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'Über die Grenze' ist eine spannende Autobiographie, ein faszinierendes Dokument der jüdischen Identitätsfindung, eine Auseinandersetzung mit Weiblichkeit, Sexualität und Homosexualität, nicht zuletzt eine kenntnisreiche, kritische Darstellung der Geschichte Israels und der Kibbuzbewegung.

Produktbeschreibung
'Über die Grenze' ist eine spannende Autobiographie, ein faszinierendes Dokument der jüdischen Identitätsfindung, eine Auseinandersetzung mit Weiblichkeit, Sexualität und Homosexualität, nicht zuletzt eine kenntnisreiche, kritische Darstellung der Geschichte Israels und der Kibbuzbewegung.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.08.1998

Memoria auf Kaperfahrt
Kim Chernin unternimmt einige Entdeckungsreisen

Die Autorin dieser autobiographischen "Entdeckungsreise" erscheint in dreifacher Gestalt: als Verfasserin eines ganz rational und unmißverständlich geschriebenen Nachworts, worin sie ihr Unternehmen und die damit verbundenen Intentionen erläutert; als reife, über fünfzig Jahre alte Frau, die sich an die Geschehnisse ihrer Jugend zu erinnern sucht und sich dabei so bunter psychoanalytischer Traumbilder bedient, daß sie zu einem schillernden Kaleidoskop zusammenschießen; und als Dreißigjährige auf der Suche nach sich selbst, die der Gegenstand der Analyse ist. Ihre Bemühungen um weibliche Selbstentfaltung sind ebenso modern wie radikal. Um sie durchzuführen, verläßt sie Ehemann und Kind, den Kontinent, wo sie aufgewachsen ist, ja sogar ihre Sprache, und begibt sich in nationales, soziales und erotisches Neuland.

Sie reist nach Israel und erwirkt die Aufnahme in einen neugegründeten Kibbuz an der syrischen Grenze, eine jener landwirtschaftlichen Kommunen, die sozialen Idealismus mit nationaler Wehrhaftigkeit verbinden. Der Begriff der Grenze hat dem Buch seinen Titel geliefert und wird auch sonst vielfach umspielt als Linie, die den einzelnen vom Kollektiv trennt, das Normale vom Ungezügelten, die heterosexuelle von der gleichgeschlechtlichen Liebe. Diese Konstellation nutzt die Erzählerin, um ihre Hauptthemen auszubreiten. Die erotische Entfesselung gelingt, indem sich die junge Frau einer Macht entledigt, die sie "die-da" nennt, ein "Ensemble aus Vater, Mutter, dem ersten Lehrer" und so weiter, Instanzen, die offenkundig dem ähneln, was Freud als das "Über-Ich" bezeichnet hat.

Das Abwerfen der zivilisatorischen und anderen Zwänge hat katastrophale Folgen. Es erlaubt Kim Chernin, der begehrten Heldin, sich in heiße Liebschaften zu stürzen, zuerst mit einem zehn Jahre jüngeren Soldaten, dann mit einer Frau, die zudem noch verheiratet ist. Liebe wird hier ganz im antiken Sinn als schweres Leiden geschildert. Freundschaften zerbrechen, die Gemeinschaft gerät in Aufruhr, Eifersucht bricht los, Messer blitzen, Mord wird gerade noch verhindert, aber alle Liebhaber werden unglücklich, am meisten Kim selbst. Sie muß ihre Geliebten, den Kibbuz mitsamt seinem Versprechen eines neuen Lebens, das Land Israel verlassen und in einem einsamen Winkel Schottlands Zuflucht suchen. Sie kann nur weiterleben, indem sie ihr chaotisches Selbst sterben läßt und zu der gesitteten Psychoanalytikerin wird, deren Namen auf dem Buchdeckel steht.

Ein zweiter Weg zur Selbstfindung ist die Suche nach der nationalen Identität. Kim ist Amerikanerin und Jüdin. Ihre Eltern sind aus dem osteuropäischen Ghetto in die USA eingewandert. Sie sehen das Heil der Juden im Kommunismus, von dem sie sich nicht nur das Verschwinden der Klassengrenzen, sondern auch das der ethnischen Feindseligkeiten versprechen. Daher ist der Staat Israel für sie ein Anachronismus, weil er einen Rückfall in die veralteten Sünden des Chauvinismus bedeutet - Symbol dafür ist die Wiederbelebung einer toten Sprache - und den dort ansässigen Arabern ihr Land wegnimmt. Ihre Tochter Kim aber träumt von dem Gelobten Land, von der Sammlung eines zerstreuten Volkes, von der Veredelung jüdischer Menschen durch harte Arbeit und kommunitäres Leben.

Aber auch dieser Versuch der Selbstfindung scheitert. Bald erlebt Kim die Schattenseiten des Zusammenlebens auf engem Raum, den Neid, die Eifersüchte, die Schnüffeleien, die ständig kursierenden Gerüchte und, was schlimmer ist, die Brutalität den Arabern gegenüber, den Militarismus in einem Staat, der die Folter offiziell gutheißt. Auch in diesem Zusammenhang dient ihr der Aufenthalt in Schottland zur "Dekompression" auf dem Weg zurück. Am Ende bekehrt sie sich zu den kritischen Ansichten ihrer Mutter.

Mit alldem nicht genug, benutzt die Autorin die Geschichte ihrer Jugend, um Reflexionen über die verwandten Phänomene des Erzählens und des Gedächtnisses anzustellen. Beide sind trügerisch. "Das Gedächtnis ist ein Lügner, ein Betrüger, ein Dieb, ein Pirat." Trotz allem Bemühen um Wahrheit unterliegt daher jede Geschichte einer "unvermeidlichen Verzerrung, die den Dingen beim Erzählen widerfährt, anders lassen sie sich wohl kaum bewahren". Diese Deformation wird aber im Gegensatz zu anderen Geschichten handgreiflich gemacht, auf eine gradlinige Beschönigung wird verzichtet, das häufigste Wort, mit dem die Unsicherheit des zu Berichtenden, die Vielfalt der möglichen Auslegungen des Geschehens beschworen wird, ist "vielleicht". Das gilt natürlich auch für die große Erzählung, die man Historiographie nennt.

"Der Anspruch auf das Land Israel", den die junge Kim und die Zionisten überhaupt erheben, wird "nicht mit gebrochenen Verträgen, nationalen Beschlüssen, nicht einmal mit Schlachten" begründet, sondern beruht auf "bestimmten archaischen Vorkommnissen". Eine solche urtümliche Begründung verlangt dann aber auch, daß der Raub der arabischen Heimat geleugnet wird, die von den israelischen Geheimdiensten begangenen Verletzungen der Menschenrechte verdrängt werden, sie enthält die stillschweigende Forderung, "schlicht nicht zu glauben, daß ein Jude, einen Araber bei einer Vernehmung ermorden, einen unschuldigen marokkanischen Kellner, der in Norwegen arbeitet, umbringen kann". Durch solche Dialektik wird jede platte Einseitigkeit vermieden, es entsteht eine komplexe seelische Phatasmagorie und zugleich das spannende und überzeugende Porträt eines Lebens, dem nichts Menschliches fremd ist. EGON SCHWARZ

Kim Chernin: "Über die Grenze. Eine Entdeckungsreise". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Christel Dormagen. Mit einer Nachbemerkung der Autorin. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998. 318 S., geb., 39,80 DM.

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