehend der Kollaborationsbereitschaft bezichtigt. In seinem unsäglichen TV-Auftritt, der einer Anerkennung der Putschisten gleichkam, zitierte Mitterrand zu allem Übel nochmals eine Aussage von Gorbatschow, mit der er bereits am 2l. November l989 seine Einstellung gegenüber der Wiedervereinigung begründet hatte: "Noch am Tag der Ankündigung der deutschen Wiedervereinigung wird eine zweizeilige Meldung verkünden, daß ein sowjetischer Marschall in meinem Sessel Platz genommen hat." Waren mit dem Umsturz in Moskau nicht alle seine Vorbehalte und Widerstände bestätigt und von der Geschichte im nachhinein legitimiert worden?

Unter dem unglücklichen Stern seiner nie eingestandenen Fehler, Versäumnisse und Lebenslügen, vor allem aber seiner gescheiterten Osteuropa-Politik am Ende der kommunistischen Epoche stehen die selektiven zweibändigen Erinnerungen, die Mitterrand nach seinem Rücktritt von der Macht im Mai l995 im Wettlauf mit dem Tod auf Band sprach und zu Papier brachte. Sie sind ein einziger Versuch der Rechtfertigung und für deutsche Leser besonders spannend, weil in ihrem Zentrum das Deutschland der Nazis und jenes der Wiedervereinigung stehen. In den "Mémoires interrompus", deren Übersetzung für das Frühjahr angekündigt ist, geht es um Mitterrands Gefangenschaft und Verhalten im Zweiten Weltkrieg. Parallel dazu schrieb er von Hand den komplementären Band "De l'Allemagne, de la France", der als erster unter dem verkürzten, aber letztlich präziseren, etwas pompös an Madame de Staël erinnernden Titel "Über Deutschland" im Insel Verlag erschienen ist.

"Ich denke", schreibt Mitterrand auf Seite 2, "daß kein anderes Ereignis in der modernen Geschichte ähnlich bedeutsam und kraft seiner Plötzlichkeit ähnlich überraschend war wie der Sturz des Sowjetimperiums." Das mag für die Historiker der allgemeinen Weltgeschichtsschreibung zutreffen - der Politiker Mitterrand hingegen hat den Zusammenbruch vorausgesehen. Der Autor schildert drei Beispiele, die das belegen sollen. Im gleichen rechthaberischen Ton erwähnt er de Gaulle: "Wäre es nach ihm gegangen, wäre Deutschland noch stärker als l945 zerstückelt worden." Doch de Gaulle brachte nur zum Ausdruck, "was die Mehrheit der Franzosen dachte. Freilich nicht ich." Mitterrand will "trotz der Fehler des Zweiten und der Verbrechen des Dritten Reiches" stets an die "Einheit eines Volkes, das sich in all seiner Unterschiedenheit deutsch fühlte und deutsch sein wollte", geglaubt haben.

Im Detail zählt er auf, wer in Deutschland auf seiner deutschlandpolitischen Linie lag. Er rechtfertigt seine umstrittenen Reisen nach Kiew und Leipzig. "Mögen die Leser mir verzeihen, wenn ich in diesem Kapitel bis zum Erbrechen Bekanntes gebetsmühlenartig wiederhole", schreibt er unvermittelt: "Mag die Seiten überspringen, wen es langweilt." Kritiker sind "meine Verleumder". Als deren Motiv macht er "die hartnäckige, tiefe und, wer weiß, unauslöschliche Animosität gewisser deutscher Meinungsmacher gegenüber Frankreich" aus: "den möglichen Ausdruck eines Grolls darüber, teuer für den Nationalsozialismus bezahlt zu haben, von seiten derer, die es den Geschlagenen von 1940 nicht verziehen, unter den Siegern von l945 zu sein. Mein Besuch in der DDR und mein Treffen mit Gorbatschow in Kiew lieferten die Hauptanklagepunkte."

Auch das Kanzleramt habe "sein Mißfallen" bekundet. Doch zum einzigen strittigen Punkt stilisiert er die Auseinandersetzungen um die Oder-Neiße-Grenze. Immer wieder sei er bei seinen Begegnungen mit Kohl - acht waren es zwischen November l989 und Mai l990 - auf diese Frage zurückgekommen. Und sichtlich zufrieden mit sich selbst zieht Mitterrand am Schluß seiner Memoiren über die Wiedervereinigung Bilanz. Unbeschadet habe die französisch-deutsche Freundschaft die Bewährungsprobe überstanden. Was, lauten seine letzten Sätze, "hätte es genützt, wenn Frankreich eine grundlegende Forderung unausgesprochen gelassen oder darauf verzichtet hätte? Ich hatte gesagt, daß, solange die Frage der Grenzen nicht geregelt sei, auch die Akte der deutschen Einheit nicht geschlossen sei. Von nun an war sie es."

Der unaufrichtige Umgang mit l989 wirft auch Schatten auf seine Sympathiebezeugungen für Deutschland. Sie gipfeln in einer spektakulären Rehabilitierung Preußens und der umstrittenen Berliner Rede vom 8. Mai, die in der Originalausgabe am Schluß der beigefügten "Belege" steht (die deutsche Edition wurde geringfügig umstrukturiert) und den Patriotismus der Wehrmacht unterstreicht. Mitterrand führt seine Deutschfreundlichkeit auf den Krieg zurück, auf die Gefangenschaft wie auf den Widerstand - intensiver äußert er sich dazu im zweiten Band seiner Memoiren. Auch wenn er jetzt seine Germanophilie übertreiben mag: es gibt tatsächlich wenig Grund, an ihr zu zweifeln. Im Gegensatz zu den Kommunisten und Gaullisten, seinen historischen Gegenspielern, hat er nie mit dem antideutschen Ressentiment, das zeitweise sehr wirkungsvoll sein konnte, Innenpolitik gemacht.

Der verstorbene Präsident war geradezu besessen, "Jalta zu überwinden". Das Thema Jalta, Synonym für Frankreichs Trauma der Jahre l940 bis 1944, tauchte leitmotivartig und meist auf absolut überraschende Weise in seinen ideologischen Absichtserklärungen auf. Der "Überwindung Jaltas" war er aus persönlichen und innenpolitischen Gründen stärker verpflichtet als dem Sozialismus und dieser nur ein Mittel zum Zweck. In diesem Punkt stand Mitterrand de Gaulle am nächsten. Innerhalb dieses Horizonts behielten beide die Wiedervereinigung im Auge. Die Franzosen mochten sie fürchten oder bekämpfen - sie blieb für sie eine, und sei es ferne, Selbstverständlichkeit auch zu Zeiten, da in Deutschland nur sogenannte reaktionäre Kreise an ihr festhielten und niemand wirklich an sie zu glauben schien. Der intellektuelle wie politische Beitrag des westlichen Nachbarn zu ihr ist immens; auch jener Mitterrands. Daß er im Moment, da die Überwindung Jaltas möglich wurde, so verstört und ungeschickt reagierte, kann gar nicht besonders überraschen. Unverständlicher ist schon die Vehemenz seiner Dementis, die ihn permanent dem Verdacht aussetzen, nicht die Wahrheit zu sagen.

Man kann für Mitterrands Orientierungslosigkeit am Ende des Kommunismus, den er innenpolitisch benützt, bekämpft und auf einen historischen Tiefstand reduziert hat, vielerlei Gründe aufführen. Mit der Überwindung Jaltas brachen Mitterrands Lebenslügen zusammen. Die Wiedervereinigung führte ihn an die Ursprünge seiner Karriere zurück und konfrontierte ihn mit seinen primären politischen Wahrheiten, die er systematisch aus seiner Biographie eliminiert hatte. Von seiner verdrängten Vergangenheit wurde Mitterrand wenig später auch öffentlich eingeholt: Pierre Péans Buch "Eine französische Jugend" löste in Frankreich einen kollektiven Schock aus - und auch ein bißchen Erleichterung.

Unter dem Druck dieser innenpolitisch brisanten Enthüllungen und seines außenpolitischen Versagens bei der Überwindung des Kommunismus entstanden Mitterrands merkwürdige Memoiren, die in ihrer gleichzeitigen Verlogenheit und Aufrichtigkeit seine Ambivalenz widerspiegeln. Sie sind stilistisch nicht auf der Höhe seines literarischen Niveaus, ihre gedankliche Substanz ist eher dürftig - auch fehlen seine brillanten politischen Situationsanalysen. Alle Spuren seines genialen Zynismus sind verwischt. Weit und breit keine Vision für die Zeit nach ihm. Wenig Neues - und dennoch handelt es sich um ein faszinierendes Stück Literatur. Es eröffnet einen verschlüsselten Einblick in seinen Umgang mit der Vergangenheit.

Sie prägte Mitterrands Europa-Politik, die nicht ausschließlich auf der einsichtigen Versöhnung und dem großen Pardon für die Okkupation bestand. Sie wurde auch, das machen seine Memoiren deutlich, von einer nie ausgesprochenen und nur halbwegs eingestandenen Mitverantwortung für Vichy getragen und von Mitterrands Zaudern und seinen Fehlern während der Wiedervereinigung keineswegs in Frage gestellt. Zu hoffen bleibt, daß die europäische Vision Mitterrands Tod, das Ende der Verdrängung und von Jalta überleben wird. JÜRG ALTWEGG

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