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Der Journalist Paul Lendvai beobachtet seit Jahrzehnten das politische Weltgeschehen und sieht darin eine Konstante: Die Heuchelei.
Russlands Krieg, Migration, Klimawandel, Inflation, Trump zum Zweiten? Es herrscht Endzeitstimmung, wieder einmal. Weltweit aktive Geheimdienste und hoch alimentierte Forschungseinrichtungen schaffen es nicht, Antworten auf dramatische Umbrüche des globalen Kräftespiels zu finden. Ja, die sie lenkenden Politikerinnen und Politiker liegen häufig vollkommen falsch. Man denke nur an die Einschätzungen der Entwicklung in Russland und China und innerhalb der EU in…mehr

Produktbeschreibung
Der Journalist Paul Lendvai beobachtet seit Jahrzehnten das politische Weltgeschehen und sieht darin eine Konstante: Die Heuchelei.

Russlands Krieg, Migration, Klimawandel, Inflation, Trump zum Zweiten? Es herrscht Endzeitstimmung, wieder einmal.
Weltweit aktive Geheimdienste und hoch alimentierte Forschungseinrichtungen schaffen es nicht, Antworten auf dramatische Umbrüche des globalen Kräftespiels zu finden. Ja, die sie lenkenden Politikerinnen und Politiker liegen häufig vollkommen falsch. Man denke nur an die Einschätzungen der Entwicklung in Russland und China und innerhalb der EU in Ungarn und Polen.
Seit Jahrzehnten beobachtet Paul Lendvai das Geschehen aus unmittelbarer Nähe. Er sieht sowohl die nachlassende Kraft liberaler Ideen als auch die verführerischen Angebote populistischer Autokraten. Konstant bleibt dabei nur eines: die Heuchelei.
Autorenporträt
Paul Lendvai, geboren 1929 in Budapest, lebt seit 1957 in Wien. Er war Leiter des ORF-Europastudios und ist Kolumnist für den 'Standard'. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen. Zuletzt erschienen ist 'Über die Heuchelei' (2024) bei Zsolnay. Weitere Werke: 'Die verspielte Welt. Begegnungen und Erinnerungen' (2019) und 'Vielgeprüftes Österreich' (2022).
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Heuchelei wird führenden Politikern ja immer wieder vorgeworfen, weiß Rezensent Stephan Löwenstein. Der mittlerweile 94-jährige Journalist Paul Lendvai geht dem mit seinem breiten journalistischen Erinnerungsschatz auf die Spur. Theoretisch reflektiert wird der Begriff nicht, gibt Löwenstein zu verstehen, Lendvai geht in medias res und schreibt über die Anbiederung der westlichen Linken an die Sowjetunion, "Putins Laufburschen" Schröder, aber auch über Viktor Orbán und Sebastian Kurz als einem "Virtuosen der politischen Heuchelei." Ein Buch, das gerade durch die persönlichen Erinnerungen des Autors lebendig und kurzweilig ist, resümiert der Kritiker.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Eine große Abrechnung mit der Politik des Westens im Umgang mit Wladimir Putin." Cathrin Kahlweit, Süddeutsche Zeitung, 26.02.24

"Paul Lendvai hat eine seltene journalistische Gabe: Er kann analysieren - und er kann erzählen." Hans Rauscher, Standard, 22.02.24

"Lendvais heucheleikritische Essays sind kurzweilig, gescheit und vergnüglich zu lesen. Zu behaupten, dass diese Lektüre nicht auch zutiefst beunruhigend wäre, das wäre allerdings - geheuchelt." Günter Kaindlstorfer, Deutschlandfunk, 12.02.24

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.02.2024

Die Verblendeten
Der österreichische Publizist Paul Lendvai hat eine große Abrechnung
mit der Politik des Westens im Umgang mit Wladimir Putin vorgelegt.
Die letzten Bücher von Paul Lendvai, „Die verspielte Welt“ und „Vielgeprüftes Österreich“, waren Auseinandersetzungen mit dem Europa, das der Autor in den langen Jahrzehnten seiner journalistischen Tätigkeit bereist, erlebt, analysiert, erklärt hat. Und mit dem zweiten Heimatland, das den jungen Ungarn 1957 aufnahm.
Lendvai hatte, mit unendlich viel Glück, das NS-Regime überlebt, eine Haftstrafe und ein dreijähriges Berufsverbot im sozialistischen Ungarn überstanden und sich nach dem Aufstand 1956 in den Westen abgesetzt. Beide Bücher sind kritische, aber auch stark autobiografisch geprägte Texte, was einem mittlerweile 94-Jährigen ja auch durchaus gut ansteht.
Nun hat Lendvai ein neues, schmales Buch vorgelegt, das den schlichten Titel „Über die Heuchelei“ trägt, es geht um „Täuschungen und Selbsttäuschungen in der Politik“. Und man spürt in jeder Zeile, dass der Wiener, der lange für die Financial Times schrieb und später die Osteuropa-Redaktion des ORF leitete, empört ist. Und besorgt. Er arbeitet sich, mit erkennbarer Emotion hinter der dicht mit Fakten, Zahlen und Zitaten aufbereiteten Analyse, an einem tragischen Missverständnis ab: dass nämlich die „Anziehungskraft der Demokratie unwiderstehlich“ sei. Und dass man die „von Nationalisten und Autokraten ausgehende Gefahr für die liberalen Werte des Westens“ nicht habe sehen, nicht erkennen können.
Denn dass diese Gefahr besteht, daran gibt es für Lendvai keinen Zweifel. Aber er sucht die Schuld nicht allein bei den Putins, Trumps, Alijews und Orbáns dieser Welt. Sondern, auch, bei den „Heuchlern“, die es sich mit diesen Autokraten bequem eingerichtet haben. Bei Spitzenpolitikern im Westen. Und so sind auch schon seine Kapitelüberschriften eine Anklage: Es geht um die „blinde Russlandpolitik Deutschlands“ und das „Elend“ der SPD-Ostpolitik, um die „bitteren Folgen der Ignoranz“ in den Jugoslawienkriegen, um die „Dämonisierung“ des Philanthropen George Soros. Und er arbeitet sich an Namen ab: am Putin-Freund Gerhard Schröder, am „Masken-Mann“ Sebastian Kurz, am „Weltmeister des Zynismus“, Viktor Orbán.
Es ist ein beliebtes Argument vor allem in der Nach-Zeitenwenden-Ära, dass man vieles von dem, was in den vergangenen Jahren geschehen ist, hätte voraussehen können. Und – bei klarerem Blick auf Intentionen und Ideologien, Abhängigkeiten und Autokratien – auch besser hätte verhindern oder bekämpfen können. Den Aufstieg Orbáns, die alte und neue Kriegsgefahr auf dem Balkan, den Überfall Russlands auf die Ukraine, den Aufstieg von Rechtspopulisten und Rechtsextremen und ihre zunehmende Dominanz in der öffentlichen Meinung etwa. Paul Lendvai aber geht so weit zu sagen, dass „Fehlgriffe und Fehldeutungen“ bisweilen durchaus gewollt waren. Zum eigenen Vorteil, aus ökonomischen und monetären Gründen, aus „Verblendung“. Deshalb nimmt Russland den größten Raum in seinem Buch ein: die Opposition von innen, und die Anbiederung von außen.
Schon 2004, schreibt Lendvai, habe der frühere Gouverneur von Nischnij Nowgorod, der Reformpolitiker Boris Nemzow, vor einer Diktatur unter Wladimir Putin gewarnt. Russland sei ein Mafia-Staat; Gesetze würden nichts gelten, Putin sei paranoid. Zehn Jahre später kritisierte er in einem ARD-Interview die imperialistische Eroberungspolitik Putins. Wenig später war Nemzow tot. Ermordet in Sichtweite des Kreml.
Warum es so unendlich lange dauerte, bis der Westen das wahre Wesen des Putinismus verstand? Lendvai greift für Erklärungsversuche weit zurück: auf „politische Pilger“ aus Europa und den Vereinigten Staaten, die Lobgesänge auf den Stalinismus geschrieben hätten. Nur um dann in den Nullerjahren, beim ehemaligen Bild-Chef Kai Diekmann, zu enden, der in Putins Badehose mit dem Diktator schwimmen ging.
Aber der „Marsch durch die Desillusionen“, so Lendvai, habe nicht nur mit bereitwilliger Verführbarkeit und spätem Erwachen zu tun. Sondern auch mit schlichter Korrumpierbarkeit. Lendvai nimmt, wenn es um deutsche Russland-Fans geht, wenig Rücksichten: Die Heuchler waren und sind dabei für ihn nicht nur Sahra Wagenknecht oder AfDler wie Björn Höcke, sondern letztlich auch verstorbene wie lebende SPD-Größen wie Helmut Schmidt und Egon Bahr, Manuela Schwesig, Klaus von Dohnanyi oder Matthias Platzeck. Und, allen voran, natürlich „Putins Laufbursche“ Gerhard Schröder. Der habe, wie andere aktive Funktionäre im Schröder-Netzwerk, „die Politik der bewussten Ablenkung vom wahren Charakter des Putin-Regimes finanziell ausgenützt“.
Paul Lendvai ist gebürtiger Ungarn; kein Wunder also, dass er sich dem „Heuchler“ Viktor Orbán widmet. Er hat Standardwerke über Ungarn geschrieben – und den Aufstieg Orbáns zum Posterboy der illiberalen Demokratie in Europa, den Angela Merkel und andere Regierungschefs ebenso wie die EU-Kommission in Brüssel aus opportunistischen Gründen allzu lange gewähren ließen, journalistisch begleitet. Der größte Heuchler sei aber Orbán selbst, schreibt Lendvai, weil dessen destruktiver Umgang mit den Institutionen der Europäischen Gemeinschaft deren Funktionsfähigkeit bedrohten.
Und auch Österreichs Ex-Kanzler Sebastian Kurz darf natürlich nicht fehlen: Lendvai sucht nach dessen Gesicht hinter den vielen Masken, berichtet von dessen neuer Business-Karriere, den Korruptionsvorwürfen und der Bewunderung, die dem Jungpolitiker entgegengebracht wurde. Und lässt es sich nicht nehmen, zum Schluss den kürzlich verstorbenen Karel Schwarzenberg, Tschechiens einstigen Außenminister, zu zitieren, der Kurz einen „falschen Fuffziger“ nannte.
Man kann Lendvai vorwerfen, dass er keine Kur gegen Opportunismus und Ignoranz in der Politik hat. Aber er liefert in „Über die Heuchelei“ auch eine Liste seiner Helden, von Widerständlern, Klarsehern, von prinzipien- und verfassungstreuen Politikern mit. Und zeigt damit nicht nur die Politik, sondern die Welt, wie sie nun mal ist.
CATHRIN KAHLWEIT
Vor allem deutsche
Politiker kommen bei dem
94-Jährigen schlecht weg
Paul Lendvai:
Über die Heuchelei.
Zsolnay-Verlag, Wien 2024. 176 Seiten, 23 Euro.
E-Book: 16,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.04.2024

Von Zynikern und Maskenmenschen

Der Journalist Paul Lendvai über Viktor Orbán, Sebastian Kurz und andere Politiker, für die er - vorsichtig formuliert - wenig Sympathie hegt

Unter "Heuchelei" versteht der Duden eine (fortwährende) Verstellung oder die Vortäuschung nicht vorhandener Gefühle, Eigenschaften oder Ähnlichem. Dass dergleichen in der Politik angeblich ständig vorkomme, ist ein Gemeinplatz. Paul Lendvai hat den Versuch unternommen, ihn mit Empirie aus seinem reichen Journalistenleben zu füllen. Herausgekommen ist ein Buch, das von Putin über Milosevic hin zu Orbán und Kurz führt. Lendvai will "die Rolle der Heuchelei, der Doppelmoral, der menschlichen und politischen Doppelzüngigkeit und Scheinheiligkeit bei den im Rückblick unverständlichen Handlungen und Erklärungen von Spitzenpolitikern behandeln".

Wer eine systematische Abhandlung über die Rolle der Heuchelei in der Politik sucht, wird nicht auf seine Kosten kommen. Wer sind die Heuchler: die, die verführen oder die, die sich verführen lassen? Handelt es sich um Blindheit, Irrtum, Eitelkeit, Starrsinn statt um Heuchelei? Kommt Heuchelei später ins Spiel, um solche Fehler zu überdecken, oder ist sie Prinzip? In solche Fragen und Details vertieft sich Lendvai nicht. Eher lässt er sich begleiten, während er durch Archiv und Bibliothek wandert und das Herausgegriffene mit Szenen belebt, die er (wie der Rezensent auch schon erfahren durfte) lebhaft im Gedächtnis hat, auch wenn sie zum Teil mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegen. Lendvai, der als Sohn jüdischer Eltern in Budapest die Verfolgung durch die Nazis überleben konnte, ist als Journalist im kommunistischen Ungarn Anfang der 1950er-Jahre in Ungnade gefallen und im Zuge des Ungarnaufstands nach Westen entkommen. Sein autobiographisches Buch "Auf schwarzen Listen" ist immer noch lesenswert. Seit 1959 österreichischer Staatsbürger, konnte er wieder offen journalistisch arbeiten, zunächst für die "Financial Times", dann vor allem für den ORF, dem er bis heute verbunden ist. Erst dieser Tage hat der 94-Jährige nach 44 Jahren die letzte Sendung des "Europastudios" moderiert.

Lendvai behandelt zunächst die Verblendung, in der Protagonisten der westlichen Linken auf das kommunistische Heilsversprechen der Sowjetunion seit deren Anfängen hineingefallen sind, und landet bald bei der deutschen Sozialdemokratie und ihrer Schwäche für Russland. Im Zusammenhang mit der Ostpolitik Willy Brandts erzählt er eine Anekdote von 1963: Eigentlich war er auf Reportagereise in Ostdeutschland. Den DDR-Behörden bereitete es schwere Bauchschmerzen, dass er einen "unüblichen", wie ihm bedeutet wurde, Abstecher nach Westberlin machen wollte, um den damaligen Pressesprecher Brandts, Egon Bahr, kennenzulernen. Obwohl Lendvai Brandt und Bahr und ihrer ursprünglichen Ostpolitik durchaus zugetan ist, verschont er sie und die SPD nicht mit Kritik für das Ignorieren der Bürgerrechts- und Gewerkschaftsbewegungen in Mitteleuropa. Ganz zu schweigen heute von "Putins Laufburschen" Schröder.

Wo es um Putin geht, erzählt Lendvai von Begegnungen mit mutigen Russen wie Galina Starowoitowa und Boris Nemzow, die sich dessen Regime frühzeitig in den Weg stellten - und ihm zum Opfer fielen. Putin sei er einmal begegnet, 2001 anlässlich eines Staatsbanketts in der Wiener Hofburg. "Auch unsere Begegnung - Putin quittierte mit freundlichem Lächeln meine auf Russisch formulierten Gemeinplätze - hat ein Fotograf festgehalten, und ich konnte meine journalistische Eitelkeit durch den Abdruck dieses Fotos in meiner Autobiographie befriedigen." Selbstironie ist ein Gegengift gegen Heuchelei.

Auch die Kapitel über Jugoslawien und seinen blutigen Zerfall werden dort lebendig, wo Lendvai aus seinen Erlebnissen und Begegnungen schöpft. Etwa mit dem Philosophen Mihailo Markovic, der in den 1970er-Jahren mutige Aufsätze über die KP und den skrupellosen Nationalismus schrieb. Lendvai setzte sich damals für ihn ein. Umso überraschter sei er gewesen, als Markovic sich zehn Jahre später als hemmungsloser und wortgewaltiger Verteidiger des Milosevic-Regimes entpuppte.

Letztlich steuert Lendvais Buch auf Viktor Orbán zu, den er als "Weltmeister des Zynismus" bezeichnet, und auf Sebastian Kurz, bei dem er den "Mann hinter den Masken" sucht. Orbán hat er 1993 anlässlich eines Vortrags in Wien als "zukunftsträchtigen, progressiven Politiker der jungen Generation" kennengelernt, der sich später ins nationale und konservative Lager begeben sollte. Zuletzt traf er Orbán 2010 drei Tage vor dessen fulminantem Wahlsieg 2010 - zufällig auf einer Autobahnraststätte zwischen Budapest und Wien. Orbáns Regime liefere nicht nur immer wieder abstoßende Beispiele der Heuchelei im Umgang mit den Institutionen der EU, resümiert Lendvai. Er spiele durch seine enge Zusammenarbeit mit dem Aggressor Russland und anderen Autokraten der Welt insgesamt eine destruktive Rolle in der europäischen Politik. Im Kapitel über Kurz schließlich finden sich Zitate aus anderen Quellen, aber keine persönliche Erzählung mehr. Umso härter und unversöhnlicher fällt Lendvais Urteil über Kurz aus, mit dem er sein Buch abschließt. In all seinen Jahren habe er niemanden erlebt, der "ein solcher Virtuose der politischen Heuchelei gewesen wäre". STEPHAN LÖWENSTEIN

Paul Lendvai: Über die Heuchelei. Täuschungen und Selbsttäuschungen in der Politik.

Paul Zsolnay Verlag, Wien 2024. 176 S., 23,- Euro.

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