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Mit radikaler Offenheit schildert Georges-Arthur Goldschmidt seine Flucht vor den Nationalsozialisten in ein Internat in den savoyischen Alpen. Aus einem großbürgerlichen Dasein in äußere und innere Not gestoßen, erfährt der Heranwachsende schmerzlich, was es bedeutet, als Jude geboren zu sein. »Zu entdecken ist kein 'neuer' Goldschmidt, sondern ein vollendeter.« Ina Hartwig, Frankfurter Rundschau

Produktbeschreibung
Mit radikaler Offenheit schildert Georges-Arthur Goldschmidt seine Flucht vor den Nationalsozialisten in ein Internat in den savoyischen Alpen. Aus einem großbürgerlichen Dasein in äußere und innere Not gestoßen, erfährt der Heranwachsende schmerzlich, was es bedeutet, als Jude geboren zu sein. »Zu entdecken ist kein 'neuer' Goldschmidt, sondern ein vollendeter.« Ina Hartwig, Frankfurter Rundschau
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Autorenporträt
Georges-Arthur Goldschmidt, 1928 in Reinbek bei Hamburg geboren, musste als Zehnjähriger in die Emigration nach Frankreich gehen. Er lebt heute in Paris. Für sein umfangreiches Werk wurde er u.a. mit dem Bremer Literatur-Preis, dem Nelly-Sachs-Preis und dem Joseph-Breitbach-Preis ausgezeichnet. Im November 2013 erhielt er den Prix de L¿Académie de Berlin. Zuletzt erschienen seine Erzählungen »Der Ausweg« und »Die Hügel von Belleville«.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2001

Der weiße Hund des Seins
Georges-Arthur Goldschmidts Memoiren / Von Walter Hinck

Es war wie ein Donnerschlag." So beschreibt Georges-Arthur Goldschmidt den inneren Aufruhr des siebzehnjährigen jüdischen Schülers, den ein katholisches Internat im französischen Savoyen versteckt hielt, als er bei der Vorbereitung auf das Abitur im Jahre 1945 zum erstenmal Rousseaus Autobiographie "Les Confessions" liest. "Ohne die Freuden meines Alters, von Sehnsüchten durchtrieben, deren Zweck ich nicht kannte, Tränen vergießend ohne Grund zum Weinen, nach etwas stöhnend, ohne zu wissen, was es war" - in Sätzen wie diesen erkennt sich der Schüler selbst. "Eine Begeisterung erfaßte mich, ein triumphales, noch nie erlebtes Gefühl der Legitimität." Donnerschlag und Begeisterung hallen nach. 1999 erschien in französischer Sprache Goldschmidts eigene Autobiographie. Sie liegt jetzt, von ihm selbst übersetzt, unter dem Titel "Über die Flüsse" in deutscher Fassung vor.

Die Lektüre wird auf vielfache Weise zum Déjà-vu-Erlebnis. Denn schon die fiktionalen Texte, mit denen der Erzähler rasch die Literaturkritik überzeugte, sind an den Stromkreis seiner Lebensgeschichte unmittelbar angeschlossen. Die Erregungen, die in den Erzählungen "Der Spiegeltag" (1982), "Ein Garten in Deutschland" (1988), "Die Absonderung" (1991), "Der unterbrochene Wald" (1992) und "Die Aussetzung" (1996) pulsen, rumoren in der Autobiographie weiter.

Einen entscheidenden Schritt geht der Text hinter den Zeithorizont der Erzählungen zurück. Der 1928 als Sohn jüdischer Eltern Geborene und evangelisch-lutherisch Getaufte, dessen Vater 1933 in Hamburg aus dem Dienst als Oberlandesgerichtsrat gejagt wurde, hat Familienforschung betrieben. Auf etwas verschlungene Weise schiebt sich Heine unter die Verwandten der Familie, die im 19. Jahrhundert in Hamburg zu den Juden erster Steuerklasse zählte. Die Chronik der Familie wird zu einer kleinen Geschichte des Judentums in Hamburg.

Die Familie Goldschmidt ging den Weg so vieler Vertreter des liberalen, anpassungswilligen Judentums: Sie schwenkte ins nationalliberale Lager und fühlte am Ende deutscher als die Deutschen selbst. Nicht einmal die jahrelange Verbannung ins Lager Theresienstadt hat den Vater davon abhalten können, seine Deportation als einen bloßen Irrtum anzusehen. Was die Familienchronik im letzten Teil zu einem literarischen Glanzstück macht, ist die Beschreibung des Lebensstils einer "Bourgeoisie der mittleren Stufe". Die Möblierung der verschiedenfarbigen Zimmer, das gründerzeitliche Ambiente der Villa, die Rolle der Dienstboten, die Geselligkeitsformen - ihre Beobachtung und Darstellung liefern nichts weniger als eine Anatomie der assimilierten jüdischen Bürgerwelt.

Die Analyse der herrschenden, auf Verdrängung bedachten Sexualmoral hilft die psychischen Verkrampfungen des Jungen erklären. Die Familie hätte die ideale Kundschaft für einen Psychoanalytiker sein können, meint Goldschmidt und übernimmt für den Widerwillen des Kindes gegen den Honig den Freudschen Begriff der "Deckerinnerung": sie überdeckt den Konflikt mit der Mutter. Der Junge leidet unter dem "Spionierwahn" der Eltern, zumal der Mutter, dem ständigen Verdacht der Onanie. Es gelingt ihm, die Bewachung zu überlisten; und der Schlag hätte wohl die Mutter getroffen, hätte sie von den masochistischen Begleitbildern, den lustvollen Vorstellungen der Nacktheit und des Märtyrertums gewußt. Der Mutter mit ihren Schwankungen zwischen Depression und Exaltation gleicht der Sohn zumindest mit seiner psychischen Unausgeglichenheit, mit seinen unvorhersehbaren Wutanfällen. Ein schweres Schuldgefühl, die vermeintliche Mitverantwortung für den Tod eines Sohns der zwanzig Jahre älteren Schwester, verfolgt ihn durch Jahrzehnte.

Den Lesern der Erzählungen nicht unbekannt ist die Verschickung des Zehnjährigen und seines älteren Bruders nach Italien, im Jahre 1938, und dann nach Frankreich, wo eine Kusine der Mutter, Noémie de Rothschild, fortan seine "Beschützerin" sein wird. Daß ein katholisches Internat die protestantischen und jüdischen Kinder aus Deutschland aufnimmt, ist eine der vielen Paradoxien, die uns in der Biographie Goldschmidts begegnen. Als im Jahre 1943 deutsche Truppen die bisher "Freie Zone" besetzen, gerät der Junge tatsächlich in höchste Gefahr.

Aber der schlechte Schüler und Bettnässer macht auch rasch Bekanntschaft mit der rigorosen Erziehungs- und Prügelpraxis katholischer Internate. Und wieder erfährt er an sich den masochistischen Zwiespalt, die Gleichzeitigkeit von Schmerz und genußvoller Erregung, von Demütigung und Wonne. Wieder ist er, mit seinen Schlafsaalgenossen, gefangen in einem Überwachungssystem, dessen einzige Sorge in der Unterdrückung von Sexualität besteht. Und wieder findet die List ihre Schlupflöcher. Nicht alle geschlechtlichen Anfechtungen lassen sich mit jenen Verstörungen und ungewissen Sehnsüchten der Pubertätszeit erklären, über die der Siebzehnjährige endlich Aufklärung bei seiner Rousseau-Lektüre erhält. Während des Studiums in Paris dann hat er Kontakt mit Homosexuellen. Erst die Begegnung mit seiner späteren Frau öffnet ihm, wie er sagt, den "Weg in die Normalität", zu Frau und Kindern.

Was man die Pathographie einer Sexualität nennen könnte, endet hier. Weiter läuft der Strang einer autobiographischen Bildungsgeschichte, Goldschmidts Weg in die französische Literatur und Kunst und zu Kafka. Irritierend und bewundernswert zugleich ist Goldschmidts Autobiographie, weil sich hier im Unterschied zu den Erzählungen das Ich des Autors ausdrücklich zu seiner Exzentrizität bekennt.

Erst mit der Heirat - inzwischen ist er französischer Staatsbürger und Gymnasiallehrer - endet, verspätet, die Jugend des autobiographischen Helden. Es gibt zu denken, wie viele Autobiographien auch heute dem Muster von Goethes Selbstdarstellung in "Dichtung und Wahrheit" folgen, die bekanntlich nur bis ins Jahr 1775, bis zur Übersiedlung des Sechsundzwanzigjährigen nach Weimar führt. Goethe hat ihren Abbruch oder Abschluß damit begründet, daß 1775 die Geschichte seiner "Bildung" und seines "Privat- und Autorlebens" an einen Punkt gelangt sei, "bis zu welcher Epoche ich mir noch ganz selbst angehöre".

Jüdische Autobiographien der Gegenwart - sehen wir etwa von Marcel Reich-Ranickis "Mein Leben" ab und wählen Beispiele wie Ruth Klügers "weiter leben. Eine Jugend" und Ludwig Greves "Wo gehörte ich hin? Geschichte einer Jugend" - brechen im Gegensatz dazu gerade an dem Punkt ab, wo das autobiographische Ich nach den Schrecken des Vernichtungslagers und den tödlichen Gefahren der Verbannung endlich (wieder) "sich selbst angehören" kann. Und es ist nun gerade diese Phase der Unfreiheit, die der Forderung Goethes an die Autobiographie entspricht: "den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen". Die Jugend endet mit dem Erwachen aus Wirklichkeit gewordenen Albträumen. Gewiß hinterläßt auch bei Goethes Zeitgenossen Karl Philipp Moritz ("Anton Reiser") eine Kindheit voller Erniedrigungen eine gebrochene Seele. Aber Goethes "Dichtung und Wahrheit" und jüdische Selbstdarstellungen unserer Zeit bleiben doch zwei Pole der deutschen Autobiographie.

Goldschmidt führt seine Autobiographie bis in die Zeit der Niederschrift fort, aber doch in geraffter Form. Schon im erzählerischen Werk bestimmte immer dann die Empörung den Ton, wenn Beobachtungen im Nachkriegsdeutschland zur Sprache kamen. Überall begegnet dem Besucher das Ärgernis des kurzen Gedächtnisses: Die Nation der Täter gibt sich wie eine Nation der Opfer, das zerbombte wird wieder zum blühenden Land, mit dem Wirtschaftswunder überflügelt das besiegte Deutschland rasch den Sieger Frankreich. Die Autobiographie nimmt keine Schärfen zurück.

Allen Zorn sammelt Goldschmidt auf das Haupt des "unseligen" Martin Heidegger, der ihm mit seinem Denken, seiner Sprache und seiner Haltung (vor allem im Jahr 1933) zum Exemplum für die Verführbarkeit der Deutschen wird. So mißbilligt er die Wallfahrten französischer Intellektueller zu Heidegger. Eine wunderbar groteske Szene: Goldschmidt begleitet den Philosophen Landgrebe nach Todtnauberg, wird aber in die "Hütte" des Meisters nicht mitgenommen. "Ein kleiner weißer Hund kam aus der berühmten Hütte hinausgelaufen, ich kniete auf der Wiese nieder und brüllte: ,Das ist der Hund des Seins.'"

Der Philosoph Ludwig Landgrebe war Goldschmidts Schwager, und weitaus genauer und schärfer als früher umreißt der Autor sein Verhältnis zur Familie der Schwester. Damit knüpft der Schluß der Autobiographie wieder an die Familienchronik des Anfangs an. Ludwig Landgrebe, wie Heidegger Schüler von Edmund Husserl, dem Begründer der Phänomenologie, wurde als dessen Assistent vom Nachfolger Heidegger nicht übernommen. Er heiratete die Schwester Goldschmidts und mußte als Ehemann einer jüdischen Frau seine Hoffnungen auf eine Universitätslaufbahn fahrenlassen; er überwinterte als Angestellter in einem Büro. Goldschmidts Schwester konnte vor der Deportation nie sicher sein, und das mag ihre Überlebensstrategie erklären; der Bruder wirft ihr übermäßige Anpassung vor. Man hat anscheinend nach dem Krieg den in Frankreich lebenden Bruder und Schwager zu voreiligen Verzichtserklärungen überredet. Das rechtfertigt aber kaum die Deklassierung eines Schwagers, der als Philosoph keine Konzessionen an das Hitlerregime gemacht hatte und nach dem Krieg zu Recht von mehreren Universitäten umworben wurde. Eine "kostümierte Berühmtheit des neugermanischen, wieder unschuldig gemachten Denkens" war gerade Landgrebe nicht.

Auch hier gerät Goldschmidt in die Spur seines geistig-seelischen Befreiers Rousseau, der im zweiten Teil seiner "Confessions" oft die Sprache der Polemik wählt. Mit dem heutigen Deutschland übrigens hat der jüdisch-deutsche Franzose seinen Frieden geschlossen: "Jede Reise bestätigte die verblüffende Wandlung dieses Landes." Es ist nun sehr "ein Land des Westens, daß alle alten Denkschablonen und Interpretationen für immer in den Schrank der Theaterkostüme zu verfrachten sind".

Georges-Arthur Goldschmidt: "Über die Flüsse". Autobiographie. Aus dem Französischen übersetzt vom Verfasser. Ammann Verlag, Zürich 2001. 407 S., geb., 44,- DM.

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