Nach einer Geschäftsreise zu einer Antiquariatsmesse in Bordeaux beginnt für die Buchhändlerin Tara Selter, die mit ihrem Mann Thomas in einem Haus in Nordfrankreich lebt, die Zeit stillzustehen. Gefangen in einer Wiederholung, durchlebt sie stets von Neuem jenen 18. November, während es für Thomas und alle anderen Menschen, denen sie begegnet, ein immer neuer Anfang ist. Sie erinnern sich an nichts, was »gestern« war, erwachen stets zu ihrem ersten 18. November des Jahres. Genießt Tara diese Zeit des »Schwindels« im doppelten Sinne die ersten sechzig Tage noch, offenbart sich langsam ein Problem: Sie wird älter, Thomas nicht. Die beiden, die sich zuvor so nahegestanden haben, entfernen sich voneinander - und Tara versucht versessen, aus dem 18. November herauszufinden.
Über die Berechnung des Rauminhalts I ist der erste Band eines groß angelegten Romanprojekts, in dem Solvej Balle die Fiktion von der Wirklichkeit befreit, ohne jedoch Science-Fiction zu schreiben. Mit einem präzisen, stets aufmerksam lauschenden Stil schildert Balle die Mechanik und Monotonie der Zeitschleife, in die ihre Protagonistin gerät, sowie die ungewöhnliche Liebesbeziehung, die sich daraus ergibt. Eindringlich führt sie uns vor Augen, wie jeder in seiner eigenen Blase lebt, und lehrt uns - wie es große Literatur oft tut -, die Welt mit neuen Augen zu sehen.
Über die Berechnung des Rauminhalts I ist der erste Band eines groß angelegten Romanprojekts, in dem Solvej Balle die Fiktion von der Wirklichkeit befreit, ohne jedoch Science-Fiction zu schreiben. Mit einem präzisen, stets aufmerksam lauschenden Stil schildert Balle die Mechanik und Monotonie der Zeitschleife, in die ihre Protagonistin gerät, sowie die ungewöhnliche Liebesbeziehung, die sich daraus ergibt. Eindringlich führt sie uns vor Augen, wie jeder in seiner eigenen Blase lebt, und lehrt uns - wie es große Literatur oft tut -, die Welt mit neuen Augen zu sehen.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Sophie Wennerscheid erlebt mit Solvej Balles Protagonistin einen Tag, den 18. November, immer wieder und wieder. Dass es aus diesem Tag kein Entkommen gibt, merkt sie schnell, und auch, was die Autorin damit bezweckt: Es geht um die Entwicklung einer besonderen Sensibilität für Details, für das Atmen der Welt und unseren Umgang mit ihr. Die "existenzielle Parabel", Teil eines mehrbändigen Projekts, überzeugt Wennerscheid nicht zuletzt durch den von Peter Urban-Halle verlustarm transportierten rhythmischen, tastenden Balle-Sound, der die stille Panik der Heldin gut einfängt, wie die Rezensentin findet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.03.2023Der ewige Tanz des einsamen Paares
Die dänische Autorin Solvej Balle vermisst den Raum, die Zeit und die Geborgenheit
In Zeitschleifen-Geschichten geht es in der Regel hoch her. Der feingedrechselte Roman "Über die Berechnung des Rauminhalts I" der dänischen Autorin Solvej Balle ist da anders. Still und ruhig erzählt er von einer Frau, deren Nähe zu einem Mann sich allmählich verliert, von der Liebe, die eben noch von eingeübten Alltagsmustern getragen wurde, der Bindung, die sich zu lockern beginnt, der Distanz, die eines Tages als solche empfunden und vergrößert wird, dem ratlosen Warten auf eine Idee, mit der sich alles wieder umkehrt.
Es ist ein bisschen wie in der "sachliche Romanze" von Kästner. Doch zu der zählen Tränen: "Sie waren traurig, betrugen sich heiter, versuchten Küsse, als ob nichts sei, und sahen sich an und wußten nicht weiter. Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei." Die Ich-Erzählerin in Solvej Balles Roman wird nicht von Gefühlen durchschüttelt. Sie ist eine nüchterne Beobachterin ihrer selbst, wird durch das Tagebuchschreiben, die konzentrierte Arbeit mit Stift und Papier, stabilisiert.
Nur Datumsangaben fehlen - aus gutem Grund. Wir lesen die durchnummerierten Notizen einer Frau, die wie in einer Science-Fiction-Novelle, wie im Murmeltierfilm oder Serien wie "Matrjoschka" immer wieder aufs Neue den 18. November erlebt. "#121" steht über der ersten Notiz, "#122" über der zweiten. Das Leben von Tara, die mit ihrem Lebensgefährten Thomas einen Versandhandel für antiquarische Bücher betreibt, ist zu einem ewigen Herbsttag geworden. Der sich zu Romanbeginn bereits zum 121. Mal wiederholt und trotzdem nie völlig identisch abläuft.
Für Variation sorgt zum einen das Schreiben; wer Gleiches mehrfach beschreibt, findet dafür jedes Mal andere Worte, jedes Mal erscheinen andere Details als wichtig, und nach ihnen suchen kann man ja auch: "Es sind die Wörter, die entscheidend sind." Zum anderen gibt es Gegenstände, die sich der Zeitschleifenlogik widersetzen, und erst recht Taras Körper ist vom Geschehen unbeeindruckt: Während ihr Lebensgefährte nicht weiß, dass er diesen Tag schon einmal erlebte, und jedes Mal überrascht ist, wenn Tara den "kleinen Zeitdefekt" thematisiert ("Siebenundzwanzig Tage untersuchten wir die Mechanik des Tages"), kann sich Tara erinnern, und auch eine Brandwunde ist am nächsten Morgen, dem nächsten 18. November, nicht einfach weg. Sie kann Erfahrungen sammeln, er kann es nicht. Ihr wachsen die Haare, er altert nicht: "Unsere Körper lebten in zwei Zeiten." Auch Taras Gefühle verändern sich. Am 17. November, dem letzten normalen Tag, war sie von ihrem Haus in Nordfrankreich zu einer Versteigerung illustrierter Bücher in Bordeaux und von dort nach Paris gefahren, am ersten 18. November ebendort im Hotel aufgewacht. Aber sie springt nicht am Ende jeder Wiederholung nach Paris zurück. Sie kann wählen, wo sie aufwachen will. In der Anfangszeit wählt sie das Bett von Thomas, mit dem sie eine auch körperlich glückliche Beziehung führt.
An dem Tag, an dem sie "#121" auf einem Bogen Papier vermerkt, lebt sie im Gästezimmer des Hauses, ohne dass Thomas ihre Anwesenheit ahnt. Er ist für sie nur noch ein vertrautes Geräusch, dem sie aufmerksam lauscht und das sie bei aller Sehnsucht nach dem Ausbruch aus dem vorhersehbaren Ablauf zum Wohlfühlen braucht. Über das Leben, das sich kontaktlos auf zwei Etagen abspielt, heißt es einige Einträge später: "Wir bewegen uns im Takt, in Harmonie, wir spielen ein Duett, oder wir sind ein ganzes Orchester. Wir haben den Regen und das Licht, das sich ändert." Noch später wird sich auch dieses gemeinsam einsame Tanzen verlieren.
Der Romantitel "Über die Berechnung des Rauminhalts" könnte nicht passender gewählt sein: Tara studiert mit jedem Eintrag aufs Neue den Abstand zu ihrem "noch nicht verlorenen Geliebten", den emotionalen und tatsächlichen Raum, auf dem sie lebt, vergrößert den Abstand und beobachtet und beschreibt und "berechnet" erneut. Wobei sie gezwungenermaßen auch das Mysterium Zeit zu verstehen versucht. Das muss nicht in den Titel. Das versteht sich von selbst.
Solvej Balle, die seit den Romanen "Lyrefugl" (eine Frau stürzt mit Inger Christensens Lyrikband "Alfabet" auf eine einsame Insel) und vor allem "Nach dem Gesetz" (um vier Wissenschaftler und das Irrationale) als wichtige literarische Stimme Dänemarks gilt und ebenso sparsam formuliert, wie sie in den dreißig Jahren nach ihrem Durchbruch publiziert hat, kommt aus dem Minimalismus. Sie formuliert klar und auf das Notwendigste reduziert, kann diesen eigentlich recht schönen Novembertag mit wenigen dahingetupften Worten wie "Tee", "Brennholz", "Apfelbaum" und "Mangold" sinnlich beschrieben. Und die Sätze haben einen Rhythmus, der den Leser betört und dazu führt, dass man diese Meditation (die Peter Urban-Halle übersetzt hat) eigentlich lieber hören als lesen oder laut vorlesen möchte.
Geräusche spielen eine Rolle, kleine Beobachtungen, kurze Gedanken. So muss es auch sein, wenn Tara einen Ausweg aus der Schleife finden will, den es vielleicht gibt, falls sie die Details und Muster und Zyklen versteht. Oder auch nicht. Einmal stellt sie erschöpft fest, nichts Neues mehr zu finden: "Ich bin morgens aufgewacht, habe den Regen betrachtet und die Vögel im Garten, ich habe den Geräuschen im Haus gelauscht, und am Nachmittag, wenn ich die Musik aus dem Wohnzimmer hörte, bin ich hinausgegangen, und eines Tages fing ich an zu schreiben, dass es der achtzehnte November und dass ein Mensch im Haus war." Dann horcht sie in sich selbst und entdeckt: "Ich habe eine Laune. Das ist neu . . . Das ist etwas anderes als Hoffnung, aber es ist doch etwas." Mit dem Eintrag "#366", an einem Punkt, mit dem einige Spannung verbunden ist, weil nun ohne Zeitschleife genau ein Jahr durchschritten sein müsste, endet der Band. Sechs weitere Bände sollen es werden. Für die ersten drei erhielt Solvej Balle den Literaturpreis des Nordischen Rats 2022. Ungeduldig warten wir zwecks Achtsamkeitsschulung auf Nachschub und schauen durchs Fenster nach draußen: "Die Wolken erzählen, dass die Zeit vergangen ist." MATTHIAS HANNEMANN
Solvej Balle: "Über die Berechnung des Rauminhalts I". Roman.
Aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle. Matthes & Seitz, Berlin 2023. 170 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die dänische Autorin Solvej Balle vermisst den Raum, die Zeit und die Geborgenheit
In Zeitschleifen-Geschichten geht es in der Regel hoch her. Der feingedrechselte Roman "Über die Berechnung des Rauminhalts I" der dänischen Autorin Solvej Balle ist da anders. Still und ruhig erzählt er von einer Frau, deren Nähe zu einem Mann sich allmählich verliert, von der Liebe, die eben noch von eingeübten Alltagsmustern getragen wurde, der Bindung, die sich zu lockern beginnt, der Distanz, die eines Tages als solche empfunden und vergrößert wird, dem ratlosen Warten auf eine Idee, mit der sich alles wieder umkehrt.
Es ist ein bisschen wie in der "sachliche Romanze" von Kästner. Doch zu der zählen Tränen: "Sie waren traurig, betrugen sich heiter, versuchten Küsse, als ob nichts sei, und sahen sich an und wußten nicht weiter. Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei." Die Ich-Erzählerin in Solvej Balles Roman wird nicht von Gefühlen durchschüttelt. Sie ist eine nüchterne Beobachterin ihrer selbst, wird durch das Tagebuchschreiben, die konzentrierte Arbeit mit Stift und Papier, stabilisiert.
Nur Datumsangaben fehlen - aus gutem Grund. Wir lesen die durchnummerierten Notizen einer Frau, die wie in einer Science-Fiction-Novelle, wie im Murmeltierfilm oder Serien wie "Matrjoschka" immer wieder aufs Neue den 18. November erlebt. "#121" steht über der ersten Notiz, "#122" über der zweiten. Das Leben von Tara, die mit ihrem Lebensgefährten Thomas einen Versandhandel für antiquarische Bücher betreibt, ist zu einem ewigen Herbsttag geworden. Der sich zu Romanbeginn bereits zum 121. Mal wiederholt und trotzdem nie völlig identisch abläuft.
Für Variation sorgt zum einen das Schreiben; wer Gleiches mehrfach beschreibt, findet dafür jedes Mal andere Worte, jedes Mal erscheinen andere Details als wichtig, und nach ihnen suchen kann man ja auch: "Es sind die Wörter, die entscheidend sind." Zum anderen gibt es Gegenstände, die sich der Zeitschleifenlogik widersetzen, und erst recht Taras Körper ist vom Geschehen unbeeindruckt: Während ihr Lebensgefährte nicht weiß, dass er diesen Tag schon einmal erlebte, und jedes Mal überrascht ist, wenn Tara den "kleinen Zeitdefekt" thematisiert ("Siebenundzwanzig Tage untersuchten wir die Mechanik des Tages"), kann sich Tara erinnern, und auch eine Brandwunde ist am nächsten Morgen, dem nächsten 18. November, nicht einfach weg. Sie kann Erfahrungen sammeln, er kann es nicht. Ihr wachsen die Haare, er altert nicht: "Unsere Körper lebten in zwei Zeiten." Auch Taras Gefühle verändern sich. Am 17. November, dem letzten normalen Tag, war sie von ihrem Haus in Nordfrankreich zu einer Versteigerung illustrierter Bücher in Bordeaux und von dort nach Paris gefahren, am ersten 18. November ebendort im Hotel aufgewacht. Aber sie springt nicht am Ende jeder Wiederholung nach Paris zurück. Sie kann wählen, wo sie aufwachen will. In der Anfangszeit wählt sie das Bett von Thomas, mit dem sie eine auch körperlich glückliche Beziehung führt.
An dem Tag, an dem sie "#121" auf einem Bogen Papier vermerkt, lebt sie im Gästezimmer des Hauses, ohne dass Thomas ihre Anwesenheit ahnt. Er ist für sie nur noch ein vertrautes Geräusch, dem sie aufmerksam lauscht und das sie bei aller Sehnsucht nach dem Ausbruch aus dem vorhersehbaren Ablauf zum Wohlfühlen braucht. Über das Leben, das sich kontaktlos auf zwei Etagen abspielt, heißt es einige Einträge später: "Wir bewegen uns im Takt, in Harmonie, wir spielen ein Duett, oder wir sind ein ganzes Orchester. Wir haben den Regen und das Licht, das sich ändert." Noch später wird sich auch dieses gemeinsam einsame Tanzen verlieren.
Der Romantitel "Über die Berechnung des Rauminhalts" könnte nicht passender gewählt sein: Tara studiert mit jedem Eintrag aufs Neue den Abstand zu ihrem "noch nicht verlorenen Geliebten", den emotionalen und tatsächlichen Raum, auf dem sie lebt, vergrößert den Abstand und beobachtet und beschreibt und "berechnet" erneut. Wobei sie gezwungenermaßen auch das Mysterium Zeit zu verstehen versucht. Das muss nicht in den Titel. Das versteht sich von selbst.
Solvej Balle, die seit den Romanen "Lyrefugl" (eine Frau stürzt mit Inger Christensens Lyrikband "Alfabet" auf eine einsame Insel) und vor allem "Nach dem Gesetz" (um vier Wissenschaftler und das Irrationale) als wichtige literarische Stimme Dänemarks gilt und ebenso sparsam formuliert, wie sie in den dreißig Jahren nach ihrem Durchbruch publiziert hat, kommt aus dem Minimalismus. Sie formuliert klar und auf das Notwendigste reduziert, kann diesen eigentlich recht schönen Novembertag mit wenigen dahingetupften Worten wie "Tee", "Brennholz", "Apfelbaum" und "Mangold" sinnlich beschrieben. Und die Sätze haben einen Rhythmus, der den Leser betört und dazu führt, dass man diese Meditation (die Peter Urban-Halle übersetzt hat) eigentlich lieber hören als lesen oder laut vorlesen möchte.
Geräusche spielen eine Rolle, kleine Beobachtungen, kurze Gedanken. So muss es auch sein, wenn Tara einen Ausweg aus der Schleife finden will, den es vielleicht gibt, falls sie die Details und Muster und Zyklen versteht. Oder auch nicht. Einmal stellt sie erschöpft fest, nichts Neues mehr zu finden: "Ich bin morgens aufgewacht, habe den Regen betrachtet und die Vögel im Garten, ich habe den Geräuschen im Haus gelauscht, und am Nachmittag, wenn ich die Musik aus dem Wohnzimmer hörte, bin ich hinausgegangen, und eines Tages fing ich an zu schreiben, dass es der achtzehnte November und dass ein Mensch im Haus war." Dann horcht sie in sich selbst und entdeckt: "Ich habe eine Laune. Das ist neu . . . Das ist etwas anderes als Hoffnung, aber es ist doch etwas." Mit dem Eintrag "#366", an einem Punkt, mit dem einige Spannung verbunden ist, weil nun ohne Zeitschleife genau ein Jahr durchschritten sein müsste, endet der Band. Sechs weitere Bände sollen es werden. Für die ersten drei erhielt Solvej Balle den Literaturpreis des Nordischen Rats 2022. Ungeduldig warten wir zwecks Achtsamkeitsschulung auf Nachschub und schauen durchs Fenster nach draußen: "Die Wolken erzählen, dass die Zeit vergangen ist." MATTHIAS HANNEMANN
Solvej Balle: "Über die Berechnung des Rauminhalts I". Roman.
Aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle. Matthes & Seitz, Berlin 2023. 170 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.03.2023Was, wenn heute auch morgen wäre?
Solvej Balle hat eine feine Studie über Liebe, Distanz und die trennende Macht der Zeit geschrieben, die plötzlich stillsteht
Fast 20 Jahre mussten Solvej Balles Leserinnen warten, bis die dänische Autorin nach ihrem gefeierten Erzählungsband „Nach dem Gesetz“ von 1993 wieder ein Prosawerk vorlegte. Aber das Warten hat sich gelohnt. „Über die Berechnung des Rauminhalts I“ ist der erste Band eines auf insgesamt sieben Bände angelegten Projekts, das es in sich hat. Auf Dänisch sind bereits vier Bände erschienen. Für sie erhielt Solvej Balle 2022 den angesehenen Literaturpreis des Nordischen Rats.
Bereits der Titel lässt ahnen, weshalb die akribisch arbeitende Autorin so viele Jahre brauchte, um ihr Werk zu schreiben. Bei dem zu berechnenden Rauminhalt handelt es sich um nichts weniger als die Überfülle des Daseins mit all seinen materiellen, sensorischen und emotionalen Einzelheiten. Wer dabei an das 4000 Seiten umfassende Mammutwerk von Karl Ove Knausgård denkt, liegt falsch. Zum einen umfassen Balles Bände jeweils nur rund 170 Seiten, zum anderen geht es ihr anders als dem norwegischen Kollegen nicht um die Erforschung des eigenen Ichs. Balles Erzählerin, die mit antiquarischen Büchern handelnde Tara Selter, ist eigentlich nur das Medium, das registriert, was in und mit der Welt geschieht.
Das zu tun, hat sie alle Zeit der Welt, denn ebendiese, die Zeit, ist aus den Fugen geraten. Während eines Besuchs in Paris wacht Tara zum zweiten Mal am gleichen Tag auf. Aus diesem Tag, dem 18. November, gibt es von da an kein Entkommen mehr. Tag für Tag wiederholt er sich im immer gleichen Wechsel von Regen und Sonnenschein, dem Zwitschern der Vögel am Morgen, und den Rhythmen von Thomas, der ruhig durch seinen 18. November geht und auf die Rückkehr seiner Frau Tara wartet. Aus Paris zurückgekehrt versucht Tara Thomas in das Geschehen einzuweihen und mit ihm gemeinsam eine Erklärung für das Unerklärliche zu finden. Es gelingt nicht.
Jeden Morgen wacht Thomas auf und ist erst erstaunt, dann erschrocken, dann erheitert, seine Frau, die er doch in Paris weiß, zu Hause zu finden. Tara pocht darauf, dass Thomas ihr helfen müsse, wieder in den normalen Gang der Zeit zurückzufinden. Gemeinsam lesen sie Bücher über multiple Welten und entwickeln Theorien über Zeitlabyrinthe. Doch am nächsten Morgen ist alles vergessen, das Spiel geht von vorne los. Mitten in der Nacht, wann und wie genau bleibt ein ungelöstes Rätsel, wendet sich die Zeit und kehrt an ihren Ausgangspunkt zurück. Mit jedem Tag nimmt die Entfernung zwischen den Liebenden zu. Aus dem anfänglichen Ungleichgewicht von Wissen und Nicht-Wissen wird eine unüberwindbare Kluft.
Weil Tara die Situation nicht aushält, zieht sie sich schließlich ins Gästezimmer zurück. Dort zählt sie die Tage, nummeriert als # 121, # 122, # 123, und versucht schreibend zu verstehen, was geschieht. Thomas sieht sie von da an nur noch einmal am Tag, wenn er vom Regen durchnässt nach Hause kommt, „ein nasser Schatten am Zaun. Den Rest des Tages ist er ein Geräusch“.
Den Geräuschen des Geliebten wie den Geräuschen der Welt gehört Taras gesamte Aufmerksamkeit. Wie „ein Vogel, der auf die Bewegung der Insekten in der Rinde eines Baums lauscht“, horcht Tara auf die Atemzüge der Welt. Aus diesem einfühlenden Hören entwickelt Solvej Balle eine auf eigenartige Weise sachliche, zugleich tief melancholische und sinnlich-zärtliche Sprache, die sich wie eine weiche Decke aus Traurigkeit auf die Leserin legt. Peter Urban-Halle, der Übersetzer aus dem Dänischen, hat diesen unverkennbaren Balle-Klang auf wundersame Weise eingefangen. Tastend, zögernd, rhythmisierend gibt er die stille Panik wieder, die einsetzt, „wenn das Dasein sich zeigt, wie es ist: unwahrscheinlich, unvorhersehbar, merkwürdig“.
So wie Tara immer wieder neu ansetzt, die aus den Fugen geratene Zeit zu deuten, geht es auch der Leserin. „Über die Berechnung des Rauminhalts I“ lässt sich als Geschichte einer verlorenen Liebe lesen, als Reflexion über Erinnern und Vergessen, als existenzielle Parabel, als Einübung ins aufmerksame Wahrnehmen oder als Studie über Resilienz. Zugleich ist das Buch aber auch eine Auseinandersetzung damit, welchen Schaden wir der Welt zufügen.
Zu Beginn des Romans macht sich der Gedanke nur als leises Geräusch bemerkbar. Wenn Thomas nach dem Einkauf die Einkaufstüten auf den Tisch stellt und die Sachen auspackt, hört Tara das andauernde Knistern von Plastik. Nachdem die Einkäufe weggeräumt sind, knüllt Thomas die leeren Tüten zusammen und verstaut sie im Schrank unter der Spüle. „Dann schließt er die Schranktür und lässt sie weiterknistern.“ Was soll er auch sonst tun? Einmal produziert, ist das Plastik in der Welt und wird irgendwann als nicht biologisch abbaubares Mikroplastik in Luft, Wasser und Erde landen.
Genauso unweigerlich hinterlässt der Mensch andere Spuren. Nicht immer und notwendig verheerende, aber doch unwiderrufliche. Während alles, was Thomas verbraucht, am nächsten Tag wieder da ist, bringt Tara die Dinge zum Verschwinden. „Thomas hinterlässt keine Spuren in der Welt, ich fresse sie auf.“ Thomas ist ein Gespenst, Tara erkennt sich als Monster.
Kurzzeitig bringt der Gedanke Linderung, dass das, was der Einzelne der Welt nimmt, nicht viel ist. Sie hat doch nur „minimal winzige Bissen einer gigantisch großen Welt“ zu sich genommen, beruhigt sie sich. Doch die Ruhe hält nicht an. Letztlich ist alles, was Tara tut, dem Gesetz der Gefräßigkeit unterworfen, selbst dann, wenn sie in der Nacht mit dem Teleskop den Sternenhimmel erkundet. „Man bekommt große und hungrige Augen, man drängt sich auf, man okkupiert.“
So wie es aus der Wiederholung des 18. Novembers kein Entkommen gibt, deutet sich auch kein Aufbrechen des negativen Kreislaufes menschengemachter Umweltzerstörung an. Eine Rückkehr in eine Normalität, wo alles scheinbar gut und einfach ist, wird es nicht geben. Nicht im ersten Band, und wohl auch nicht im siebten. Nachhaltig schmerzhafter als von Solvej Balle ist diese Erkenntnis selten formuliert worden.
SOPHIE WENNERSCHEID
Solvej Balle: Über die Berechnung des Rauminhalts I. Aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle. Berlin: Matthes & Seitz Berlin, 2023. 170 S.
Immer der Regen, immer der 18. November: Die Protagonistin in dem Roman erlebt jeden Tag den exakt selben Tag.
Foto: imago
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Solvej Balle hat eine feine Studie über Liebe, Distanz und die trennende Macht der Zeit geschrieben, die plötzlich stillsteht
Fast 20 Jahre mussten Solvej Balles Leserinnen warten, bis die dänische Autorin nach ihrem gefeierten Erzählungsband „Nach dem Gesetz“ von 1993 wieder ein Prosawerk vorlegte. Aber das Warten hat sich gelohnt. „Über die Berechnung des Rauminhalts I“ ist der erste Band eines auf insgesamt sieben Bände angelegten Projekts, das es in sich hat. Auf Dänisch sind bereits vier Bände erschienen. Für sie erhielt Solvej Balle 2022 den angesehenen Literaturpreis des Nordischen Rats.
Bereits der Titel lässt ahnen, weshalb die akribisch arbeitende Autorin so viele Jahre brauchte, um ihr Werk zu schreiben. Bei dem zu berechnenden Rauminhalt handelt es sich um nichts weniger als die Überfülle des Daseins mit all seinen materiellen, sensorischen und emotionalen Einzelheiten. Wer dabei an das 4000 Seiten umfassende Mammutwerk von Karl Ove Knausgård denkt, liegt falsch. Zum einen umfassen Balles Bände jeweils nur rund 170 Seiten, zum anderen geht es ihr anders als dem norwegischen Kollegen nicht um die Erforschung des eigenen Ichs. Balles Erzählerin, die mit antiquarischen Büchern handelnde Tara Selter, ist eigentlich nur das Medium, das registriert, was in und mit der Welt geschieht.
Das zu tun, hat sie alle Zeit der Welt, denn ebendiese, die Zeit, ist aus den Fugen geraten. Während eines Besuchs in Paris wacht Tara zum zweiten Mal am gleichen Tag auf. Aus diesem Tag, dem 18. November, gibt es von da an kein Entkommen mehr. Tag für Tag wiederholt er sich im immer gleichen Wechsel von Regen und Sonnenschein, dem Zwitschern der Vögel am Morgen, und den Rhythmen von Thomas, der ruhig durch seinen 18. November geht und auf die Rückkehr seiner Frau Tara wartet. Aus Paris zurückgekehrt versucht Tara Thomas in das Geschehen einzuweihen und mit ihm gemeinsam eine Erklärung für das Unerklärliche zu finden. Es gelingt nicht.
Jeden Morgen wacht Thomas auf und ist erst erstaunt, dann erschrocken, dann erheitert, seine Frau, die er doch in Paris weiß, zu Hause zu finden. Tara pocht darauf, dass Thomas ihr helfen müsse, wieder in den normalen Gang der Zeit zurückzufinden. Gemeinsam lesen sie Bücher über multiple Welten und entwickeln Theorien über Zeitlabyrinthe. Doch am nächsten Morgen ist alles vergessen, das Spiel geht von vorne los. Mitten in der Nacht, wann und wie genau bleibt ein ungelöstes Rätsel, wendet sich die Zeit und kehrt an ihren Ausgangspunkt zurück. Mit jedem Tag nimmt die Entfernung zwischen den Liebenden zu. Aus dem anfänglichen Ungleichgewicht von Wissen und Nicht-Wissen wird eine unüberwindbare Kluft.
Weil Tara die Situation nicht aushält, zieht sie sich schließlich ins Gästezimmer zurück. Dort zählt sie die Tage, nummeriert als # 121, # 122, # 123, und versucht schreibend zu verstehen, was geschieht. Thomas sieht sie von da an nur noch einmal am Tag, wenn er vom Regen durchnässt nach Hause kommt, „ein nasser Schatten am Zaun. Den Rest des Tages ist er ein Geräusch“.
Den Geräuschen des Geliebten wie den Geräuschen der Welt gehört Taras gesamte Aufmerksamkeit. Wie „ein Vogel, der auf die Bewegung der Insekten in der Rinde eines Baums lauscht“, horcht Tara auf die Atemzüge der Welt. Aus diesem einfühlenden Hören entwickelt Solvej Balle eine auf eigenartige Weise sachliche, zugleich tief melancholische und sinnlich-zärtliche Sprache, die sich wie eine weiche Decke aus Traurigkeit auf die Leserin legt. Peter Urban-Halle, der Übersetzer aus dem Dänischen, hat diesen unverkennbaren Balle-Klang auf wundersame Weise eingefangen. Tastend, zögernd, rhythmisierend gibt er die stille Panik wieder, die einsetzt, „wenn das Dasein sich zeigt, wie es ist: unwahrscheinlich, unvorhersehbar, merkwürdig“.
So wie Tara immer wieder neu ansetzt, die aus den Fugen geratene Zeit zu deuten, geht es auch der Leserin. „Über die Berechnung des Rauminhalts I“ lässt sich als Geschichte einer verlorenen Liebe lesen, als Reflexion über Erinnern und Vergessen, als existenzielle Parabel, als Einübung ins aufmerksame Wahrnehmen oder als Studie über Resilienz. Zugleich ist das Buch aber auch eine Auseinandersetzung damit, welchen Schaden wir der Welt zufügen.
Zu Beginn des Romans macht sich der Gedanke nur als leises Geräusch bemerkbar. Wenn Thomas nach dem Einkauf die Einkaufstüten auf den Tisch stellt und die Sachen auspackt, hört Tara das andauernde Knistern von Plastik. Nachdem die Einkäufe weggeräumt sind, knüllt Thomas die leeren Tüten zusammen und verstaut sie im Schrank unter der Spüle. „Dann schließt er die Schranktür und lässt sie weiterknistern.“ Was soll er auch sonst tun? Einmal produziert, ist das Plastik in der Welt und wird irgendwann als nicht biologisch abbaubares Mikroplastik in Luft, Wasser und Erde landen.
Genauso unweigerlich hinterlässt der Mensch andere Spuren. Nicht immer und notwendig verheerende, aber doch unwiderrufliche. Während alles, was Thomas verbraucht, am nächsten Tag wieder da ist, bringt Tara die Dinge zum Verschwinden. „Thomas hinterlässt keine Spuren in der Welt, ich fresse sie auf.“ Thomas ist ein Gespenst, Tara erkennt sich als Monster.
Kurzzeitig bringt der Gedanke Linderung, dass das, was der Einzelne der Welt nimmt, nicht viel ist. Sie hat doch nur „minimal winzige Bissen einer gigantisch großen Welt“ zu sich genommen, beruhigt sie sich. Doch die Ruhe hält nicht an. Letztlich ist alles, was Tara tut, dem Gesetz der Gefräßigkeit unterworfen, selbst dann, wenn sie in der Nacht mit dem Teleskop den Sternenhimmel erkundet. „Man bekommt große und hungrige Augen, man drängt sich auf, man okkupiert.“
So wie es aus der Wiederholung des 18. Novembers kein Entkommen gibt, deutet sich auch kein Aufbrechen des negativen Kreislaufes menschengemachter Umweltzerstörung an. Eine Rückkehr in eine Normalität, wo alles scheinbar gut und einfach ist, wird es nicht geben. Nicht im ersten Band, und wohl auch nicht im siebten. Nachhaltig schmerzhafter als von Solvej Balle ist diese Erkenntnis selten formuliert worden.
SOPHIE WENNERSCHEID
Solvej Balle: Über die Berechnung des Rauminhalts I. Aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle. Berlin: Matthes & Seitz Berlin, 2023. 170 S.
Immer der Regen, immer der 18. November: Die Protagonistin in dem Roman erlebt jeden Tag den exakt selben Tag.
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